Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Adrian Raine: Als Mörder geboren

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 16.06.2015

Cover Adrian Raine: Als Mörder geboren ISBN 978-3-608-94673-4

Adrian Raine: Als Mörder geboren. Die biologischen Wurzeln von Gewalt und Verbrechen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2015. 580 Seiten. ISBN 978-3-608-94673-4. D: 26,95 EUR, A: 27,70 EUR, CH: 36,90 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Im vorliegenden Band fasst Adrian Raine seine jahrzehntelange Forschung zu den biologischen Grundlagen gewalttätigen Verhaltens zusammen. Seine zentrale These: die Gehirnstrukturen von Gewaltstraftätern ähneln sich untereinander und sie unterscheiden sich von nicht gewalttätigen Menschen. Aus neurokriminologischer Sicht wird diese besondere Determination straffälligen Verhaltens beschrieben. Darauf aufbauend leitet der Autor psychosoziale Therapie- und Präventionsansätze ab, welche ermöglichen können die Emotionsregulation zu verbessern und förderliche Umweltbedingungen zu schaffen.

Autor

Adrian Raine ist Professor für Kriminologie, Psychiatrie und Psychologie an der Universität von Pennsylvania. Er forscht auf dem Gebiet der biologischen Grundlagen gewalttätigen Verhaltens. Davor mehrjährige Tätigkeit als Gefängnispsychologe.

Aufbau und Inhalt

In elf Kapiteln führt Raine in die evolutionären und genetischen Grundlagen der Gewalt und des Verbrechens ein, geht auf die Besonderheiten des Gehirns und des autonomen Nervensystems in diesem Zusammenhang ein und beschreibt die sozialen und Umgebungsfaktoren, welche im Zusammentreffen mit diesen neuronalen Besonderheiten die biopsychosoziale Grundlage krimineller Entwicklungsprozesse bedingen. Als Konsequenz aus dieser forschungsbasierten Wissenslage leitet der Autor dann therapeutische Interventionen ab, beschreibt die gesetzlichen Folgen kriminellen Verhaltens im Kontext einer biologischen Sichtweise und befasst sich in einem Ausblick mit dem Potential der neueren neurokriminologischen Forschung für die Verbrechensbekämpfung.

In einem sehr persönlich gehaltenen Vorwort gibt Adrian Raine Auskunft über seine wissenschaftlichen und privaten Bezugspunkte (u. a. der Kriminologe Marvin Wolfgang und der deutsche Rechtspsychologe Friedrich Lösl werden genannt) zur kriminologischen Forschung und zur Fragestellung, inwieweit kriminelles Verhalten biologisch bedingt ist. Die daran anschließende Einleitung beschreibt eine persönliche Kriminalitätserfahrung des Autors: während eines Türkeiaufenthalts wurde er Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls. Der Vorgang wird aus Betroffenensichtweise beschrieben und mit neuronalen Vorgängen während dieses Geschehens verknüpft. Raine analysiert sich hier selbst als Forschungsobjekt, das zwischen Flucht, Verteidigung und Angriff reagiert und schließlich den Angreifer überwältigen kann. Ausgehend von diesem persönlichen Erlebnis formuliert der Autor seine Anliegen, die er mit dem vorliegenden Buch verfolgt:

  1. möchte er in die neueren neurowissenschaftlichen und neurokriminologischen Forschungserkenntnisse zur Gewaltentstehung einführen;
  2. soll das Zusammenwirken sozialer Kontextfaktoren im Zusammenwirken mit biologischen Kausalfaktoren und die Wechselwirkung zwischen diesen Ebenen herausgearbeitet werden;
  3. stellt er die sich aus diesen Wissensbeständen ableitbaren Konsequenzen für die Behandlung von Straftätern, rechtliche Fragen und sozialpolitischen Aufgaben zur Diskussion.

Die evolutionäre Entstehung von Gewalt. Raine führt im ersten Kapitel in die evolutionären Grundlagen der Aggression ein und leitet daraus Überlegungen zur Entstehung von krimineller Gewalt ab. Selbstbehauptung, Dominanz, genetisches Überleben identifiziert er als evolutionsbiologische Grundlagen, die im Menschen angelegt sind und durch sozioökologische Umweltbedingungen geformt werden, hin zu sozialem, kooperativem Verhalten oder eben zu kriminellen Strukturen. Als Beispiele führt Raine Ergebnisse der vergleichenden ethnologischen Forschung und Evolutionsforschung zu Fällen von Kindestötungen oder Vergewaltigung in der Ehe und aus der Genderforschung an. Er interpretiert die Forschungsbefunde als Nachweis eines Überlebenskampfes, der ungeachtet sozialer Normen auf Erfolg, Selbstverwirklichung und Status orientiert ist. Das Fazit aus diesem Kapitel „Wir haben gesehen, dass Gewalt und Aggression zum Teil auf urzeitliche evolutionäre Kräfte zurückgehen. Selbst wenn reziproker Altruismus meist vorteilhafter, kann auch antisoziale Täuschung eine erfolgreiche Reproduktionsstrategie sein … „ (51).

Die genetischen Grundlagen des Verbrechens. Ausgehend von spektakulären Kriminalfällen in den USA und Ergebnissen der Zwillingsforschung geht Raine im zweiten Kapitel auf die Befunde der Genforschung ein. Demnach sei antisoziales und gewalttätiges Verhalten zu ca. 50% vererbt, fände sich in den Genen die „Saat des Bösen“, wie das Kapitel auch überschrieben ist: Auffälligkeiten in den Chromosomenketten, Defekte im Enzymhaushalt (z. B. Mutationen im MAOA-Gen, das zu einem reduzierten Abbau verschiedener Neurotransmitter führt, die im Zusammenhang mit der Impulskontrolle stehen). Menschen mit solchen genetischen Auffälligkeiten „reagieren empfindlicher auf Kritik, was wiederum impulsive Reaktionen auslöst. Bei [Betroffenen] ist nicht nur die antisoziale Persönlichkeit stärker ausgeprägt, sondern auch ihre Hirnreaktion auf die Verarbeitung emotionaler Reize abnorm“ (73). Ähnliche Auswirkungen ergäben sich, so Raine im Referat der aktuellen Forschungsbefunde durch Besonderheiten im Serotonin- und Dopaminhaushalt von gewalttätigen Menschen. Raine bewertet die vorliegenden Forschungsergebnisse als vorläufiges “Ende vom Anfang“, aus wissenschaftlicher Sicht sei der Zusammenhang zwischen den Genen und dem Verhalten belegt, der Nachweis auf individuelle Genkonstellationen stehe jedoch noch aus und sei Gegenstand der künftigen wissenschaftlichen Forschung.

Funktionsstörungen gewalttätiger Gehirne. Der Serienmörder Randy Kraft hat zwischen 1971 und 1983 geschätzte 64 Morde begangen. Der als „Freeway Killer“ bekannte Kriminalfall ist Ausgangspunkt für die Überlegungen zu Besonderheiten der Hirnfunktionen von besonders gewalttätigen Menschen. Raine führt hier in ein eigenes Forschungsprojekt ein, das er in den 1990er Jahren in Kalifornien durchführt. Dessen zentrale Befunde, welche mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET) bei verurteilten Gewaltstraftätern erhoben wurden und mit den PETs nicht-straffälliger Menschen verglichen wurden zeigen, dass Auffälligkeiten im präfrontalen Gehirnbereich zu Problemen auf der emotionalen Ebene führen, vor allem im Bereich der Ärger- und Wutkontrolle, mit erhöhter Risikobereitschaft, Unverantwortlichkeit und Regelverstößen einhergehen, Probleme in der Verhaltensregulation bewirken, mit (sozialer) Unreife verbunden sind und zu einer Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten führen können, wodurch sich Probleme im Bildungsbereich und in dessen Folge weitere sozioökonomische Schwierigkeiten ergeben können. Die dargestellten Forschungsergebnisse werden ausführlich erläutert und anhand farbiger Reproduktionen der PET-Scans dargestellt.

Das autonome Nervensystem. Das vierte Kapitel, es trägt die Überschrift „Kaltblütige Killer“, führt in die Forschungsbefunde zum zentralen Nervensystem und dessen Besonderheiten bei Gewaltstraftätern ein. Vorwiegend am Beispiel des als „Unabomber“ bekannten Ted Kaczynski (er versendete Bomben per Post und tötete bzw. verletzte dadurch mehre Personen) und Befunden der neuro-kardionalen Forschung führt Raine aus, dass bei Gewaltstraftätern Besonderheiten hinsichtlich deren Herzfrequenz (sie ist niedriger, vor allem in emotionalen Belastungssituationen, im Vergleich zu einer Normgruppe) bestehen und die Betroffenen, ausgehend von einem niedrigeren Puls, besondere Reizsituationen benötigen, um erregt zu sein. Dies begünstigt, so seine These kriminelles Verhalten, das entsprechende Erregungspotentiale auslösen könne.

Neuroanatomie der Gewalt. „Beschädigte Gehirne“, so der Titel dieses Kapitels, können Verhaltensabweichungen verursachen, bis hin zu schweren Straftaten. Raine geht auf den ersten US-Amerikanischen Justizfall ein, bei dem PET-Scans als wesentliche Grundlage für die Urteilsfindung herangezogen wurden, beschreibt die Wirkung von Zysten und Entwicklungsstörungen im Gehirn, die Auswirkungen von Gehirnverletzungen und analysiert die sich daraus ergebenden möglichen Folgen: Enthemmung, impulsives und antisoziales Verhalten, Delinquenz.

Frühe Einflüsse auf die Gesundheit, Ernährung und Giftstoffe. Raine erweitert in den folgenden zwei Kapiteln den Blick weg von den Besonderheiten hin zu Fragen der Gesundheitsschädigung, besonderen Ernährungsformen und der Rolle der Giftstoffe in Bezug auf die neuronale Entwicklung von Menschen. Mit Bezug auf eine Reihe von Untersuchungen beschreibt er die Rolle von Geburtskomplikationen, Besonderheiten der Ernährung und die Aufnahme von Giftstoffen durch Nahrung und Umwelt, sowie die Rolle des Testosterons. Zwei längere Abschnitte befassen sich mit dem Nikotin- bzw. Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft und dessen Auswirkung auf die Entwicklung des Neurotransmittersystems, wodurch ein Risiko für Entwicklungsprobleme gegeben ist, welche mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für spätere Delinquenz korrespondieren. In diesem Kapitel wird ebenfalls auf das Gefährdungspotential psychisch kranker Menschen eingegangen. Vor allem bei Menschen mit einer diagnostizierten Schizophrenie sieht Raine ein erhöhtes Kriminalitätsrisiko gegeben, was sich aus der Art der Symptome und aus psychosozialen Faktoren (Ausgrenzungserlebnisse etc.) ableiten ließe.

Das biosoziale Puzzle. Das alleinige Vorliegen biologischer Belastungsfaktoren ist kein hinreichender Erklärungsansatz für kriminelles Verhalten. Es gibt Menschen mit abweichenden Gehirnstrukturen und neuronalen Auffälligkeiten, die nicht straffällig werden. Raine begibt sich in diesem Kapitel auf die Suche nach bio-sozialen Interaktionseffekten, bei denen körperliche Merkmale eine soziale Ausformung erhalten, die einen Entwicklungsprozess hin zu Devianz und Gewalttätigkeit anstoßen können. Raines Fazit: „Soziale Faktoren interagieren mit biologischen Faktoren und verstärken auf diese Weise einen Hang zur Gewalt. Außerdem moderieren sie die Beziehung zwischen Biologie und Gewalt“ (310). Kernstück dieses Kapitels ist ein „funktionelles neuroanatomisches Gewaltmodell“ (321) das kognitive, affektive und motorische Prozesse integriert und die sich daraus ergebenden Verhaltensformen (Gewalttätigkeit) als auch (bedingt) soziale Konsequenzen erfasst. Dieser Ansatz eines mehrdimensionalen Erklärungsmodells wird dann allerdings wieder reduziert und auf biologisch relevante Faktoren begrenzt: „Die Biologie allein reicht nicht aus. Vielmehr müssen soziale Risikofaktoren hinzutreten, damit es zum Ausbruch von Gewalt kommt. … das Gehirn ist das Herzstück in der Argumentation dieses Buches – die Saat des Bösen keimt im Gehirn. Obwohl die Forschung umweltbedingte und soziale Prozesse jahrzehntelang in den Mittelpunkt ihrer Theorien gestellt hat, ist das Gehirn der Hauptschuldige geblieben“ (323).

Interventionen – „Verbrecher Heilen“. Kapitel neun fokussiert auf Interventionsmöglichkeiten in der Behandlung straffällig gewordener Menschen. Raine stellt hier sein „Biosoziales Gewaltmodell“ vor, ein Erklärungsansatz für die Entstehung gewalttätigen Verhaltens, der biologische (Gene, neuronale Aspekte) und soziale Merkmale (Umwelt, Erziehung) erfasst und deren Zusammenspiel im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung darstellt. Darauf aufbauend werden verschiedene Möglichkeiten der Prävention, die Bio-Feed-Back-Therapie, Überlegungen zur Kastration bei verurteilten Sexualstraftätern und zur triebdämpfenden medikamentösen Behandlung vorgestellt, deren Grundlagen und Leitlinien ebenfalls dargestellt werden. Ein längerer Abschnitt beschreibt ein persönliches Erlebnis des Autors während eines Langstreckenflugs, bei dem er einen aggressiv gewordenen Mitreisenden mittels Fesselung und Verabreichung eines starken Sedativa ruhig gestellt hatte (hier vergleicht sich der Autor tatsächlich mit dem heldenhaften Reporter Tim aus der gleichnamigen Comicgeschichte…). Darauf aufbauend werden weitere medikamentöse Interventionsstrategien (z. B. Psychopharmaka) aber auch achtsamkeitsbasierte Techniken (z. B. Meditation) ausgeführt.

Gesetzliche Folgen. Krankhafte Veränderungen des Gehirns und deren Auswirkungen auf bestimmte Verhaltensweisen, z. B. straffälliges Verhalten sind Gegenstand des folgenden Kapitels „Das Gehirn vor Gericht“. Raine reduziert hier Persönlichkeitsmerkmale und das menschliche Verhalten auf den Zusammenhang zu Gehirnanomalien, wodurch die freie Entscheidungen, der freie Wille mehr oder weniger eingeschränkt sein können. Er belegt diese These durch eine Reihe von Fallbeispielen aus dem amerikanischen Justizwesen, Fälle, bei denen Gehirntumoren oder -verletzungen Ausgangspunkt für delinquentes Verhalten wurden und bei denen weitere soziale Risikofaktoren auftraten, welche die biologischen Strukturen ungünstig verstärkten. Raine argumentiert für eine Berücksichtigung gehirnstruktureller und neuronaler Auffälligkeiten in Strafverfahren, entweder um mildernde Gründe zu berücksichtigen oder Therapieangebote zu implementieren und definiert hier den Beitrag der „Neurokriminologie“ als evident.

Ausblick. Wie sieht „die Zukunft“ (so der Titel des letzten Kapitels) der Neurokriminologie aus? Raine entwirft eine Vision, welche eine deutlich stärkere Berücksichtigung klinischer Aspekte bei der Beurteilung schwerer Straftaten ermöglicht und z. B. Therapien für betroffene Straftäter anordnet. Weitergehend entwirft er die Idee einer „Hirnforschungs-Aktion zum Screening von Straftätern“ um strukturell Gehirnanomalien erfassen zu können, wodurch potentielle Hochrisikogruppen und weniger gefährliche Tätergruppen erfasst und unterschiedlichen Strafmaßnahmen zugeführt werden sollten. Als Ansatz für die Kriminalprävention denkt Raine abschließend über ein „nationales Kinder-Screening-Programm“ nach, bei dem alle Kinder der USA durch Reihenuntersuchungen nach dem Vorliegen einer individuellen Kriminalitätsneigung diagnostiziert und entsprechenden Präventionsprogrammen zugeordnet werden. Schließlich will er auch die Eltern „auffälliger Kinder“ in Präventionsprogramme integrieren: „Wenn ein Kind in der roten Zone ist, ist dann die Wahrscheinlichkeit nicht groß, dass auch der biologische Vater ein fauler Apfel ist? …Nicht umsonst heißt es: Wie der Vater, so der Sohn“ (414). Abschließend lotet Raine ethische Fragestellungen eines gesellschaftlichen Umgangs mit Delinquenz aus, formuliert in Ansätzen eine „Neuroethik der Neurokriminologie“ (425) welche als Grundlage für einen präventiven Ansatz in der Gewaltbekämpfung herangezogen wird und fordert abschließend die Weiterentwicklung neurokriminologischer Ansätze im Bereich des Justizwesens und in der Gewaltprävention.

Zielgruppe

Das Buch ist für die breite Öffentlichkeit, für Nicht-Fachleute geschrieben, die ein Interesse an kriminologischen Fragen haben und wendet sich auch an StudentInnen, die eine erste, leicht verständliche Einführung in dieses Forschungsfeld suchen.

Diskussion

Unter dem deutschen Titel „Als Mörder geboren“ legt Klett-Cotta den bereits 2013 erschienen Band „The Anatomy of Violence“ vor. Raine fasst hier seine mehrere Jahrzehnte umfassende Forschungsarbeit in diesem Arbeitsfeld für eine breite Öffentlichkeit zusammen, ein wissenschaftlich fundiertes Werk das versucht, den komplexen Zusammenhang zwischen (neuro)biologischen Faktoren und Deliktverhalten verständlich und interessant zu formulieren. Die Bedeutung neurobiologischer Merkmale für das menschliche Verhalten, auch in seiner devianten Form ist unumstritten. Auch im deutschsprachigen Raum liegen dazu umfangreiche Publikationen vor (z. B. www.socialnet.de/rezensionen/8991.php). Adrian Raine hat, anders als rein wissenschaftliche Publikationen, einen stilistischen Weg gewählt, der neben der Vermittlung der Inhalte stark auf Unterhaltung und Faszination setzt. Dafür wurden vor allem spektakuläre Fälle der amerikanischen Justizgeschichte verwendet, deren Besonderheiten (Serienmörder, besonders grausame Tatausgestaltung, Multidelinquenz) detailliert beschrieben werden. Der Leser soll dadurch bei der Stange gehalten werden, um die differenzierten fachlichen Inhalte spannend zu vermitteln.

Auch die vielfältigen persönlichen Schilderungen des Autors, z. B. ein Bericht eigener Opfererfahrung bis hin zur Bewältigung einer gefährlichen Situation bei einem Langstreckenflug, bei dem sich der Autor als heldenhafte Gestalt analog der Figur Tim aus der Comicreihe „Tim und Struppi“ vergleicht, sind wohl diesem Anliegen geschuldet. Durch diese Präsentationsform verrutscht das Anliegen des Autors (Vermittlung neurobiologischer Grundlagen straffälligen Verhaltens) und es entsteht der Eindruck, dass mit diesem Buch vor allem der Trend berücksichtigt werden soll die Faszination an Serienmördern und verrückten Gewaltverbrechern zu bedienen, wie sie auch in amerikanischen CSI-Serien präsentiert werden: der geniale Kriminologe und Forensiker auf der Spur des abnormen, hochintelligenten Gewaltstraftäters. Das ist schade, denn Raine vergibt damit den ohne Zweifel vorhandenen seriösen Charakter seines Anliegens; das Buch wirkt über weite Strecken wie Boulevard.

Dieser Eindruck verstärkt sich anhand der gewählten Kapitelüberschriften („Kaltblütige Killer“, „Saat des Bösen“, „Basic Instincts“, „Das Gehirn vor Gericht“), zumal hier der mehrdimensionale biopsychosoziale Ansatz, den Raine eigentlich verfolgt, auf rein biologische Merkmale reduziert und damit verkürzt wird.

Auch der Titel des Buches weist in diese Richtung: „Als Mörder geboren“ impliziert ein rein biologisches Bedingungsgefüge von Gewaltdelinquenz. Eine These, die Raine in den späteren Kapiteln des Buchs selbst hinterfragt, um soziale Aspekte erweitert, um sie dann allerdings doch wieder auf neuronale Aspekte zu reduzieren. Damit verpasst Raine den großen Wurf ein bio-psycho-soziales Bedingungsgefüge der Gewaltdelinquenz zu entwerfen.

Stattdessen finden sich Abgrenzungsbemühungen gegenüber sozial- und psychowissenschaftlichen Forschungsbefunden bis hin zum trotzig wirkenden Satz „… das Gehirn ist das Herzstück in der Argumentation dieses Buches – die Saat des Bösen keimt im Gehirn. Obwohl die Forschung umweltbedingte und soziale Prozesse jahrzehntelang in den Mittelpunkt ihrer Theorien gestellt hat, ist das Gehirn der Hauptschuldige geblieben“ (323). Würde man dieser These folgen wäre zu hinterfragen, wer hier mit welcher Intension „das Böse“ aussät und natürlich auch, was „das Böse“ (aus neurokriminologischer Sicht) eigentlich ist. Beide Fragen bleiben hier (leider) unbeantwortet. Dafür finden sich, auf breitem Raum ausformuliert (235-239), Hinweise zu körperlichen Besonderheiten bei gewalttätigen Menschen. Es geht hier nicht darum, die referierten Forschungsbefunde zum Längenverhältnis des Ringfingers in Korrelation zu gewalttätigem Verhalten (236, 237) vollständig zu negieren. Aber: was soll die mit diesem Buch angesprochene breite Öffentlichkeit mit diesen Befunden anfangen? Sitzt die Leserschaft dieses Buches künftig in der U-Bahn und hält Ausschau nach entsprechend „auffälligen“ Körpermerkmalen um das individuelle Delinquenzrisiko der mitfahrenden Pendler einzuschätzen?

Bemerkenswert sind noch die visionären Lösungsvorschläge, welche Raine zur Kriminalprävention vorschlägt. Reihenuntersuchungen der gesamten Bevölkerung hinsichtlich Hirnanomalien, wie sie der Autor vorschlägt, ebenso Kinderscreenings bei denen nach Auffälligkeiten gesucht wird haben den Beigeschmack der Selektion und Zuführung zu Sondermaßnahmen. Auch wenn Raine hier selbst die Frage nach der ethischen Verantwortbarkeit solcher Maßnahmen aufwirft, eine Antwort darauf bleibt er schuldig und überlässt die Bewertung dieser Interventionen alleine dem Leser und versäumt so eine persönliche Positionierung, was ihn im Zweifelsfall, vor allem bei dem an vielen Stellen gewählten provokanten Schreibstil, angreifbar macht.

Fazit

Ein guter Überblick zu den neurowissenschaftlichen Befunden kriminellen Verhaltens. Ein an vielen Stellen spannend geschriebenes Buch, das leider manchmal ins boulevardhafte und reißerische abgleitet. Die Hinweise auf neuronale Aspekte der Delinquenz werden schlüssig dargestellt, die Zusammenschau mit psychischen und sozialen Effekten bleibt jedoch unterm Strick auf der Strecke.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
Website
Mailformular

Es gibt 180 Rezensionen von Gernot Hahn.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245