Christopher Capozziello, Lois Lammerhuber (Hrsg.): THE DISTANCE BETWEEN US
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 03.03.2015
Christopher Capozziello, Lois Lammerhuber (Hrsg.): THE DISTANCE BETWEEN US. Edition Lammerhuber (Baden) 2013. 208 Seiten. ISBN 978-3-901753-61-9. D: 59,00 EUR, A: 59,00 EUR, CH: 76,00 sFr.
Thema
„Als Nick, mein Zwillingsbruder, geboren wurde, atmete er nicht. Sobald das die Doktoren verstanden hatten, brachten sie ihn schnell fort und taten das, was Doktoren tun, um ihn zum Atmen zu bringen. Sechs Monate später stellte unser Pädiater, Dr. Gulash, fest, dass ich mich normal entwickelte und meine Meilensteine – den Kopf zu heben, herumzurollen, aufzusitzen, und zu den Sachen hin zu krabbeln – zur rechten Zeit erreichte. Aber Nick erreichte diese Wegmarkierungen zwei Monate nach mir. Dr. Gulash befürchtete, dass etwas schief lief und so begann er Tests durchzuführen. Nach unserem 2. Geburtstag, stellte der Doktor die Diagnose: Nick hat cerebrale Lähmung. Aber Mutter und Vater blieben nach alldem skeptisch, unsere Unterschiede schienen unbedeutend zu sein. Es war so bis wir drei waren, als Mutter merkte, dass etwas wirklich schief lief. Nick saß auf dem Wohnzimmerboden und schaute fern, sein Arm aber war steil in die Luft gestreckt, als ob er darauf wartete, hochgezogen zu werden. ‚Nicklas, warum sitzt du hier mit ausgestrecktem Arm?‘ ‚Er ist grad hochgeschossen, Mami.‘ ‚Kannst du ihn runtermachen?‘ Er stand auf, während er noch fern sah und drückte den rechten Arm mit seiner linken Hand runter. Das war der Moment, als unsere Eltern begriffen, dass etwas dran war an der Diagnose unseres Pädiaters – dass etwas sehr verschieden war zwischen meinem Bruder und mir.“ So (siehe Klappentext vorn) beginnt der 1980 geborene, international renommierte, freiberuflich tätige Fotojournalist Christopher Capozziello sein erstes Fotobuch, das er seinem Zwillingsbruder Nick gewidmet hat. Ebenso wie bei seinen anderen „Nichtauftragsarbeiten“ lädt der Autor den Betrachter und Leser ein, sich auf persönliche Geschichten einzulassen, um verschiedene Facetten des Lebens verstehen zu können.
Im Vorwort schreibt Christopher Capozziello davon, dass er Antworten und Erklärungen dafür sucht, „warum einige leiden und andere nicht, warum es einigen besser geht und anderen schlechter“, ob das Ganze „…ein Schicksal ist, oder eine Chance, oder einfach Pech?“ Er möchte, dass der Betrachter und Leser seinem Bruder begegnet. Er habe begonnen, ihn fotografisch zu zeichnen, solange er Bilder mache. Die Zeit, die er mit ihm verbracht habe, indem er durch seine Kamera sah, habe ihn dazu gebracht, Fragen zu stellen über das Leiden und den Glauben und warum jemand mit einer Körperbehinderung geboren wird. Denn: Nick habe eine cerebrale Lähmung (cerebral palsy) und das Bildermachen „…war ein Weg für mich, mich mit der Realität zu befassen, einen Zwillingsbruder zu haben, der sich auf Wegen durchs Leben kämpft, wie ich das nicht tue.“ (S.13)
Aufbau und Inhalt
In der DISTANZ ZWISCHEN UNS, richtet Christopher Capozziello seine Kamera auf sein eigenes Leben, konfrontiert sich mit dem bohrenden Schmerz, einen körperbehinderten Bruder zu haben, doch allmählich und zum Ende hin ganz offensichtlich gelingt es ihm, den „Jammer“ zu überwinden und seinen Bruder als einen Menschen zu sehen, der mehr ist als jemand, der sein ganzes Leben gegen sein Unvermögen ankämpft.
Dieser Weg der Annahme und Bewältigung der erschwerten Situation vollzieht sich in Etappen. Im 1. Teil begleitet und zeigt der Fotograf/Autor dem Betrachter und Leser seinen Bruder bei den Mühen des Alltags, im alltäglichen Kampf gegen das Beherrschtwerden durch das Krampfgeschehen: „Cerebral palsy ist weniger ein definierter Zustand als eine Ansammlung von Symptomen, ein schockierender Nachhall einer Explosion, die niemand hören kann“ (S. 38/39). Und immer ist die Kamera zwischen ihnen, ertönt das Klick, Klick, Klick des Auslösers. Die Kamera ist auch dabei, als der Versuch unternommen wird, Nick einen Hirnschrittmacher einzusetzen, doch nach anfänglichen Erfolgen kehren die (z.T athetotischen) Krampfmuster zurück und das sogar in verstärkter Form.
Der eindringliche, fast suggestive Text leistet mehr, als die gleichzeitig oder danach präsentierten Fotos zu „kommentieren“. Der Text ist Sehhilfe und mehr. Er erklärt nicht so sehr, als dass er die Begegnung mit Nick, dem Bruder des Autors, ermöglicht, so wie ihn Christopher, der „Normalo“ sieht. Und dabei erinnert Christopher Begebenheiten von verstörender Poesie – wie im Orange Ale House, einer kleinen Bar, nicht weit entfernt von der Autobahn. „Nick geht dorthin wegen der Karaoke. An diesem Freitagabend kam eine schöne Frau auf ihn zu, nachdem er seinen Song beendet hatte und ergriff seine Hände. ‚Mir gefällt ein Mann mit Cowboy Hut‘, sagte sie, ‚aber wo sind deine Stiefel?‘ Ich sah, wie er mir einen eher schüchtern verstohlenen Blick zuwarf, obwohl sein Gesicht ein breites Grinsen zeigte. Ich bin nur ein paar Schritte entfernt, kann nur wenig von ihrer Konversation mitbekommen. Ich scanne den Raum, scanne dann die beiden. Ich weiß, was Nick möchte- ich kann es in meinem Geiste hören: Mach das verdammte Bild! Aber ich kann nicht. Ich kann nicht diesen normalen und extrem faszinierenden Moment in seinem Leben ruinieren. Ich möchte nicht, dass sie von der Kamera aufgescheucht und verjagt wird, so bleibe ich, wo ich bin“ (S. 65).
Und immer wieder sucht Christopher Capozziello nach einer zutreffenden Antwort auf die Frage nach dem „warum“ der Differenz und Distanz zwischen sich und seinem Zwillingsbruder. Hat er, der Minuten früher zur Welt gekommene Zwilling A mit seinem Vorwärtsdrängen dem Zwilling B Schaden zugefügt? Hat er ihm etwa nicht genug Platz gelassen in der Gebärmutter? Aber vielleicht reicht auch sein Gottvertrauen nicht aus, um diesen so gleichgültigen Gott zu einer Heilung des Zwillingsbruders veranlassen zu können (vgl. S. 55)?
Doch dieses verzweifelte Fragen endet in dem Versprechen, dass er dem Großvater am Sterbebett gab, nämlich sich um seinen Zwillingsbruder zu kümmern, wenn es die Eltern nicht mehr können (vgl. S. 143). Und dieses, sein Versprechen erneuert er nach dem Tode des Großvaters: „Der militärische Salut zu Großvaters Ehren … stand eine Weile in der Luft, bis er verhallte. Großvater war gegangen; ich hatte bereits lange vor unserem Gespräch ganz privat meine Verantwortung für Nick akzeptiert. Mit diesen Gewehrschüssen, wurde mein dem Großvater gegebenes Versprechen noch realer und bestimmter. Der Wechsel der Generationen wirft immer Fragen auf und zwar mehr, als diese sich durcharbeiten lassen. Ich habe zwar immer noch viele Fragen, mit denen ich mein ganzes Leben gerungen habe, aber ich sehe klarer denn je, dass es auf diese nicht immer die passenden Antworten gibt. Da sind Dinge, mehr als mir lieb sind, die sich in ihrer eigenen Richtung bewegen…ich weiß nicht wie die Zukunft aussehen wird, aber bald wird es an uns liegen, das herauszufinden“ (S. 145).
Der 2. Teil: „…was kommt als nächstes?“ schildert, wie sich Christopher und Nick eine dreiwöchige Auszeit nehmen und auf einen Roadtrip quer durch die Staaten machen.
Er beginnt so: „Mein Bruder und ich gehen auf den Höhen des Grand Canyon entlang. Nach ein paar Minuten stößt Nick einen kleinen Gesteinsbrocken an und lässt ihn hinunter purzeln. Wir spitzen unsere Ohren und warten auf den Aufschlag, aber alles, was wir ausmachen können, ist der zischende Wind um unsere Ohren. Einige Monate zuvor hatte ich die Idee, Nick auf den großen Road Trip quer durchs Land mitzunehmen, runter in den Süden und dann in den Westen, zu Plätzen an denen ich gearbeitet und die ich geliebt hatte und die er noch nie gesehen hatte, Plätze die wir gemeinsam erleben könnten. Es wäre das erste Mal, dass wir so etwas Grundsätzliches allein gemacht hätten… Langsam erwärmte sich mein Bruder für die Idee. Und im Angesicht des Grand Canyon, zurück am Auto, sagte er: ‚Es war atemberaubend.‘“ Viele beeindruckende Bilder entstehen auf diesem Trip und zeigen Nick/die beiden Brüder in ganz entspannter Atmosphäre (vgl. etwa S. 164/165).
Der 3. Teil hingegen zeigt „Nicks Roadtrip“, dessen Bilder und Kommentare.
„Chris hatte mir vorgeschlagen, auf einen Roadtrip mit ihm zu gehen. Ich war so aufgeregt und konnte es einfach nicht abwarten! Als wir los waren, machte ich eine Menge Bilder, um zu beweisen, wie alles war… Ich machte mehr als 1 800 Fotos während der Reise. Ich nehme an, das sind mehr, als Chris geschossen hat! Ich machte sie so, wie ich eben konnte, aus dem Gefühl heraus, den Moment einfangend. Ich denke, so war es. Ich fing die Bilder mit meinem iPod ein, weil der kleiner und bequemer ist als eine gewöhnliche Kamera…
Als wir in Colorado stoppten, aßen wir ein Hühnchen- Teil- A. Wir haben solche nicht in Connecticut, so dass es das erste war, das ich probierte. Dieses Paar da stand im Vordergrund und die Frau trug eine Pistole am Körper. Ich musste das Bild einfach machen. Chris sagte, dieses Bild sei besser, als seins getroffen. Das Lob machte mir ein gutes Gefühl, weil es von einem Fotografen kam und so (S. 188f.).“
Mit dem Teil 3 wird Nicholas Capozziello vom Objekt, vom „Fotomodell“ zum fotografierenden und sprechenden Subjekt des Geschehens, zum „Experten in eigener Sache.“ Er wird seinem Bruder zu einem Verschiedenen, ohne dabei „andersartig“ zu sein.
Diskussion
Will man einen fachlichen Rahmen finden, in den sich der vorliegende Bildband „einbetten“ lässt, so ist dies wohl der Kontext narrativer Heilpädagogik, genauer: der Innenperspektiven auf Exklusion und Inklusion. Angehörige von Betroffenen schildern auf mitunter sehr künstlerisch und literarisch anspruchsvolle Weise, wie es ihnen gelang, die durch Beeinträchtigung erschwerte Situation zu akzeptieren, „menschliche Vielfalt anzunehmen und zu bewältigen“. Auf diesem steinigen leidvollen Weg machen sie vielfältige Erfahrungen des Missverstandenwerdens, der Ausgrenzung und Stigmatisierung, aber schließlich auch der Erkenntnis dessen, dass Unvermögen und Schwäche Starke bedeuten können und zudem eine Bereicherung des Lebens aller. Künstlerischer Ausdruck, in welcher Form auch immer, lässt sich wohl mit einer gewissen Berechtigung als „Zone der nächsten Entwicklung der Wissenschaft“ bezeichnen, weil er zum mimentischen, empathischen Nachempfinden dessen einlädt, was Menschen in ihrer Verschiedenheit erlebt, durchlitten und erfahren haben.
Zielgruppen
Von Behinderung direkt und mittelbar Betroffene als kompetente Gesprächs- und Kooperationspartner, Studierende und Lehrende vor allem human- und sozialwissenschaftlicher Fakultäten, alle am gelingenden Miteinander von Menschen „unterschiedlicher Ausprägung“ Interessierte.
Fazit
Eine faszinierende Coping- und Empowermentgeschichte, sehens- und lesenswert.
Ergänzende Literatur
- Adriano Ferrari, Giovanni Cioni (Hrsg.), 1998, Infantile Zerebralparese. Spontaner Verlauf und Orientierungshilfen für die Rehabilitation. Springer, Berlin. Heidelberg. New York
- Gruntz- Stoll, Johannes, Erzählte Behinderung. Grundlagen und Beispiele narrativer Heilpädagogik. Haupt, Bern. Stuttgart. Wien.
- Jödecke, Manfred, Expert/innen in eigener Sache als Katalysator „Inklusiver Studien“
- - ein Erfahrungsbericht. In: Simone Seitz, Nina- Kathrin Finnern, Natascha Korff, Katja Scheidt (Hrsg.), 2012, Inklusiv gleich gerecht? Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. S.247-253
- Krauthausen, Raul Aguayo, 2014, Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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Zitiervorschlag
Manfred Jödecke. Rezension vom 03.03.2015 zu:
Christopher Capozziello, Lois Lammerhuber (Hrsg.): THE DISTANCE BETWEEN US. Edition Lammerhuber
(Baden) 2013.
ISBN 978-3-901753-61-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18409.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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