Iris Ludwig (Hrsg.): Wir brauchen sie alle ‒ Pflege benötigt Differenzierung
Rezensiert von Prof. Dr. sc.hum. Nina Fleischmann, 04.11.2015
Iris Ludwig (Hrsg.): Wir brauchen sie alle ‒ Pflege benötigt Differenzierung. hpsmedia GmbH (Nidda) 2015. 586 Seiten. ISBN 978-3-9815325-9-3. 39,80 EUR.
Thema
Aufgrund der Veränderungen im Gesundheitswesen wird seit vielen Jahren um die Professionalisierung der Pflege diskutiert. Dieses Buch zeichnet die Entwicklungen des Pflegeberufs in der Schweiz nach und zeigt, wie die Qualifikationen, die aus akademischer und nicht-akademischer Ausbildung hervorgehen, gewinnbringend auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt und damit eine hohe Versorgungsqualität ermöglicht werden kann. 30 Porträts zu Versorgungsbereichen aus Spital (Krankenhaus), Pflegeheim und Spitex (das Pendant zur deutschen ambulanten Pflege) arbeiten gangbare Lösungswege heraus.
Herausgeberin
Iris Ludwig, die Herausgeberin dieses Buches, ist Krankenschwester, Erziehungswissenschaftlerin mit der Fachrichtung Pflege und Pflegeberaterin. Die Entwicklung des Pflegeberufs hat sie während ihrer Tätigkeit als Fachdidaktikerin, Studienleitung und pädagogische Beratung sowie in Skillslabs in der Schweiz und Österreich beobachten können.
Aufbau
581 Seiten umfasst das Buch insgesamt. Einem Vorwort und Einleitung folgen drei Teile:
- Spitex und ambulante Versorgung
- Alters- und Pflegeheime
- Akutspitäler und Kliniken
Das Buch ist zweisprachig auf Deutsch und Französisch. Diese Rezension bezieht sich auf den deutschsprachigen Teil und gewährt für einige Anteile überblickende, für andere tiefere Einblicke, um der Vielfalt und dem Umfang gerecht zu werden.
Deutschsprachige Inhalte
Dieses Buch vertritt die These, dass ein Mix aus pflegerischen Qualifikationen eine kosteneffiziente Versorgung bei gleichzeitig hohem Anspruch an die Pflegequalität ermöglicht. Der Dienstleistungsberuf Pflege wird hier aus beruflicher, laufbahnbezogener und organisatorischer Sicht beleuchtet.
Spitex und ambulante Versorgung
Ebenso wie in Deutschland gilt in der Schweiz der Grundsatz ambulant vor stationär. Die Pflegenden sehen sich hier zunehmend älteren Klienten gegenüber, mit komplexen gesundheitlichen Situationen und einem langen Versorgungszeitraum. Aus dem Spitex Luzern und Valposchiavo zeigen die Berichte, wie die Versorgung konsequent auf die Bedarfe der Menschen ausgerichtet wird, was nicht zuletzt an den regionalen Besonderheiten der Schweiz und ihrem Nationalitätenmix liegt. Ein weiteres Porträt nimmt die freiberufliche ambulante Psychiatriepflege unter die Lupe. Unter dem Motto „pflegen, begleiten, fördern“ werden psychisch Kranke beim Wiedereinstieg in die Normalität unterstützt. Dabei ist die Vernetzung, auch über die Landesgrenzen hinaus, besonders wichtig. Beim Spitex Frauenfeld ist der Name Programm: hier arbeiten ausschließlich Frauen. Offen berichten die Geschäftsführerinnen über Barrieren, auf die sie in ihrer Umsetzung des Skills-Mix trafen, z.B. dass die Verschiebung von Kompetenzen auch Änderungen im Lohngefüge nach sich zieht: weniger Verantwortung gleich weniger Lohn führte unter den Mitarbeiterinnen zu großem Unmut.
Die Arbeitsporträts werden ergänzt durch Beiträge zu Advanced Nursing Practice in diesem Setting. Ein Beispiel zeigt auf, wie dieses in der Literatur vieldiskutierte, in Deutschland aber selten in der Praxis anzutreffende Konzept in der Umsetzung aussehen kann.
Alters- und Pflegeheime
Rund 1600 Alters- und Pflegeheime versorgen in der Schweiz Bewohner mit komplexen Pflege- und Betreuungssituationen. Vor rund 10 Jahren veränderten sich mit neuer Gesetzgebung die Qualifikationen in diesem Arbeitsfeld: Fachfrau/-mann Gesundheit, Fachfrau/-mann Betreuung sowie AssistentIn Gesundheit und Fachfrau/-mann Langzeitpflege. Die Teamentwicklung hat hier das Ziel, eine effiziente, hochwertige Betreuung zu gewährleisten.
Im Betagtenzentrum Herdschwand gehen Pflege und Hotellerie Hand in Hand. Das Bild „zwei getrennte Flüsse wirken zusammen als starker Strom“ zeigt eindrucksvoll die Einschätzung der Geschäftsleitungen dieser beiden Bereiche. Beide Personen sind im Organigramm direkt dem Geschäftsführer unterstellt. Vom Konzept „alle machen alles“ abwendend wurden in einem langdauernden Projekt die Rollen der Fachkräfte sehr viel klarer gezeichnet und die Aufgaben entsprechend neu verteilt. Eine Stärkung der Gastgeberkultur z.B. bei den Mahlzeiten, öffnet wiederum Zeitfenster für die Pflegenden, die für die individuelle Betreuung der Bewohner genutzt werden können.
Die spezialisierte Pflege und Geriatrie Lindenfeld in Aarau rückt den Bewohner und seine Bedürfnisse in den Fokus. Mit der Umstrukturierung wurden die diplomierten Pflegepersonen entlastet und die neue Berufsgruppe der Fachleute Gesundheit (FaGe) mehr ins Boot geholt. Letzter decken auch pflegerische Aufgaben, mehr aber die des sogenannten Back Office ab: Telefondienst, Medikamentenkontrolle, die Verantwortung für die Agenda der Abteilung und andere, eher logistische Tätigkeiten. Direkt am Bewohner arbeiten die diplomierten Pflegenden und die FaGe im Tandem.
Akut-Spitäler und Kliniken
Gerade im Versorgungsbereich zeigt man sich in der Schweiz besorgt über die demografischen Veränderungen, die nicht nur die Patientenklientel verändert, sondern auch Fragen zur zukünftigen Sicherung des Personalbedarfs umfasst. 298 Einrichtungen mit 144 066 Vollzeitstellen betreuen 1,35 Millionen stationäre Fälle im Jahr (zum Vergleich: in Deutschland gab es 2014 1980 Kliniken). Die Arbeitsporträts umfassen hier ein nephrologisches Ambulatorium, eine onkologische Station in Basel (hier steht die Rolle des Fachexperten im Vordergrund), das Paraplegiker-Zentrum in Nottwill, die leitende Pflegekraft des Kantonsspitals Uri, die orthopädische Bettenstation des Claraspital in Basel sowie das Ospedale Regionale di Lugano im Tessin.
Hier schließen sich zudem theoretisch-organisatorische Ergänzungen an, z.B. wie wirken sich die DRG auf die Pflege aus? Die Autoren skizzieren die entstandene Verdichtung und Beschleunigung der Arbeitsprozesse und der dabei entstehende Konflikt zu den Werten der Pflegenden, eine gute Pflegequalität anbieten zu können. Daraus wird geschlossen, das Pflegende neben fachlicher Expertise zukünftig an Flexibilität in der Arbeitsgestaltung und der Teamzusammensetzung/Teamplanung hinzugewinnen müssen.
Ein anderer Abschnitt bringt mit der Überschrift „caring is sharing“ den interprofessionellen Ansatz auf den Punkt und dröselt geschickt auf, wie die Schlagworte multiprofessionell, interprofessionell und transprofessionell, die inzwischen fast inflationär im Gesundheitswesen benutzt werden, zu verstehen und anzuwenden sind.
Diskussion und Fazit
Dieses Buch handelt nicht nur von Qualifikationsmix, sondern ist selber ein Mix aus Arbeitsporträts von pflegerischen Einrichtungen aller Settings in der Schweiz und theoretischen Ausführungen zu den Indikatoren, die die Pflegequalifikation heute wie auch zukünftig bewegen. Der schweizerische Sprachgebrauch erfordert häufig Klärungen via Google: Ausdrücke wie Spitex oder Pikett (=Bereitschaftdienst) waren mir nicht geläufig.
Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmale der porträtierten Einrichtungen werden klar herausgearbeitet. Nicht nur Pflegeberufe, sondern auch haushaltsnahe Dienstleistungen sind im Skills-Mix platziert. Ein interdisziplinäres Team wird beispielsweise als eine Zusammensetzung aus Pflegepersonen, Betreuungspersonal und Aktivierungsfachpersonal sowie ggf. Hotelleriepersonal verstanden. Geprägt vom deutschen Gesundheitssystem vermisse ich hier die Erwähnung von (Haus-) Ärzten und die therapeutischen Berufe. Die verschiedenen Qualifikationsstufen schweizerischen Pflegefachpersonals sind ohne Hintergrundwissen nicht auf Anhieb zu verstehen. Wie immer bei Konzepten aus dem Ausland gilt eine sorgfältige Überprüfung der Übertragbarkeit in das eigene Gesundheitssystem.
Das umfangreiche Buch ist mit Landkarten und statistische Zahlen klar und transparent aufgearbeitet. Diese Grafiken und viele Bilder lockern das Buch zwischen den Kapiteln auf.
Ein umfassendes zweisprachiges Werk mit innovativen Ansätzen aus der schweizerischen Pflege – inspirierend!
Rezension von
Prof. Dr. sc.hum. Nina Fleischmann
Hochschule Hannover Fakultät V - Diakonie, Gesundheit und Soziales
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Zitiervorschlag
Nina Fleischmann. Rezension vom 04.11.2015 zu:
Iris Ludwig (Hrsg.): Wir brauchen sie alle ‒ Pflege benötigt Differenzierung. hpsmedia GmbH
(Nidda) 2015.
ISBN 978-3-9815325-9-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18365.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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