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Helmut Pauls: Klinische Sozialarbeit. Grundlagen und Methoden [...]

Rezensiert von Prof. Dr. Ernst von Kardorff, 08.02.2005

Cover Helmut Pauls: Klinische Sozialarbeit. Grundlagen und Methoden [...] ISBN 978-3-7799-0738-1

Helmut Pauls: Klinische Sozialarbeit. Grundlagen und Methoden psycho-sozialer Behandlung. Juventa Verlag (Weinheim) 2004. 414 Seiten. ISBN 978-3-7799-0738-1. 24,50 EUR. CH: 42,40 sFr.
Reihe: Grundlagentexte soziale Berufe.

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Zur Bedeutung klinischer Sozialarbeit als Spezialdisziplin

Seit Ende der 60er Jahre hat sich in den USA die Bezeichnung "clinical social work" für eine direkte, an Prinzipien des case-work bzw. des case-management orientierte individuelle und familienorientierte Sozialarbeit in den Feldern psychosozialer Problemlagen und Krisen, der Rehabilitation chronisch Kranker, des Gesundheitswesens und der Behindertenarbeit durchgesetzt. Im Schnittfeld medizinischer, psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung angesiedelt, erfüllt sie beratende Funktionen, unterstützt KlientInnen beim Leben mit der Krankheit/Behinderung, fördert die Einbindung in soziale Unterstützungsnetze, organisiert Assistenz für Menschen mit Beeinträchtigungen und begleitet langfristige Behandlungsprozesse im öko-sozialen Nahraum und den Milieus der KlientInnen.

Unter der Überschrift "Klinische Sozialarbeit" hat diese Ausdifferenzierung und Spezialisierung als eigenständige Fachsozialarbeit auch in die deutsche Diskussion und Praxis Eingang gefunden (vgl. dazu Wendt 1997; ders. 1998; Mühlum & Gödecker-Geenen 2003). Die Bemühungen zur Etablierung einer klinischen Sozialarbeit hierzulande reagieren auf die gestiegenen Anforderungen in den genannten Arbeitsfeldern, auf die Zunahme chronischer Erkrankungen, und auf Problemlagen, die durch ärztliche Behandlung, medizinische Rehabilitation und Psychotherapie alleine nicht zureichend bearbeitet werden können. Dazu gehören Assistenz und psychosoziale Nachsorge, verbessertes Schnittstellenmanagement, Case-Management, soziale Netzwerkarbeit, Selbsthilfeförderung und die Hilfe bei der Anpassung an krankheitsbedingte Lebenslagen oder neuere Aufgaben, wie Förderung von Partizipation und Empowerment und die sozialpolitisch erwartete Förderung nach verstärkter Eigenverantwortung. Klinische Sozialarbeit geht damit in ihren Anliegen und Ansprüchen weit über die traditionelle Krankenhaussozialarbeit hinaus, an deren Erfahrungen sie gleichwohl anknüpft. Weitergehend versucht sie gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse aus Studien über Strategien der Krankheitsbewältigung, über Resilienz und Salutogenese und subjektive Krankheitstheorien, sowie über milieu- und lebenslagenbedingtes Gesundheitsverhalten für die praktische Arbeit fruchtbar zu machen. Vor diesem Hintergrund liegt die Einrichtung von Weiterbildungsstudiengängen durchaus nahe. Dazu kommen berufspolitische Motive, die auf eine verbesserte und möglichst formell anerkannten Einbindung der Sozialarbeit im Gesundheitswesen sowie auf eine Profilierung der Fachhochschulen angesichts zunehmender Anbieterkonkurrenz auf dem potentiell lukrativen Weiterbildungsmarkt verweisen. So hat seit 2001 hat der erste deutsche gebührenpflichtige Masterstudiengang für Klinische Sozialarbeit an der FH Coburg in Kooperation mit der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin begonnen, an dessen Einrichtung der Autor der vorliegenden Veröffentlichung maßgeblich beteiligt war; weitere Studiengänge sind an anderen Fachhochschulen, teils in Kooperation mit Universitäten im Aufbau oder geplant. Mit der vorliegenden Veröffentlichung legt der Autor Helmut Pauls, Psychologe und Psychotherapeut, zugleich das erste zusammenfassende deutschsprachige Lehrbuch Klinischer Sozialarbeit vor, das seinen Schwerpunkt, wie der Untertitel bereits verrät, auf die Grundlagen und Methoden psychosozialer Behandlung legt und damit die Bedeutung psychologisch-therapeutischer Arbeitsansätze besonders akzentuiert ohne dabei für den gesamten Bereich der Klinischen Sozialarbeit auf Vollständigkeit verzichten zu wollen.

Aufbau und Inhalte der Veröffentlichung

Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel und ein kurzes Schlusswort:

  1. Unterwegs zur klinischen Fachsozialarbeit,
  2. Synopse theoretischer Grundlagen,
  3. Therapeutische Grundrichtungen psycho-sozialer Fallarbeit,
  4. Psychosoziale Behandlung
  5. und Ein erfahrungsorientiertes Konzept klinischer Fallarbeit,
wobei das handlungsorientierte vierte Kapitel mit über 160 Seiten das größte Gewicht besitzt.

Im einleitenden ersten Kapitel Unterwegs zur klinischen Fachsozialarbeit bestimmt der Autor die besonderen Aufgaben Klinischer Sozialarbeit im Verhältnis zu den Nachbardisziplinen und -professionen und benennt psychosoziale Diagnostik/Assessment, psychosoziale Beratung, Sozialtherapie, aufsuchende soziale Intervention, Betreuung, Case-Management, Prävention und Rehabilitation sowie gemeindenahe Versorgung als eigenständige Handlungsbereiche der neuen Disziplin. Mit Recht hebt Pauls auch den notwendig interdisziplinären Charakter Klinischer Sozialarbeit hervor und betont die Notwendigkeit enger Kooperation mit den anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Eine Voraussetzung dafür sieht er neben einer auf die Bezugswissenschaften (wie Psychologie, Medizin, Soziologie, Recht, Pflegewissenschaft, Heilpädagogik, usw.) gegründeten Praxeologie in der Entwicklung individueller Systemkompetenz als zentraler Schlüsselqualifikation für Klinische SozialarbeiterInnen.

Das zweite Kapitel ist als Synopse theoretischer Grundlagen angelegt. Dabei geht es dem Autor darum, die Eigenständigkeit der jeweiligen von Chemie, Biologie, Medizin, Psychologie, Soziologie und Kulturanthropologie codierten Wirklichkeitsebenen auf denen sich Aspekte von Gesundheit und Krankheit zeigen, herauszuarbeiten und ihr komplexes Zusammenspiel - synchron als öko-systemischen Zusammenhang und diachron als biografischen Entwicklungsverlauf in der gesamten Lebensspanne - darzustellen. Auf dieser Basis entwickelt der Autor ein integratives Modell bio-psycho-sozialer Behandlungsperspektiven, die sich unterschiedlichen Interventionsfeldern, etwa dem System Organismus, dem System Person, dem System Umwelt oder ereignisbezogenen Faktoren wie biografischen Übergängen oder kritischen Lebensereignissen zuordnen lassen. Für die klinische Sozialarbeit werden abschließend Überlegungen zu einer Sozial-Pathologie vorgestellt, die verschiedene Ansätze aber eher assoziativ aufgreifen und keine theoretische Linie erkennen lassen. Die sehr belesene Zusammenführung so unterschiedlicher, im Einzelnen allerdings nur ergebnishaft aneinander gereihter Ansätze und Perspektiven (von einer Sozialphänomenologie des Anderen bei Lévinas, Eriksons Modell der Entwicklungsaufgaben im Lebenslauf, die Konzeption der WHO, die Bowlbysche Bindungstheorie über Person-Umwelt-Konzepte bis zur Sozialmedizin, zur Stress-, Resilienz- und Salutogeneseforschung) in diesem Kapitel habe ich als Versuch gelesen, Studierenden in der Komplexität des Feldes einen roten Faden der Orientierung zu geben. Mich hat dieses Vorgehen allerdings nicht überzeugt, die Ansätze sind keineswegs so anschlussfähig und in eine allgemeine Theorie zu übersetzen wie es der Text nahe legt.

Die im zweiten Kapitel dargestellten Behandlungsperspektiven werden zu Beginn des dritten Kapitels Therapeutische Grundrichtungen psycho-sozialer Fallarbeit in einem Schulen übergreifenden Sinne verstanden und in einem allgemeinen Modell psychotherapeutischer Prozesse und ihnen zugeordneter unspezifischer Wirkfaktoren psychosozialer Behandlung dargestellt. Im Anschluss daran werden die Grundannahmen, Wirkmechanismen und Methoden der tiefenpsychologisch, der verhaltenstherapeutisch und der erfahrungstherapeutisch (damit meint Paul die gesprächspsychotherapeutische und die humanistische Psychologie/Psychotherapie) orientierten Behandlungsansätze kurz referiert.

Das umfangreiche vierte Kapitel Psycho-soziale Behandlung bemüht sich um die Entwicklung eines allgemeinen psycho-sozialen Behandlungsmodells für die klinische Sozialarbeit. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit den der Zielfindung, Interventionsplanung und Behandlungsvereinbarung vorausgehenden Formen klinischer, sozialer, situationsbezogener, netzwerkorientierter Problemdiagnostik. Der zweite große Abschnitt dieses Kapitels behandelt psychosoziale Beratungsformen, Sozialtherapie, Netzwerkarbeit und soziale Unterstützung, psychosoziale Rehabilitation und Krisenintervention; schließlich werden veränderungsfördernde und -hemmende Aspekte beim Klienten wie beim Helfer diskutiert. In diesem zentralen Kapitel vermischen sich stichwortartige Empfehlungen und Checklisten mit den verschiedenen Arbeitsbereichen klinischer Sozialarbeit (etwa medizinische und soziale Rehabilitation, Krankenhaussozialarbeit, Krisenintervention usw.), so dass die Orientierung leicht verloren geht. Gerade in diesem Kapitel habe ich eine problemorientierte Herangehensweise, etwa an einigen exemplarischen Fällen vermisst.

Im fünften Kapitel Ein erfahrungsorientiertes Konzept klinischer Fallarbeit führt der Autor seine Überlegungen und Erfahrungen aus sozial- und psychotherapeutischer Praxis noch einmal systematisch zusammen. Als zentrale Dimensionen psychosozialer Intervention werden dabei unter anderem genannt und kurz handlungsorientiert erläutert:

  • Herstellung eines stützenden und strukturgebenden Settings,
  • Involviertheit in Kontakt- und Beziehung,
  • Aktivieren soziale Netzwerkunterstützung,
  • Einfühlung, Awareness und emotionale Entlastung ermöglichen,
  • Respekt zeigen,
  • Kompetenzen fördern
  • und Ressourcen aktivieren.

All dies dient dazu, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit bei den KlientInnen zu stärken. Nur in Verbindung von subjektiver Erfahrung und emotionalem Erleben des eigenen Handelns können Information und rationale Strategien zur Problembewältigung und zur Stabilisierung von gesundheitlichen und psychosozialen Krisen und labilen Lebenssituationen beitragen. Diesen Überlegungen werden die meisten ExpertInnen zustimmen können.

Zusammenfassende Einschätzung

In dem umfangreichen Lehrbuch, das sich vor allem an Studierende, aber auch an Lehrende im Bereich klinischer Sozialarbeit wendet, werden alle wichtigen Handlungsfelder der klinischen Sozialarbeit berührt und zentrale theoretische und konzeptionelle Ansätze dargestellt. In der mit umfangreicher Literatur aus unterschiedlichen Feldern manchmal etwas überladenen Darstellung ist der Autor meiner Meinung nach in die Vollständigkeitsfalle getappt: es wird (fast) alles behandelt, vieles aber nur in einer stark aufzählenden Weise und mit Merksätzen und Checklisten, die mir zuwenig problemzentriert, fallorientiert und kontextbezogen sind. Mit hilfreichen Tabellen und Abbildungen gelingt es dem Autor dennoch immer wieder Zusammenhänge oder Verbindungen zu verdeutlichen, die im Text nicht immer so klar erkennbar sind. Anstelle einer zusammenfassenden Darstellungen der Haupttherapierichtungen, die aus der Akzentuierung von "Behandlung" resultiert, hätte ich mir für ein Lehrbuch der klinischen Sozialarbeit in fachlich methodischer Hinsicht ein intensiveres Eingehen auf personenzentrierte Hilfen und auf case- und care-management, die im Bereich der Gesundheitsversorgung, Pflege und Rehabilitation in den letzten Jahren großen Einfluss gewonnen haben, gewünscht. Mit Blick auf die Seite der hilfe- und assistenzbedürftigen Menschen fehlt mir die eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Fragen der Partizipation, der Rolle mündiger KlientInnen, von Selbstbestimmung und shared decision making sowie mit Strategien des Empowerment.

Fazit

Trotz der Einwände halte ich das vorliegende Werk für eine gute Grundlage mit anregenden Denkanstössen (v.a. im zweiten Kapitel) und nützlichen, in der Lehre jedoch erfahrungsbezogen zu konkretisierenden und zu problematisierenden Hinweisen. Durch den umfassenden Anspruch und die breite Rezeption der einschlägigen Literatur kann das Buch auch gut als Nachschlagewerk verwendet werden.

Literatur

Mühlum, A. & Gödecker-Geenen, N. (2003). Soziale Arbeit in der Rehabilitation. München: Reinhardt (UTB)

Wendt, W.-R. (1997). Case-Mangement im Sozial- und Gesundheitswesen. Eine Einführung. Freiburg:Lambertus

Wendt, W.-R. (1998), Behandeln können. Klinische Kompetenzen in Praxisfeldern sozialer Arbeit. In: Blätter der Wohlfahrtspflege, Heft 9/10, S. 173 ff.

Rezension von
Prof. Dr. Ernst von Kardorff
Professor für Soziologie der Rehabilitation, Berufliche Rehabilitation und Rehabilitationsrecht
Institut für Rehabilitationswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Es gibt 10 Rezensionen von Ernst von Kardorff.

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Zitiervorschlag
Ernst von Kardorff. Rezension vom 08.02.2005 zu: Helmut Pauls: Klinische Sozialarbeit. Grundlagen und Methoden psycho-sozialer Behandlung. Juventa Verlag (Weinheim) 2004. ISBN 978-3-7799-0738-1. Reihe: Grundlagentexte soziale Berufe. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1837.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


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