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Stephan Krüger: Entwicklung des deutschen Kapitalismus 1950-2013

Rezensiert von Christoph Hornbogen, 11.12.2015

Cover Stephan Krüger: Entwicklung des deutschen Kapitalismus 1950-2013 ISBN 978-3-89965-641-1

Stephan Krüger: Entwicklung des deutschen Kapitalismus 1950-2013. Beschäftigung, Zyklus, Mehrwert, Profitrate, Kredit, Weltmarkt. VSA-Verlag (Hamburg) 2015. 144 Seiten. ISBN 978-3-89965-641-1. D: 12,00 EUR, A: 12,40 EUR, CH: 17,90 sFr.

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Thema

In seinem statistischen Handbuch zur Entwicklung des deutschen Nachkriegskapitalismus unternimmt Stephan Krüger den Versuch, „die von der bürgerlichen Statistik und Wirtschaftstheorie bereitgestellten Daten und getroffenen Aussagen kritisch oder alternativ“ auf Grundlage der marxschen Wertrechnung zu interpretieren und damit die „tatsächlichen ökonomischen Formbestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise […] in ihrer quantitativen Bestimmtheit empirisch-statistisch [zu] fixier[en].“ (S. 12) Damit verfolgt der Autor den Anspruch, „vertiefte Einsichten in den Verlauf des Akkumulationsprozesses des BRD-Kapitals und Bewertungen bezüglich seiner Entwicklungsperspektiven“ offenzulegen.

Autor und Entstehungshintergrund

Stephan Krüger arbeitet seit Anfang der 90er Jahre als Unternehmensberater für Belegschaften und ihre Repräsentanten (Betriebsräte, Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten und Gewerkschaften). Seit Mitte der 70er Jahre beschäftigt er sich mit der Nutzbarmachung amtlicher Statistiken zur marxistischen Analyse der ökonomischen Entwicklung. Resultate dieser Forschungstätigkeit sind bisher u.a. die 2010ff. ebenfalls im VSA-Verlag erschienenen Bücher zu einer „Allgemeinen Theorie der Kapitalakkumulation“, der „Politischen Ökonomie des Geldes“ und eine Studie zur (links-)keynesianischer Wirtschaftspolitik. Bei dem vorliegenden Handbuch handelt es sich in erster Linie um eine popularisierte Präsentation des dort gewonnenen empirisch-statistischen Materials für ein breiteres Publikum.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in neun Themenblöcke verschiedenem Umfangs. Ein einleitendes Kapitel kreist kurz den Gegenstand ein, bevor im folgenden die theoretischen Grundannahmen kompakt erläutert werden und der Leser noch eine Nomenklatur der fortan verwendeten Termini erhält.

Krüger konstatiert zunächst die allgemein bekannte Entwicklung der Verschiebung der ökonomischen Gewichte im Welthandel seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Waren es seit den 60er Jahren vornehmlich die BRD sowie Japan, die von den USA gehaltene Anteile am Welthandel übernahmen, so konnte seit dem Ende der Blockkonfrontation China jenen nicht nur wesentliche Anteile abtrotzen, sondern ab 2009 auch zum weltgrößten Exporteur aufsteigen. Da dessen Akkumulation sich jedoch nicht nach kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten vollziehe, sei der Weltmarktzyklus weiterhin von der ökonomischen Entwicklung der alten entwickelten kapitalistischen Staaten bestimmt.

Der Anteil der G7-Staaten am Weltsozialprodukt hingegen ist seit der Jahrtausendwende von 2/3 auf 50% gesunken. Eine Folge u.a. des ökonomischen Aufstiegs der sog. BRICS-Staaten, einer neuen heterogenen Gruppe von Ländern, deren Wachstumsraten (bis auf die Indiens und Chinas) nach Kapitalrückflüssen in die entwickelten kapitalistischen Staaten gegenwärtig allerdings auf ähnliche Werte wie diese gefallen sind.

Direkt im Anschluss an diese grobe Verortung der BRD in der Weltökonomie erläutert Krüger zunächst, weshalb er bei aller Kritik im Einzelnen die makroökonomischen Statistiken der bürgerlichen Wirtschaftstheorie für der Verwendung wert in seiner an Marx orientierten Wertrechnung hält. Auf Seite 21 gibt er eine schematische Übersicht über die Struktur von Wertschöpfung, marktbestimmter und öffentlich vermittelter Umverteilung und Endverbrauch anhand der Daten des Jahres 2000. Neben kurzen Erörterungen zum gesamtwirtschaftlichen Kreislauf sowie verschiedener Wirtschaftssektoren und deren ökonomischer Funktionen geht Krüger zu Beginn auf die Klassenstruktur der Gesellschaft und die Sozialstruktur der Haushalte ein. Hier zeigt sich besonders deutlich der Rückgang der lohnabhängigen Mittelklasse im Zuge der Privatisierungs- und mittels Kürzungen angestrebten Konsolidierungspolitik der öffentlichen Haushalte seit den 90er Jahren, während die Zahl produktiven Lohnarbeiter seit den 60er Jahren wesentlich stagnierte, was sich auch nach dem im Zusammenhang mit der De-Industralisierung Ostdeutschlands nach dem Anschluss 1990 stehenden vorübergehenden Einbruch im Wesentlichen fortsetzt. Ähnliches gilt nach einem Zuwachs bis in die 70er Jahre auch für die kommerziellen LohnarbeiterInnen des Kapitals, wohingegen der Anstieg(!) der Arbeitslosigkeit nach Ansicht Krügers durch die Zunahme geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse verdeckt werde. Die Zahl der LohnarbeiterInnen bei der traditionellen Mittelklasse bleibt nach einem schleichenden Niedergang in der alten BRD seit dem Anschluss der DDR aufgrund „freiwillige[r] und teilweise erzwungene[r] Gründungsaktivitäten“ (S. 23) stabil.

Auch die Sozialstruktur auf Ebene der Privathaushalte wird, wenngleich sie sich durch das Hinzukommen von Nichterwerbstätigen-Haushalten ausdifferenziert, noch immer maßgeblich durch die Stellung des Haupteinkommensbeziehers bestimmt. In der grafischen Darstellung der Einkommensarten der Privathaushalte nach drei Haushaltstypen für das Jahr 2005 werden die massiven Einkommensdifferenzen sowie die sehr unterschiedlichen Quoten des verfügbaren Einkommens nach Abzug von Steuern und Sozialbeiträgen deutlich.

Im 8. Kapitel zur sozialen Stellung der arbeitenden Klassen geht Krüger der historischen Entwicklung dieser Verteilung nach. Hier zeigt er den bereits ab 1965 einsetzenden relativen Rückgang der Nettolöhne und den diesen spiegelbildlich begleitenden Anstieg der Nettoprofite, sowie die Zunahme der monetären Transfereinkommen durch den Ausbau der Sozialstaats in den 60er Jahren und die sich aufbauende Massenarbeitslosigkeit seit 1975. Deutlich zu erkennen ist auch die Stagnation des bis dato wachsenden Anteils der Vermögenseinkommen mit der fortwährenden Niedrigzinspolitik der Notenbanken infolge der Weltfinanzkrise. Beim Blick auf die Entwicklung der Lohnquote zeigt sich zunächst, dass ihr Anstieg bis etwa 1975 bereinigt auf die Zunahme der Lohnabhängigen zurückzuführen ist. Der Rückgang seit den 80er Jahren hingegen fällt umso deutlicher aus: bereinigt liegt sie heute rund zehn Prozentpunkte unter dem Wert von 1950. Und während der Stundenlohn seit Ende der 60er Jahre steigt, ist die Entwicklung des Reallohns seit den 80er Jahren von Stagnation und seit dem ersten Nachwende-Konjunkturzyklus durch ein sich beschleunigendes Absinken geprägt. Auch die Betrachtung von Tarif- und Effektivlohn seit dem Anschluss der DDR zeigen einen anhaltend negativen Lohndrift trotz niedriger, meist hinter der Preissteigerungsrate zurückbleibender Tarifabschlüsse und werden von Krüger als Ausdruck einer langandauernden strukturellen Überakkumulation gedeutet. Die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 haben diese Entwicklung hin zu einem der größten und am schnellsten gewachsenen Niedriglohnsektors beschleunigt – inzwischen befindet sich nur noch eine knappe Mehrheit der LohnarbeiterInnen in tariflich geschützten Arbeitsverhältnissen. Verfolgt man die Entwicklung der Brutto- und Nettoarbeitsentgelte seit dem Anschluss der DDR zeichnet sich deutlich ab, wie nach anfänglichen Erfolgen des schrittweisen Angleichs der Ost- an Westlöhne die Rolle der ostdeutschen Lohnabhängigen als Lohndrücker wirksam wurde und nach vorübergehender Stabilisierung die Weltwirtschaftskrise zur einem Nettoreallohnverlust von fünf Prozentpunkten im Vergleich zu 1991 führte. Trotz teils harten Tarifkämpfen konnte seither nur das Niveau des Anschlussjahres wieder erreicht werden. Interessant ist auch die auf eigenen Berechnungen des Autors basierende Entwicklung des Ausbeutungsgrads der produktiven Arbeit, wenngleich die Statistik nicht die relative Mehrwertschöpfung (Arbeitsverdichtung durch Produktivkraftsteigerung) berücksichtigt. Bis Anfang der 80er Jahre, d.h. bis zum Ende des ersten Überakkumulationszyklus der fordistischen Nachkriegsperiode, vollzieht sich die Verkürzung der Arbeitszeit ausschließlich(!) zu Lasten der Surplusarbeitszeit. Erst in den beiden Konjunkturzyklen der 80er und 90er Jahren sinkt auch der Umfang der notwendigen Arbeitszeit, wobei der Ausbeutungsgrad wieder gesteigert wird.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ebenfalls die bereits im 4. Kapitel (BRD-Konjunkturzyklen) gebotene Übersicht zur zyklischen Bewegung von Lohn und Profit. Die „grundsätzlich inverse Beziehung“ beider Kategorien zeigt sich sowohl im noch immer „zyklusgenerierenden Bereich“ des industriellen Sektors, als auch abgeschwächt in dem zu diesem aufschließenden Dienstleistungssektor. Phänomene wie die profit-squeezes gegen Ende der fordistischen Nachkriegskonjunkturzyklen treten in den darauffolgenden Überakkumulationszyklen nur noch unter besonderen Bedingungen wie dem DDR-Anschluss auf. Eine ähnliche Tendenz weist die Umverteilung des staatlichen Steuersystems auf. Ging die Umverteilung in der gesamten Nachkriegsökonomie zu Lasten der produktiven LohnarbeiterInnen des Kapitals, so lässt sich seit dem Eintreten der kapitalistischen Überakkumulation Mitte der 70er Jahre eine Verschärfung feststellen, welche die Mehrwertrate „zusätzlich über eine gewissermaßen sekundäre Ausbeutung“ (S. 85) steigert.

In weiteren Kapiteln gibt Krüger einen Überblick zur Entwicklung von Mehrwert, Profitrate und Kapitalakkumulation, Kredit und Zins, fiktivem Kapital, dem Staat als ökonomischen Faktor sowie eine weiterführende Kontextualisierung des BRD-Kapitals auf dem Weltmarkt. Ein Anhang umfasst tabellarisch vom Autor eigenständig berechnete Daten zur Entwicklung der Nachfragestrukturen und Wertrechnung, sowie zur EZB-Geldschöpfung und funktionellen Geldmengenbestandteilen des Euro-Systems.

Besonderes Augenmerk legt Krüger auf die anhaltende Krise der Euro-Zone, welcher er ein eigenes 11. Kapitel widmet. Dabei bestimmt er die Euro-Zone „in ihrer gegenwärtigen Verfassung“ zunächst als „Hybridprodukt aus nationalen, wenn auch über den gemeinsamen (Waren-) Markt verflochtenen Reproduktionsprozessen und einem supranational integrierten Geldmarkt mit einer gemeinsamen Währung, die über die Europäische Zentralbank (EZB) gesteuert wird“ (S. 94). Obwohl die supranationale Integration infolge der Euro-Krise vorangetrieben und ursprünglich nationale Verantwortlichkeiten für Banken und Staatshaushalte damit in Frage gestellt wurden, gilt weiterhin die Nichtbeistands-Klausel (Art. 125 AEU-Vertrag) der EU.

In dieser Konstruktion einer Währungsunion ohne einheitlichen Reproduktionsprozess sieht Krüger den entscheidenden Grund für das Gefangensein der EZB-Politik im Krisenmodus. Als die beiden Gründe der Euro-Krise führt er folgend an:

  1. Die divergenten Leistungsbilanzentwicklungen in den Jahren vor der Weltwirtschaftskrise 2008/09, mit deren Ausbruch sich bereits verfestigte Gläubiger- und Schuldnerpositionen verschiedener Länder innerhalb der Euro-Zone deutlich verschärfen.
  2. Die im Zuge der staatlichen Bankenrettungen explodierenden öffentlichen Defizite, die nötig waren, um einen Zusammenbruch des gesamten internationalen Finanzsystems zu verhindern. Im Anschluss war es den schwächsten und am stärksten betroffenen Euro-Ländern unmöglich, auslaufende öffentliche Kredite zu refinanzieren und neuen Anleihen am Kapitalmarkt zu platzieren.

Beim Ausblick auf die weitere Fortentwicklung sieht Krüger für den Fall eines erneuten Übergangs der EZB-Politik zum regulären „quantitative easing“ die Möglichkeit der Bildung von Vermögensblasen, die mit Blick auf das Kurs-Gewinn-Verhältnis zumindest für die BRD bisher als unwahrscheinlich angesehen werden kann – was jedoch Blasen in anderen Anlagewerten, besonders Immobilien, nicht ausschließt. Die exportbedingten Konjunkturrückgänge in der Euro-Zone hingegen haben, gemeinsam mit der Investitionsschwäche der Unternehmen und der maßgeblich auf deutschen Druck exerzierten Austeritätspolitik, die Gefahr einer deflationären Entwicklung wahrscheinlicher werden lassen. Krüger warnt davor, dass eine „einmal in Gang gekommene Deflation […] wegen ihrer immanenten Selbstverstärkungseffekte nur sehr schwer wieder zu überwinden“ (S. 109) sei und in einer allgemeinen Schuldendeflation zu enden droht.

Im abschließenden Kapitel versucht Krüger eine Einordnung der (BRD-)Nachkriegsökonomie in die allgemeine Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise. Im fordistisch-tayloristischen Akkumulationsregime der Nachkriegszeit konnte die Abnahme des Umfangs der wertschöpfenden produktiven Arbeit noch durch ein gleichzeitiges Wachstum des Gesamtkapitals überkompensiert werden, „sodass bei einer tendenziell sinkenden Durchschnittsprofitrate die Masse des gesamtwirtschaftlichen Profits zunahm.“ (S. 110) Den Strukturbruch der Nachkriegsentwicklung Mitte der 70er Jahre diagnostiziert er mithilfe der Wertrechnung als Ablösung der überzyklisch beschleunigten Kapitalakkumulation durch eine strukturelle Überakkumulation in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Im „anhaltende[n] Verdrängungswettbewerb zwischen fungierendem und neuanzulegendem Kapital“ (S. 111) werden die Konjunkturphasen zu bloßen Erholungsperioden, während die zyklischen Abschwünge tiefer und länger verlaufen. Schließlich findet eine Verschiebung weg vom durch zyklischen Lohnsteigerungen bedingten profit-squeeze hin zur zyklischen Überproduktion aufgrund unzureichend bleibender Konsumnachfrage statt. Krüger unterteilt die seitherige Entwicklung in drei Phasen:

  1. Eine Phase der Stagflation, in welcher ein ungebrochen privater (entspannter Arbeitsmarkt) und öffentlicher (defizitfinanzierter) Konsum eine Konjunkturstabilisierung bewirkte, ohne dass es dabei zu einer durchgreifenden Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Profitmasse mitsamt einer dynamischen Investitionsentwicklung kam. Dies wiederum heizte die Geldkapitalakkumulation an, die zu Fehlallokationen und steigenden Zinssätzen führte.
  2. Gefolgt von einer Phase der Angebotspolitik, in welcher durch das Drücken der Löhne die bereits mit der steigenden Arbeitslosigkeit vorbereitete Umverteilung von Löhnen zu Profiten erzwungen wurde. Die harte monetaristische Linie der unbedingten Preisstabilität hatte zum einen den Zweck, die Werthaltigkeit der Geldvermögensbestände zu sichern, und suggerierte den Transfer- und LohnbezieherInnen zum anderen eine Stärkung ihrer Kaufkraft. Die durch die gedrückten Masseneinkommen verfestigte konsumptive Nachfrageschwäche konterkarierte allerdings die intendierten Effekte der Angebotspolitik, die Dynamik der Kapitalakkumulation verlagerte sich zunehmend in den sich zu einer Finanzindustrie entwickelnden Finanzsektor.
  3. Dies wiederum konterkarierte die Geldpolitik der Zentralbanken, weshalb jene bald auf eine asset based wealth-driven accumulation setzten. Der immer offener zutage tretenden Konsumnachfrageschwäche sollte mit einer finanzmarktbasierten, auf KonsumentInnenkredite gestützten Ausweitung der Massennachfrage beigekommen werden. Angesichts der von vornherein absehbaren fehlenden Nachhaltigkeit dieser Politik, war es nur eine Frage der Zeit, bis mit der subprime crisis eine Spekulationsblase den beinahe-Zusammenbruch des internationalen Finanzmarkts auslöste. Auch wenn letzterer mit dem Übergang der Zentralbanken zu einer (ultra-)lockeren Geldpolitik abgewendet werden konnte, zwingt die offenbar gewordene Verschuldung von Banken, Unternehmen und Privathaushalten einer Fortsetzung dieser Politik, um dem Deleveraging entgegenzuwirken.

Krügers Interpretation führt zu dem Schluss, dass sich die strukturelle Überakkumulation nicht durch ein weiteres Drehen an der Verteilungsschraube überwinden lassen wird. So stellt er den/die LeserIn gegen Ende seines Buches zugespitzt vor die (wiederkehrende) Alternative: socialisme ou barbarie – entweder die „umfassende Entwertung und Vernichtung des Kapitalstocks“ mit allen dadurch bedingten gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen, oder eine linkskeynesianisch inspirierte „sozialistische Marktwirtschaft“ (S. 115).

Diskussion

Krüger gesellt sich damit in eine Strömung der Marx-Interpretation, die Max Horkheimers Bedenken, man könne heute nicht bestimmen, „was eine freie Gesellschaft tun oder lassen wird“ (Horkheimer, S. 308) verwirft, und stattdessen Konzeptionen einer zukünftigen sozialistischen Produktionsweise ausarbeitet. Diese umreißt er bereits in der letzten Fußnote des Buches als geprägt durch „1. eine wirtschaftsdemokratische Corporate Governance in den Unternehmen […], 2. das Miteigentum an den Produktionsmitteln in verschiedenen Formen […] sowie 3. eine integrierte makroökonomische Struktur-, Finanz- und Geldpolitik zur Steuerung der marktvermittelten Ressourcenallokation“ (S. 116). In seinem soeben neu erschienen Buch „Wirtschaftspolitik und Sozialismus“ führt er diese Reformvorschläge weiter aus. Ähnliches hat in diesem Jahr auch Hans-Georg Zinn unter dem Titel „Vom Kapitalismus ohne Wachstum zur Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ in knapper(er) Form im selben Verlag vorgelegt.

Wesentlich bestimmt ist Krügers „sozialistischen Marktwirtschaft“ durch die „Wiederherstellung der Suprematie der reproduktiv-wertschöpfenden Basis der Ökonomie gegenüber den verselbstständigten Prozessen der Geldakkumulation auf den Finanzmärkten“ (S. 115). Erreichbar hält er diese mittels wirtschaftspolitischer Reformen, welche die „Dominanz kapitalistischer Produktionsverhältnisse“ brechen und eine „Relativierung der Profitrate als Steuerungsinstrument der Allokationsprozesse“ (ebd.) bewirken, und somit eine „„dienende Rolle“ von Geld und Kredit gegenüber produktiver Wertschöpfung“ (Krüger, Klappentext) verwirklichen sollen.

Die Zugrundelegung des makroökonomischen Statistik für die quantitative Bestimmung der „tatsächlichen ökonomischen Formbestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise“ (S. 12) begründet Krüger damit, dass diese sich faktisch als ein „eigenständiges Paradigma jenseits und im Gegensatz zu einigen der bestgeglaubten Dogmen der bürgerlichen Nationalökonomie“ charakterisieren lasse, wenngleich auch die „theoretisch-paradigmatische Fundierung fehlt oder unzureichend ist“ (S. 15). Potenziellen Einwänden zu Axiomen, die unter Marx-Interpreten umstritten sind, aber von Krüger weitestgehend argumentationslos postuliert werden, begegnet er leider oft mit Polemik (Vgl. S. 12 Fn 1, S. 14), statt wie an anderen Stellen zumindest auf weiterführende Literatur zu verweisen.

Die grafische Darstellung der Entwicklung der makroökonomischen Kenngrößen, zusammengefasst zu entsprechenden Themengruppen, ermöglicht einen schnellen und verlässlichen Überblick. Die vorwiegend anzutreffenden Quellenangabe „eigene Berechnungen“ lässt den Umfang der Forschungs- und Analysearbeit Krügers erahnen, fordert dem/der LeserIn jedoch einen Vertrauensvorschuss ab. Auch der tabellarische Datenanhang erhält nur die Ergebnisse andernorts angestellter Berechnungen. Das schmälert nicht den Wert dieses Handbuches, wer jedoch mehr will, als den die Bewegung des Werts als Kapital ideell in grafischer Form nachzuvollziehen, wird um den Besuch der nächsten Universitätsbibliothek nicht umhinkommen.

Fazit

Wer dieser Tage Volkswirtschaftslehre in kritischer Absicht studiert oder sich anderweitig mit der makroökonomischen Entwicklung der BRD beschäftigt, dem/r ist mit Stephan Krügers statistischem Handbuch ein hilfreiches Mittel zum Verständnis der Entwicklung der BRD-Nachkriegsökonomie gegeben. Auch wenn die ausschließlich grafische Darstellung den Griff zu statistischen Handbüchern nicht überflüssig machen wird, können Interessierte hier die Entwicklungstendenzen wesentlicher ökonomischer Prozesse unkompliziert nachschlagen. Doch dieses Handbuch auf ein einfaches Nachschlagewerk zu reduzieren, griffe zu kurz. Dem Anspruch nach, eine progressive Statistik der ökonomischen Entwicklung auf Basis marxistischer Wertrechnung vorzulegen, versucht Krüger die empirisch-statistischen Daten in ihrem wirklichen Gesamtzusammenhang von Produktion, (Um-)Verteilung und Verwendung des Nationaleinkommens zu präsentieren. Wo angesichts von naturwüchsigen Schwierigkeiten der grafischen Darstellbarkeit eine weitere Interpretation dieser Zusammenhänge notwendig wird, sieht sich der/die LeserIn auf bisher erschienene Schriften Krügers zurückverwiesen. Dies jedoch sollte nicht als Manko, sondern als Chance begriffen werden, sich an einem konkreten Gegenstand tiefergehend mit der dahinterstehenden marxistischen Wertrechnung zu beschäftigen.

Literatur

  • Horkheimer, Max: Autoritärer Staat, in: GS Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, S. 293-319.
  • Krüger, Stephan: Wirtschaftspolitik und Sozialismus. Vom politökonomischen Minimalkonses zur Überwindung des Kapitalismus, Hamburg 2015.

Rezension von
Christoph Hornbogen
Politikwissenschaftler
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Es gibt 11 Rezensionen von Christoph Hornbogen.

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Zitiervorschlag
Christoph Hornbogen. Rezension vom 11.12.2015 zu: Stephan Krüger: Entwicklung des deutschen Kapitalismus 1950-2013. Beschäftigung, Zyklus, Mehrwert, Profitrate, Kredit, Weltmarkt. VSA-Verlag (Hamburg) 2015. ISBN 978-3-89965-641-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18391.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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