Manfred Gerspach, Annelinde Eggert-Schmid Noerr u.a. (Hrsg.): Psychoanalyse lehren und lernen an der Hochschule
Rezensiert von Prof. Dr. Marga Günther, 03.03.2015

Manfred Gerspach, Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Thilo Naumann, Lisa Niederreiter (Hrsg.): Psychoanalyse lehren und lernen an der Hochschule. Theorie, Selbstreflexion, Praxis. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2014. 356 Seiten. ISBN 978-3-17-023927-2. D: 39,99 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 53,90 sFr.
Thema
Bereits von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, war diese Methode des Verstehens innerer psychischer Prozesse im Menschen nicht auf den psychotherapeutischen Bereich begrenzt worden. So hat er im Jahre 1926 in seinem Text „Die Frage der Laienanalyse“ prägnant formuliert: „Dann lassen Sie sich mahnen, dass es noch ein anderes Anwendungsgebiet der Psychoanalyse gibt, das dem Bereich des Kurpfuschergesetzes entzogen ist und auf das die Ärzte kaum Anspruch erheben werden. Ich meine ihre Verwendung in der Pädagogik“. Erst recht gilt dieser Anspruch für seine Nachfolger/innen, die auf den Gebieten von Psychoanalytischer Pädagogik und Sozialarbeit tätig sind. Gerade weil sich das psychoanalytische Herantasten an intra- wie interpersonelle Prozesse unbewusste Dimensionen erschließt, die anderen Fachrichtungen unbekannt sind, kann damit eben auf diesen beruflichen Feldern zwischenmenschlicher Beziehungen die wissenschaftlichen Grundkompetenz konsolidiert und verfeinert werden, was notabene zu einer gedeihlichen Entwicklung der jeweiligen Adressat/innen beiträgt.
Das vorliegende Buch gewährt einen Einblick in das Psychoanalyse-affine Wirken einer Gruppe von Lehrenden an Hochschulen und Fachhochschulen, die in einem nun bereits mehrjährigen intensiven Austausch über ihre Lehr- und Lernerfahrungen stehen und sich einen gemeinsamen Reflexionsraum geschaffen haben, um die aktuelle Stellung der Psychoanalyse in Bildungsinstitutionen einschließlich der dort sichtbar werdenden intellektuellen und affektiven Schwierigkeiten in der Begegnung mit ihr zu erörtern. Diesem Kreis gehören Kolleg/innen an, die eine abgeschlossene psychoanalytische und/oder gruppenanalytische Ausbildung aufweisen und klinisch-psychotherapeutisch tätig sind oder sich, wie eben in Pädagogik und Sozialer Arbeit, der Psychoanalyse sehr verbunden fühlen.
Wie also lehrt man Psychoanalyse? Diese Frage wird ebenso prinzipiell wie anhand konkreter Themen aufgefächert. Es geht um den Bedeutungsschwund der Psychoanalyse an den Hochschulen, die Gestaltungsformen psychoanalytisch orientierten Arbeitens an Hand von Einblicken in die eigene Lehrpraxis, die Berücksichtigung von Selbsterfahrungsanteilen und die Anwendung der Psychoanalyse in extraklinischen Praxisfeldern jenseits psychotherapeutischer Settings.
Aufbau und Inhalt
Das vorliegende Buch ist in fünf sehr gut abgestimmte Kapitel gegliedert und spiegelt die Ergebnisse eines mehrjährigen intensiven Reflexionsprozesses hinsichtlich der Themenstellung, wie sich das sperrige und oftmals Widerstände auslösende Thema der Psychoanalyse am sinnvollsten und effektivsten hochschuldidaktisch vermitteln und anwenden lässt. Sie sind wie folgt überschrieben:
- Zur Aktualität der Psychoanalyse in der Hochschule
- Studiengänge und Weiterbildung mit psychoanalytischem Curriculum
- Psychoanalytisches Fallverstehen
- Selbsterfahrung und Selbstreflexion
- Tiefenhermeneutische Forschung.
Konzeptionell und inhaltlich stehen in allen Beiträgen die verbindenden Aspekte des Umgang mit Affekten, Phantasien und Assoziationen als Mittel der Erkenntnisgewinnung, die Bedeutung der bewussten und vor allem unbewussten Anteile der Erfahrung von Intersubjektivität im Praxisfeld sowie die Auswirkungen der institutionellen und gesellschaftlichen Strukturen und Abwehrformen im Hinblick auf den Gestaltungsrahmen der professionellen Tätigkeiten im Vordergrund.
Im ersten Kapitel skizziert zunächst Marianne Leuzinger-Bohleber vor dem Hintergrund ihrer langen Lehrerfahrungen an der Universität Kassel den Statusverlust der Psychoanalyse gegenüber den anderen, insbesondere empirischen Wissenschaften, sieht aber auch, dass sich angesichts eines schmerzlichen, selbstkritischen Trauerprozesses neue Fenster öffnen. Im folgenden Beitrag entwirft Ilka Quindeau ihre These, dass die Psychoanalytische Pädagogik niemals ihren hohen Anspruch, das Unbewusste mittels Aufklärung zu entmächtigen, einzulösen vermochte. Gleichwohl kann, etwa mit Bezug auf die anthropologischen Beschreibungen von Jean Laplanche, die Konstitution des Subjekts im dialogischen Raum der asymmetrischen Beziehung von Kind und Erwachsenem genauer gefasst werden, was nicht zuletzt die Bedeutung der Leiblichkeit für die pädagogischen Prozesse hervorhebt. Danach verdeutlicht Thilo Naumann den Gewinn, den die Übertragung gruppenanalytischer Erkenntnisse auf die vielfältigen pädagogischen Arbeitsfelder erbringt, nicht zuletzt, weil Pädagogik in der Regel ein Gruppengeschehen repräsentiert. Dabei bezieht er die tiefenhermeneutische Reflexion von Prozessen zwischen Lehrenden und Lernenden im Hochschulalltag mit ein.
Das zweite Kapitel eröffnet Oliver Hechler mit seinen Überlegungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Erziehung, wie es seit dem Wirken von Aloys Leber in den 1970er und 1980er Jahren am Institut für Sonderpädagogik der Frankfurter Universität gelehrt wird. Es sind eben die psychoanalytisch orientierten Lehr- und Lernangebote, in der sich die Trias von Sachkenntnis, Tatbestandswissen und Reflexion dieses Wissens zusammenfügt. Danach entfaltet Birgit Gaertner das tiefenpsychologisch ausgerichtete Konzept eines Masterstudienganges Musiktherapie an der Fachhochschule Frankfurt, wobei sie vor dem Hintergrund oftmals diffuser und verunsichernder Situationen in der Praxis sehr dezidiert auf die Notwendigkeit der Vermittlung einer profunden Professionalität hinweist, was nur über die Verzahnung der in den Praktika gemachten Erfahrungen mit Selbsterfahrung und Supervision gelingen kann. Gefolgt wird dieser Beitrag von der Darlegung eines Masterstudiengangs Sonderpädagogik an der Universität Mainz durch Evelyn Heinemann und Bernd Traxl. Hierbei stehen neben der Prüfung der Kompatibilität einer psychoanalytisch gewirkten Sonderpädagogik mit medizinischen und verhaltensorientierten Ansätzen inhaltliche Schwerpunkte wie Übertragung und Gegenübertragung, szenisches Verstehen, Mentalisierung und Bindungstheorie auf dem Lehrplan. Danach beleuchtet Katharina Gröning den weiterbildenden Masterstudiengang Supervision und Beratung an der Universität Bielefeld, wobei sie den interdisziplinären Charakter der psychoanalytischen Ausrichtung und den Anschluss an sozial- und arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse betont. Anne Busse und Ralf Zwiebel folgen mit ihrer Darstellung des Profilstudienprogramms „Konfliktberatung für Pädagog/innen“, wobei Zusammenhänge der zu erwerbenden Lehreridentität mit eigenen biographischen Reminiszenzen hergestellt werden, schließlich lebt das gesamte Lehrerstudium vom Spannungsverhältnis zwischen Vertrautheit und Fremdheit. Auch und gerade der Erprobung kollegialer Fallberatung kommt diesbezüglich große Bedeutung zu. Den Abschluss bilden Annelinde Eggert-Schmid Noerr und Heinz Krebs mit ihrer Vorstellung des postgradualen Fort- und Weiterbildungskonzepts des Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit. Es ist erfreulich, dass ein solches Angebot, das einen reflektierten Umgang mit den vor Ort von den professionell Tätigen erlittenen emotionalen Verstrickungen ermöglichen möchte, Eingang in dieses Buch gefunden hat.
Das dritte Kapitel eröffnet Heike Schnoor mit Einblicken in ihre Vorlesung über Beratung, Supervision und Moderation, in welcher sie psychoanalytisches Fallverstehen vermittelt. Ausgangspunkt ist der Begriff des Handlungsdialogs, der Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene zwischen Helfer/innen und Klient/innen in sich trägt, die aufgedeckt und bearbeitbar gemacht werden. Manfred Gerspach schließt an mit der Darlegung eines Projektseminars an der Hochschule Darmstadt, in der Studierende, sowohl theoretisch wie supervisorisch begleitet, befähigt für emotional belastende Begegnungen mit ‚schwierigen‘ Kindern und Jugendlichen werden. Deutlich wird, wie niederschwellige, von einem psychoanalytischen Impetus getragene pädagogische Angebote im schulischen Kontext zu einer nachhaltigen Entspannung und damit Verbesserung der Lernsituation beitragen können. Danach berichtet Svenja Heck in Ergänzung zum Text von Heinemann und Traxl von einem Veranstaltungszyklus zum Thema Liebe, Lust und Leidenschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung, der auf den reflektierten Umgang mit einer oftmals unerkannten psychischen Abwehr gegen dieses Phämomen zielt, um so die vielbeschworene Selbstbestimmung dieser Adressat/innengruppe tatsächlich Wirklichkeit werden zu lassen.
Das vierte Kapitel beginnt mit Überlegungen von Annedore Prengel über Introspektion und Empathie in der pädagogischen Ausbildung, Fortbildung und Forschung. Im Mittelpunkt stehen narrative Übungen, mittels derer pädagogische Räume als Resonanzräume für intra- und intersubjektive Prozesse erfahrbar gemacht werden sollen. Diesbezüglich wird vor allem die sinnlich-symbolische Dimension erlebter pädagogischer Szenen fokussiert. Lisa Niederreiter schließt an mit ihrem Beitrag über ästhetische Erfahrung und künstlerische Handlung als vertiefte Selbstreflexion. Interessant an diesem Text ist die Betonung des im intellektualisierten Hochschulalltag oftmals unterschätzten Moments der präverbalen und sinnlichen Auseinandersetzung mit Hilfe eines ästhetischen Mediums. Am Ende kommt Cornelia Krause-Girth zu Wort mit ihrem Text über gruppenanalytisch orientierte Seminararbeit. In Anlehnung an Moellers Selbsthilfegruppenkonzept werden hier Theoriearbeit, praktische Erkundung und gemeinsame Reflexion miteinander verbunden.
Das letzte Kapitel wird durch Regina Kleins aktualisierte Skizzen zur Tiefenhermeneutik des Leibes eröffnet. Unter Bezugnahme auf Alfred Lorenzer wird die Aktualität einer Tiefenhermeneutischen Kulturanalyse herausgearbeitet, wobei wiederum die auf diesem Wege einholbaren unbewusste Dimensionen und vor allem leibgebundenen Effekte zu Tage treten, was die vorgebrachten szenischen Entschlüsselungen aus der Castingshow Germany´s Next Topmodel aufs Vortrefflichste zu illustrieren vermögen. Danach gewähren Frank Dammasch und Marian Kratz einen Einblick in ihre tiefenhermeneutisch orientierten Familienbeobachtungsstudien, die sie mit Studierenden der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Frankfurt durchführen. Auf der Grundlage von vermittelten Entwicklungstheorien erfolgt die Gruppeninterpretation von Protokollen, die Studierende aus Beobachtungssequenzen und narrativen Elterninterviews gewonnen haben. Zum Schluss stellt Achim Schröder ein Lehrforschungsprojekt des Masterstudiengangs Sozialer Arbeit an der Hochschule Darmstadt vor. Hier geht es um ein pointiert psychoanalytisch inspiriertes Forschen, was sich über das Erstellen eines Forschungstagebuchs, die gleichschwebende Aufmerksamkeit beim Lesen narrativer Interviews und das Verstehen der subjektiven Verwicklung vor Ort ergibt.eike
Diskussion
An der Psychoanalyse scheiden sich die Geister, denn hier haben wir es nicht mit einer wissenschaftlichen Disziplin zu tun, die man sich aneignen kann, ohne persönlich davon affiziert zu werden. Daher sind bei Lehrenden wie Studierenden Irritation, Abwehr, Ärger und Geringschätzung verstehbar. Die Psychoanalyse geht in ihrem Erkenntnisprozess aber weit über die Selbstbeschränkungen und uneingestandenen normativen Setzungen der klassischen handlungsleitenden Beobachtungs- und Erklärungswissenschaften hinaus, denen ein empathischer Zugang zu den lebensgeschichtlich eingeschriebenen affektiven Nöten der unterschiedlichen Adressat/innen verborgen bleibt, weil sie ihn, aus welchen Gründen auch immer, für lässlich halten. Zugegebenermaßen hat die verfasste Psychoanalyse, indem sie sich aufs klinische und vor allem medizinisch regierte Terrain zurückzog und ihren kritischen Gestus gegenüber zu problematisierenden gesellschaftlichen Zeitströmungen weitgehend ablegte, viel zu ihrer eigenen Marginalisierung beigetragen. Auch ein gewisser arroganter Habitus wurde von einigen ihrer Vertreter/innen im Zuge dieses Sinneswandels erworben.
Hier nun liest man anderes. Nicht nur wird dieser „Rückzug hinter die Couch“ (selbst-)kritisch thematisiert, die Texte atmen durch die Bank eine andere, wieder an allgemeinen emanzipativen Prozessen interessierte Haltung. Psychoanalyse zu lehren wirft die beinahe unlösbare Frage auf, wie jenseits reiner Theorievermittlung ihr Geist zu transportieren sei. Und dieser Geist, so schwer er auch zu fassen sein mag, wird geradezu sinnlich spürbar. Auffallend ist, dass die Psychoanalyse in ihren angestammten Studiengängen der Psychologie und Medizin zu verschwinden droht. Keine/r der im Buch vertretenen Autor/innen ist dort tätig. Auffallend ist aber auch, dass an den universitären erziehungswissenschaftlichen Fachbereichen und vor allem an den Fachhochschulen mit ihren Studiengängen der Sozialen Arbeit eine ganze Reihe von psychoanalytisch orientierten Lehrenden zu finden sind. Das gibt Hoffnung. Und dieser außerklinischen Praxisnähe ist es wohl auch zu verdanken, dass die Beiträge unisono sehr wenig theorielastig daherkommen, sondern den Gewinn psychoanalytischer Annäherung an eine vom Scheitern bedrohte und nun befreitere Lebensgestaltung sehr plastisch zu veranschaulichen wissen.
Fazit
Der Band gewährt einen sorgfältig aufbereiteten Einblick in die hochschulinterne Vermittlung psychoanalytischer Wissens- und Verstehensbestände. Dass es bei der didaktischen Umsetzung des Erwerbs einer professionellen Kompetenz auf eine ausgewogene Mischung aus Theorie, Praxis und Selbstreflexion ankommt, wird, gespickt mit vielen Praxisvignetten, sehr überzeugend belegt. Es geht dezidiert nicht um eine pathologische Sicht auf Lebensgeschichte – was man der Psychoanalyse zu Unrecht gerne vorhält –, und auch nicht um eine Therapeutisierung sozialer pädagogischer beruflicher Felder, sondern um den Nachweis der Wirksamkeit psychoanalytisch orientierter Herangehensweisen an die sich dort stellenden drängenden Fragen und Probleme. In den sehr praxisorientierten, aber dennoch theoretisch anspruchsvoll vorgetragenen Texten offenbart sich die Aktualität wie Plausibilität einer längst tot gesagten Disziplin. Soziale Arbeit in all ihren Schattierungen ist Beziehungsarbeit. Und nur über ein verbessertes Selbstverstehen kann sich der/die Praktiker/in dem nötigen Fremdverstehen mit der angemessenen Professionalität öffnen. Die sehr gut aufeinander abgestimmten Beiträge ergeben in der Summe ein differenziertes Bild, dass psychoanalytisches Verstehen angstfrei und somit kompetenzerweiternd gelehrt wie gelernt werden kann.
Rezension von
Prof. Dr. Marga Günther
Professorin für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt
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Zitiervorschlag
Marga Günther. Rezension vom 03.03.2015 zu:
Manfred Gerspach, Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Thilo Naumann, Lisa Niederreiter (Hrsg.): Psychoanalyse lehren und lernen an der Hochschule. Theorie, Selbstreflexion, Praxis. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2014.
ISBN 978-3-17-023927-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18392.php, Datum des Zugriffs 24.03.2023.
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