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Suitbert Cechura: Inklusion: Die Gleichbehandlung Ungleicher

Rezensiert von Prof. Dr. Jutta Hagen, 21.05.2015

Cover Suitbert Cechura: Inklusion: Die Gleichbehandlung Ungleicher ISBN 978-3-95645-479-0

Suitbert Cechura: Inklusion: Die Gleichbehandlung Ungleicher. Monsenstein und Vannerdat (Münster) 2015. ISBN 978-3-95645-479-0.
Edition Octopus.

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Thema

Mit diesem Buch mischt sich Suitbert Cechura aus kapitalismuskritischer Perspektive in den aktuellen Diskurs zu Inklusion ein. Seine zentrale Position: „Behindert-Sein ist keine Eigenschaft, die sich aus der körperlichen Beschaffenheit eines Menschen ergibt, sondern steht immer in einem Verhältnis zu den Lebensumständen“ (43). Cechura zeigt daher auf, was es in kapitalistischen Lebensumständen für Menschen mit Behinderung bedeutet, inkludiert zu werden in die schulische und ökonomische Konkurrenz. Dabei kommt es dem Autor darauf an nachzuweisen, dass Inklusion nicht etwa, wie idealistische Protagonisten des aktuellen Diskurses meinen, zu gesellschaftlichem Umdenken und einer Verbesserung der Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung führe, sondern umgekehrt die sozialpolitische Zuweisung von mehr Autonomie behinderungsbedingte Probleme manifestiere.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst 226 Seiten, incl. Literatur. Es ist in insgesamt sieben Kapitel gegliedert.

Nach einer kurzen Einleitung folgt als zweites Kapitel eine sehr kurze Befassung mit „Integrations- und Inklusionsidealismus“. Im dritten Kapitel wird die UN-Behindertenrechtskonvention besprochen, im vierten Teil des Buches wird ein geschichtlicher Abriss: „Von der Krüppelfürsorge zur Inklusion“ vorgenommen, und im umfangreichsten fünften Kapitel wird erläutert, was „Teilhabe an der kapitalistischen Konkurrenz“ für Menschen mit Behinderung bedeutet. Im sechsten Kapitel werden Aspekte der „Begleitung der Reformen durch Staat und Öffentlichkeit“ analysiert und im siebten Kapitel folgt ein zusammenfassendes Resümee. Cechura macht immer wieder Zwischenfazits, nicht nach jedem Kapitel, aber nach dem dritten, während des vierten Kapitels dreimal und am Ende des fünften nochmals. Es werden einige umfangreiche, teilweise mehrseitige Stellungnahmen u.ä.m. aufgenommen.

Zu Beginn bebildert Cechura den Integrations- und Inklusionsidealismus anhand einer gängigen Grafik, die (gelungene) Inklusion als Ansammlung aller (Brettspielfiguren) in einem ausgebeulten – sinnbildlich für verändertem – Ganzen zeigt. Diese abstrakte Vorstellung von Gemeinschaftlichkeit konfrontiert Cechura mit der Gegensätzlichkeit von Interessen in der kapitalistischen Konkurrenz, die das Mit- bzw. Gegeneinander in der Gesellschaft bestimme und für Menschen mit Behinderung wesentlich die Rolle als „Objekt staatlicher Maßnahmen“ (13) bereithalte.

Im dritten Kapitel zeigt Cechura, dass Menschen mit Behinderung mit der Umsetzung der UN-Menschenrechtskonvention ein fragwürdiger Segen zuteilwerde. Dies begründet er mit der Infragestellung der Konstruktion von Menschenrechten als dem Menschen naturhaft anhaftend, indem er aufzeigt, dass sie Akt staatlicher Zuschreibung von Eigentums- als Freiheitsrechten darstellten, wobei die Nutzung von Freiheitsrechten „maßgeblich davon ab(hinge), über welche Mittel man im Kampf um Geld verfügt“ (22). Für die allermeisten, die nur über ihre Arbeitskraft verfügten, wozu Menschen mit Behinderung im Prinzip auch gehörten – nur mit durchschnittlich schlechtem Marktangebot - stelle sich das als zweifelhaftes Recht heraus.

Der geschichtliche Abriss „Von der Krüppelbewegung zur Inklusion“ handelt von Gründen der Ausgrenzung und Sonderbehandlung von Menschen mit Behinderung. Dabei werden die geschichtlichen Epochen aufgenommen von vorkapitalistischen Verhältnissen über den aufkommenden Kapitalismus, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, der Wiederaufbau, Wirtschaftswunderdeutschland, Wiedervereinigung und schließlich die Agenda 2010 mit den Hartz-Reformen. Ein Unterpunkt beschäftigt sich außerdem mit „Geschädigtenförderung und Rehabilitation im Arbeiter- und Bauernstaat“ (64 ff). Cechura zeichnet in diesem Kapitel nach, welche staatlichen Kalkulationen der Sonder- und schließlich eben auch zunehmenden Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung zugrunde lagen und aktuell liegen. Für die neuere Entwicklung benennt er dabei als herausragenden Gesichtspunkt die Umwandlung von Sozialleistungen in soziale Dienstleistungen. Diese habe bereits vor den Hartz-Gesetzen begonnen mit der Aufkündigung des Selbstkostenerstattungsprinzips und der Einführung von Ausschreibungen und Umwandlung von Sozialleistungen in Geschäftsmittel. Die Konkurrenz der Leistungsanbieter erfolge seitdem über die Senkung der Löhne der Beschäftigen, zugleich würden alle von Sozialleistungen Abhängige strenger auf Arbeitsfähigkeit und damit der Möglichkeit selbständiger Lebensführung hin begutachtet. Gefordert seien Menschen mit Behinderung in den Rollen als Kunden und Arbeitnehmer.

Dazu erläutert Cechura im fünften Kapitel verschiedene gesetzliche Bestimmungen zum Nachteilsausgleich bzw. zur Teilhabeermöglichung. Hier werden die Regelungen zur Inklusion an Schulen besonders ausführlich beurteilt sowie aktuelle Finanzierungsformen wie das persönliche Budget, sozialräumliche Unterstützungssysteme und Neuregelungen bei der gesetzlichen Betreuung. Cechura schlussfolgert erneut: „Sie (die Menschen mit Behinderung) werden zu wirtschaftlich selbstverantwortlichen Menschen, die ihr Leben selber gestalten sollen, und Unterstützung wird nur dort bewilligt, wo dies zur Existenzsicherung unbedingt notwendig erscheint“ (163). Während die vorherrschende idealistische Perspektive auf Inklusion immerfort eine mangelhafte Realisierung des Teilhabeideals monieren würde, sei realistisch zur Kenntnis zu nehmen, dass das Ideal nichts anderes verheiße als ein autonom zu bewältigendes „Leben in Armut“ (163).

Das sechste Kapitel beginnt mit an ausführlichen Zitaten aufgezeigten Klarstellungen dazu, wie wenig die Regierung mit der Behindertenrechtskonvention das Wohl der Betroffenen im Auge habe und wie eindeutig es ihr auf die fiskalisch motivierte Zielsetzung: „Selbstverantwortung und Unabhängigkeit von staatlicher Hilfe“ (179) ankomme, während in der Wissenschaft Inklusion nicht in seiner Faktizität, sondern als Wert behandelt würde. Entweder werde Inklusion abgehoben als „Paradigmenwechsel“ (180 ff) oder mehr oder weniger hoffnungsfroh als verbesserungswürdig (184 ff) besprochen. So oder so würden der Regierung gute Absichten unterstellt, die nicht vorhanden seien, weil die Existenz der Gesellschaft „vom Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft abhängig gemacht“ (188) sei und der Unterhalt Bedürftiger dabei nicht lohnende Kost sei, die es zu begrenzen gälte. Die anschließend behandelten mit der Ökonomisierung des Sozialsektors zu marktwirtschaftlich kalkulierenden Dienstleistern (194 ff) reformierten Wohlfahrtsverbände seien ihrerseits ökonomisch Interessierte – und daher für Menschen mit Behinderung unzuverlässige – Fürsprecher.

Aufgrund ihrer schwachen gesellschaftspolitischen Position kann Cechura in seinem Fazit Menschen mit Behinderungen nur vor falschen Freunden warnen und ihnen empfehlen, sich wenigstens nicht für Wahlkampfkulissen herzugeben, vor der Politiker beteuern könnten, wie sehr ihnen das Schicksal dieser Menschen am Herzen läge.

Diskussion

Cechura leistet mit diesem Buch einen ungewöhnlichen Beitrag zur Beurteilung von Inklusion, weil er eine radikal materialistische Perspektive einnimmt und die Auswirkungen von Inklusion in den harten Realitäten in Schule, auf dem Arbeitsmarkt und in Freizeit und Familie aufzeigt. Sein Beweiszweck zieht sich als roter Faden durch alle Kapitel: Der Kapitalismus tut auch Menschen mit Behinderung nicht gut, weshalb Inklusion in diese Gesellschaft kein positiver Zweck sein kann.

Fazit

Dem oft eher abgehoben geführten aktuellen Inklusionsdiskurs kann die Befassung mit dieser Außenseiterposition gut tun. Sich dieser radikalen Kritik zu stellen, verspricht eine spannende Auseinandersetzung.

Rezension von
Prof. Dr. Jutta Hagen
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Es gibt 3 Rezensionen von Jutta Hagen.

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ISSN 2190-9245