Anne Kersten: Opferstatus und Geschlecht
Rezensiert von Hans-Joachim Lenz, 11.10.2016
Anne Kersten: Opferstatus und Geschlecht. Entwicklung und Umsetzung der Opferhilfe in der Schweiz. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2015. 463 Seiten. ISBN 978-3-03777-154-9. D: 47,00 EUR, A: 48,40 EUR, CH: 58,00 sFr.
Thema
Obwohl Männer als Täter und Opfer von Gewalt überrepräsentiert sind, wird diese durch die bundesdeutsche Kriminalstatistik seit den 1970er-Jahren kontinuierlich belegte Konstellation bis heute im Diskurs um Gewalt und Geschlecht weitgehend ignoriert. Der öffentliche und wissenschaftliche Diskurs verkürzt den Fokus nicht nur auf männliche Täterschaft, sondern blendet zudem aus, dass es sich bei den Tätern nicht um die Mehrheit, sondern um eine Minderheit von Männern handelt. Mehrheitlich sind Männer friedlich. Grundsätzlich existieren verschiedene Konstellationen im Kontext von Geschlecht und Gewalt. So gibt es Gewalt unter Frauen, Gewalt unter Männern und Gewalt zwischen Frauen und Männern. Vor allem die Konstellation, in der Frauen Beziehungsgewalt durch Männer widerfährt, stand in den letzten 40 Jahren im Zentrum von Forschung und gesellschaftlicher Diskussion. Sie wurde intensiv empirisch erforscht, theoretisch analysiert und öffentlich problematisiert. Daraus abgeleitet liegen vielfältige sozialpolitische Interventionen und Programme vor.
Im Gegensatz zum Wissen über und dem Anerkennen von kindlicher und weiblicher Opferschaft und der Beschäftigung mit männlicher Täterschaft bleibt die Problematik männlicher Opfer gesellschaftlich weitgehend unbeachtet. Sie wird (bislang) kaum als soziales Problem identifiziert und ist damit weder Gegenstand der herkömmlichen Fachpolitiken (wie Kriminalpolitik, Rechtspolitik, Familienpolitik, Gesundheitspolitik) noch der Gleichstellungspolitik. Ähnlich lässt sich die Lage in der Gewaltforschung (Kriminalitätsforschung, Viktimologie, Rechtssoziologie) beschreiben: Eine geschlechtsvergessene Perspektive ist vermischt mit geschlechterstereotypen Zuschreibungen. Neuere Forschungen greifen die Variable Geschlecht zwar auf (sex), ohne jedoch die damit verschränkte soziale Dimension von Männlichkeit und Weiblichkeit genderkritisch zu reflektieren und insbesondere die dabei implizierte Grundannahme männlicher Unverletzlichkeit in Frage zu stellen. Die Folge ist auch hier eine überwiegende Reduktion auf die Täterperspektive in häuslichen Gewaltkontexten unter Ausblendung männlicher Opfer in diesen und anderen Gewaltsituationen. Auch in der psycho-sozialen Arbeit ist die Perspektive auf Männlichkeit jenseits hegemonialer Muster noch nicht wirklich angekommen.
An diesem beträchtlichen Mangel setzt die vorliegende wichtige, theoretisch und empirisch anspruchsvolle Studie an. Die Ignoranz gegenüber männlicher Verletzbarkeit soll mittels einer systematischen Rekonstruktion am zentralen sozialpolitischen Anliegen der schweizerischen Opferhilfe aufgezeigt und verstehbar gemacht werden.
Gewaltopfern wird in der Schweiz seit 1993 durch das Opferhilfegesetz staatlich finanzierte Unterstützung zuteil. Bei der Überwindung der Folgen von Gewalthandlungen soll Personen, die durch eine Straftat in ihrer Integrität beeinträchtigt worden sind, geholfen werden. In drei Vierteln der Fälle sind die auf der Grundlage des Opferhilfegesetzes beratenen Menschen weiblich, obwohl weibliche und männliche Personen in vergleichbarem Ausmass von Gewalt betroffen sind. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Machen Gewaltwiderfahrnisse Frauen zu Opfern und Männer nicht? Die Autorin beschäftigt sich mit diesen Fragen. Die Entstehung und Umsetzung der staatlichen Opferhilfe in der Schweiz von 1978 bis 2011 wird rekonstruiert. Dabei wird nachvollzogen, wie der Opferstatus in einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess geschaffen wurde und welche geschlechterkulturellen Praktiken dabei einflossen. Durch die Studie lassen sich breit angelegte Einblicke in den gesamtschweizerischen politischen und medialen Diskurs rund um Entstehung und Ausgestaltung des Opferhilfegesetzes erhalten. Und in vergleichende Fallanalysen sind Einsichten zu dessen Umsetzung in den Kantonen Basel-Stadt/Basel-Landschaft und Bern erhältlich.
Autorin und Entstehungshintergrund
Dr. Anne Kersten erstellte im Rahmen eines Forschungsprojektes des Schweizerischen Nationalfonds die Studie als Dissertation am deutschsprachigen Lehrstuhl für Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit der Universität Freiburg (CH). Inzwischen ist sie Leiterin des Masterstudiengangs Pflege an der Berner Fachhochschule.
Aufbau
Sechs inhaltliche Kapitel umfassen:
- Der Blick auf die Opfer: Historische Entwicklungen, empirische Ergebnisse und sozialpolitische Massnahmen
- Der gesellschaftliche Umgang mit individueller Viktimisierung aus einer theoretischen, geschlechtersensiblen Perspektive
- Die methodischen Zugänge
- Opferhilfe schweizweit – Inanspruchnahme der Beratung und öffentlicher Diskurs
- Kantonale Umsetzung der Opferhilfeberatung – Manifestationen des öffentlichen Diskurses
- Einordnung der Ergebnisse, Diskussion und Ausblick
Bei der Deutschen Nationalbibliothek ist ein ausführliches Inhaltsverzeichnis einsehbar.
Inhalt
Einblicke in den theoretischen Rahmen:
- Die Grundannahmen im Diskurs und Gewalt gehen aus von „einer nicht verletz- und erschütterbaren Norm-Person: dem weißen, heterosexuellen Mann. Männliche Opfer-Werdung ist demnach nicht denkbar“ und wird durch die Festschreibung männlicher Täterschaft untermauert. „Die Nicht-Denkbarkeit männlicher Opfer-Werdung entfaltet ihre versteckte Wirkungsmacht über die wissenschaftliche Forschung hinaus auch in den Konstruktionsprozessen der geschlechtsneutral konzipierten, schweizerischen Opferhilfe.“ Diese Vorgänge sind wesentlicher Teil der Funktionsweise einer hierarchisch strukturierten Geschlechter-Hegemonie.
-
Das
Geschlecht der Opfer wirkt sich auf den Opferstatus aus und der
Opferstatus steht in Relation zu hegemonialer Weiblichkeit und
Männlichkeit. Diese Dynamiken werden im Kontext
wohlfahrtsstaatlicher Opferhilfe mittels des Konzepts des
Genderregimes gefasst, das im Ansatz des Geschlechter-Arrangements
verdichtet wird. Von folgenden Implikationen wird dabei u.a.
ausgegangen:
- Es wird angenommen, dass Eigenschaften legitimer Opferqualität und hegemonialer Männlichkeit sowie Weiblichkeit wechselseitig und spannungsgeladen ineinander verflochten sind. Die Kurzformel dieser dynamischen Verflechtung lautet: Mann als Opfer ist nicht männlich – Opfer als Mann ist nicht geschädigt; Frau als Opfer ist immer weiblich – Opfer als Frau ist geschädigt.
- Es wird angenommen, dass weiblichen und männlichen gewaltbetroffenen Menschen in den machtgeladenen Aushandlungsprozessen bei Entstehung und Umsetzung der Opferhilfe, in welche verschiedene öffentliche Akteur/-innen involviert sind, der Opferstatus in unterschiedlichem Ausmass zugesprochen wird.
Methodische Zugangsweisen:
1. Schritt: Statistische Analyse der Opferhilfedaten des Bundesamtes für Statistik für die Jahre 2000-2010 im Vergleich zu den Daten der polizeilichen Kriminalitätsstatistik (2009-2010).
2. Schritt: Diskursanalytische Untersuchung des gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses um das Opferhilfegesetz (politische und mediale Diskursebene). Ausgangspunkt ist, dass Gewaltbetroffenheit aus Menschen noch keine Opfer macht, die Unterstützung erhalten.
Zur abschließenden Illustration der Fruchtbarkeit des verfolgten Ansatzes weitere prägnante, erhellende Einblicke:
- „Die diskursiv hergestellte Gestaltlosigkeit männlicher Opfer.“ (320)
- „Das im öffentlichen Opferhilfe-Diskurs hergestellte ‚Vergessen‘ männlicher Opfer (ist, hjl) in die Beratungsstrukturen eingeschrieben.“ (326)
- „Nicht die bei den männlichen Opfern verortete Männlichkeit erschwert also den Weg zum Opferstatus …, sondern die mit den gesellschaftlichen Männlichkeitsvorstellungen verbundene «Tabuisierung» männlicher Opfer durch diejenigen Einrichtungen, welche für verschiedenste Unterstützungsleistungen zuständig sind. Mit einem derartigen In-Bezie-hung-Setzen von männlichen Opfererfahrungen, Männlichkeit und Gesellschaft wird die Thematik männlicher Opfer in einem gesellschaftlich-kulturellen Rahmen situiert, der über die Opferhilfeberatung hinausreicht.“ (353f)
Diskussion und Fazit
Die Studie beschäftigt sich mit der Frage, warum in der schweizerischen staatlichen Opferhilfe nicht ähnlich viele männliche wie weibliche Menschen Unterstützung finden, obwohl ähnlich viele Frauen und Männer von Gewalt betroffen sind. Zur Beantwortung wird auf eine empirischen Analyse unter einer geschlechtersensiblen Perspektive zurückgegriffen, die komplexe gesellschaftliche Konstruktionsprozesse ins Blickfeld des Interesses rückt. Derartige Prozesse sind von einer gewissen Eigengesetzlichkeit geprägt. Diese aufgreifend wurde nach Hintergründen, Logiken und Mechanismen gesucht, welche die Ausrichtung der schweizerischen Opferhilfe auf weibliche Opfer erklären helfen. Für die Beantwortung der Forschungsfragen wurde ein diskursanalytisches Vorgehen gewählt, welches mit der konstruktivistischen und geschlechtersensiblen Perspektive vereinbar ist. Dieses Vorgehen wurde durch eine deskriptiv-statistische Analyse bestehender Opferhilfedaten ergänzt.
Das Ergebnis ist eine im deutschsprachigen Raum einmalige grundlegende und zukunftsweisende geschlechtssensible Untersuchung. Durch weitere Studien dieser Art ergebnisoffener Forschung ließe sich der bis dato verengte Forschungsdiskurs um vergeschlechtlichte Gewalt (weibliche Opfer und männliche Täter im häuslichen Kontext unter Ausblendung männlicher Verletzbarkeit) weiterentwickeln. Damit könnte der wirkmächtige Fokus auf Männer als Gewalttäter durchbrochen und das sozialpolitische Projekt einer männlichen Schutzwürdigkeit gesellschaftliche Relevanz erhalten. Eine Herausforderung für die zukünftige Erforschung und Politik der Gleichstellung der Geschlechter.
Rezension von
Hans-Joachim Lenz
Sozialwissenschaftler, Geschlechterforscher, Dozent
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Zitiervorschlag
Hans-Joachim Lenz. Rezension vom 11.10.2016 zu:
Anne Kersten: Opferstatus und Geschlecht. Entwicklung und Umsetzung der Opferhilfe in der Schweiz. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG
(Zürich) 2015.
ISBN 978-3-03777-154-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18393.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.
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