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Bernd Rieken (Hrsg.): Wie bewältigt man das Unfassbare?

Rezensiert von PD Dr. Christiane Wempe, 25.09.2015

Cover Bernd Rieken (Hrsg.): Wie bewältigt man das Unfassbare? ISBN 978-3-8309-3214-7

Bernd Rieken (Hrsg.): Wie bewältigt man das Unfassbare? Interdisziplinäre Zugänge am Beispiel der Lawinenkatastrophe von Galtür. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2015. 189 Seiten. ISBN 978-3-8309-3214-7. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.

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Entstehungshintergrund

Bei dem Buch handelt es sich um ein Herausgeberwerk, welches überwiegend Beiträge von ehemaligen Dissertanten des Doktoratsstudiums der Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien enthält.

Thema

Der Herausgeber, Bernd Rieken, hat sich einem anspruchsvollen Thema gewidmet: wie haben die Einwohner von Galtür das Lawinenunglück im Jahre 1999 verkraftet? Ein solches Unterfangen gestaltet sich unter ethischen Gesichtspunkten oft nicht einfach, weil es für die Betroffenen um emotional sehr aufwühlende Erlebnisse geht. Aus diesem Grund wurden die Interviews erst 2008, also neun Jahre nach dem Unglück, durchgeführt. Basis des Buches bilden drei Interviews mit Überlebenden des Unglücks, die sich im Anhang des Buches befinden.

Aufbau und ausgewählte Inhalt

Die Einleitung fällt mit nicht einmal zwei Seiten sehr kurz aus, so dass viele Fragen offen bleiben. Eine Zielgruppe wird nicht benannt, was besonders angesichts des hier vorgestellten breiten Spektrums an Perspektiven sinnvoll gewesen wäre. Auch die genaue Zielsetzung erschließt sich dem Leser nicht unmittelbar. Die Formulierung „…möglichst vielschichtig und detailliert den Verarbeitungsprozess der Katastrophe zu beleuchten“ (S. 7) bleibt recht vage.

Das Besondere des Buches, nämlich der interdisziplinäre Ansatz, erschließt sich dem Leser hier nicht. Dies genau ist aber das eigentlich Spannende: neben psychologischen werden auch andere Fachrichtungen einbezogen. Daher beinhaltet das Buch zwei Teile:

  1. psychotherapiewissenschaftliche Perspektiven mit Beiträgen zu einzelnen psychotherapeutischen Schulen (Kognitiv-behavioraler Ansatz, Existenzanalyse, personenzentrierte Psychotherapie, Psychoanalyse und Analytische Psychologie), sowie
  2. geisteswissenschaftliche Perspektiven (Ethnologie, Anthropologie, Erzählforschung).

Nachfolgend werde ich mich auf den ersten Teil konzentrieren. Der Aufbau der psychotherapeutischen Kapitel folgt – mehr oder weniger stringent – einem einheitlichen Schema, nämlich

  • theoretische Einführung,
  • Analyse der Interviews und
  • abschließendes Fazit.

Exemplarisch werden die kognitiv-behaviorale und personenzentrierte Sichtweisen hier genauer betrachtet, die anderen werden nur gestreift.

Im ersten Kapitel beleuchten Redecker und Weimar die Interviews aus der Sicht des kognitiv-behavioralen Ansatzes. Der Ansatz wird einleitend angedacht, mit dem Hinweis auf die Bedeutung subjektiver Denkmuster für das Erleben und Bewältigen kritischer Lebensereignisse. Weitere Ausführungen wären hier für den nicht kundigen Leser wünschenswert gewesen. Einzelne namhafte Autoren (z.B. Ellis, Lazarus) werden erwähnt, andere (z.B. Beck) stehen zwar in der Literaturliste, tauchen jedoch gar nicht im Text auf. Das Erleben und die Bewältigung werden herausgearbeitet: Beispielsweise berufe sich der erste Interviewpartner auf seinen Glauben und findet Trost in der Natur, die zweite neige durch ihren Wegzug eher zu Vermeidung. Abschließend werden Gemeinsamkeiten aufgezeigt, z. B. dass das narrative Vorgehen und die Einbettung in die kollektive Trauer sich als hilfreiche Bewältigungsstrategien erwiesen haben. Die Gefahr dysfunktionales Denkmuster für eine problematische Verarbeitung wird verdeutlicht.

Das dritte Kapitel, in welchem Topaloglou und Tschugguel die Verarbeitung des Lawinenunglücks aus personenzentrierter Sicht vorstellen, ist als sehr gelungen zu bezeichnen. Der Aufbau ist stringent und bietet dem Leser eine gute Orientierung. Zunächst wird der personenzentrierte Ansatz skizziert und auf die Erlebnisverarbeitung einer solchen Katastrophe bezogen. Ebenso wird der Traumabegriff genauer erläutert, was auch schon in der Einleitung wünschenswert gewesen wäre. Die Krisenreaktion gilt vor diesem theoretischen Hintergrund als „Prototyp des Erlebens von Inkongruenz“ (S. 40). Vertreter des personenzentrierten Ansatzes betrachten die subjektive Bedeutungszuschreibung und Einbindung der Erfahrung in das Selbstkonzept als Schlüsselelemente der Bewältigung. Es folgen Abschnitte zu den drei Interviews, die ebenfalls einer einheitlichen Struktur (Selbstkonzept, Interpretation und Bewältigung) folgen, die das Kapitel sehr anschaulich und verständlichen machen. Im letzten Abschnitt werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede beschrieben. Dabei wird auch auf die mangelnde Vergleichbarkeit der drei Schicksale hingewiesen, ebenfalls ein Punkt, der gut in die Einleitung oder ein Fazit passen würde. Die identifizierten Bewältigungsmuster orientieren sich an den drei Hauptwirkfaktoren für das Gelingen therapeutischer Beziehungen: Anerkennen, Verstehen und Begegnen. Auch positive Entwicklungsmöglichkeiten nach einer Krise werden erwähnt, wie z. B. die Integration der einen Betroffenen in die Dorfgemeinschaft nach der Katastrophe.

Die nächsten beiden Kapitel sind dem psychoanalytischem Ansatz und der Analytischen Psychologie gewidmet. Positiv hervorzuheben ist, dass Thomas Barth, Autor des vierten Kapitels, psychoanalytische und salutogenetische Aspekte in seiner Betrachtung kombiniert.

Ähnlich nehmen auch die Autoren des fünften Kapitels, Huber-Mairhofer und Url, eine ressourcenorientierte Sicht ein: „… wie jeder Einzelne sein Schicksal zu meistern suchte“ (S. 77). Auch der Begriff „Bewältigung“ wird von ihnen definiert, was eigentlich bereits in die Einleitung gehören würde. Als neues Konzept wird hier die Selbstwirksamkeit – ein zentraler Schlüsselfaktor der Resilienz - eingeführt.

In dem Kapitel zur ethnologischen Perspektive erfolgt die genaue und kritische Analyse der Interviewsituation, die erstaunlicherweise in den psychologischen Kapiteln kaum Beachtung erfährt. Ausführlich schildert der Herausgeber selbst schließlich seinen eigenen Ansatz, den der Erzählforschung, der neue Aspekte in die Betrachtung hineinbringt: welche Elemente von anderen Erzählformen (z. B. Sagen, Märchen, Witz) spiegeln sich in den Aussagen der Interviewpartner wider? Sein professioneller Hintergrund, die Psychoanalyse, fließt hier an vielen Stellen mit ein.

Das Buch endet abrupt mit dem letzten Kapitel der geisteswissenschaftlichen Perspektiven, in dem Gerhard Burda anthropologische Konstanten der Interviews schildert. Ein abschließendes Kapitel, in dem ein Fazit durch den Herausgeber gezogen wird, fehlt leider. Zur Abrundung des Werkes hätten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der unterschiedlichen Betrachtungsweisen herausgestellt und verdeutlich werden können. Dies gilt beispielsweise für die deutlich abweichenden Einschätzungen der Autoren, inwieweit die Betroffenen das Unglück verarbeitet haben und als wie hilfreich ihre Bewältigungsstrategien beurteilt werden. Eine kritische Würdigung des Vorgehens fehlt ebenfalls. Der Autor der ethnologischen Perspektive, Michael Simon, schildert seine Schwierigkeiten, Aussagen auf Basis der verschriftlichten Interviews zu treffen, da ethnologisches Denken „ … nach mehr als bloßen Textinformationen verlangt“ (S. 95). Erstaunlich ist, dass dieser Punkt von den Vertretern der psychologischen Ansätze kaum angesprochen wird.

Diskussion

Eine kurze Einführung zu den Interviews wäre hilfreich gewesen, weil sich die Ausführungen in den einzelnen Kapiteln immer wiederholen.

Die Auswahl der Interviewpartner wird damit begründet, dass diese „markant“ seien. Damit ist wohl gemeint, dass sie typische Schicksale in dieser Situation widerspiegeln: zwei Interviewte haben schwere persönliche Verluste erlitten, einer ist selbst nur knapp dem Tod entronnen.

Das Alter der Interviewten – und damit auch ihre Lebenssituationen – variiert erheblich, so dass diese nur bedingt vergleichbar sind. Auf diese Probleme wird von einigen Autoren auch hingewiesen.

Kritisch anzumerken ist, dass der Interviewer teilweise (besonders im zweiten Interview) wertende Äußerungen macht, z. B. „… das ist ja eigentlich ganz normal dann“ (S. 155) oder Diagnosen stellt, z. B.: „Weil das ist eine Belastungsreaktion“ (S. 166).

Insbesondere der Vertreter des ethnologischen Ansatzes, Michael Simon, setzt sich intensiv und kritisch mit der Kommunikationssituation zwischen Interviewer und Betroffenen auseinander. So bemängelt er beispielsweise eine mögliche Verfälschung dadurch, dass das dritte Interview nicht mit dem Betroffenen allein, sondern zusammen mit seiner Frau geführt wurde. Außerdem hinterfragt er das Vorgehen des Interviewers: „Offenkundig hat der Interviewer Schwierigkeiten damit, seine sonst praktizierte Therapeutenrolle in der Erhebungssituation abzulegen …“ (S. 98).

Fazit

Insgesamt ist das Buch als interessanter Ansatz zu bewerten, die individuelle Verarbeitung eines schwerwiegenden Lebensereignisses durch drei betroffene Menschen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Die einzelnen Kapitel erweitern den Horizont der Leserschaft für unterschiedliche Herangehensweisen und liefern so Anregungen, sich intensiver mit der Thematik aus verschiedenen, auch nicht-psychologischen Blickwinkeln auseinanderzusetzen.

Rezension von
PD Dr. Christiane Wempe
Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in eigener Praxis in Ludwigshafen, Dozentin und Supervisorin.
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Es gibt 5 Rezensionen von Christiane Wempe.

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ISSN 2190-9245