Johannes Merkel: Sprachbildung im Kindergarten
Rezensiert von ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter, 04.08.2015
Johannes Merkel: Sprachbildung im Kindergarten. SCHUBI Lernmedien (Braunschweig) 2014. 176 Seiten. ISBN 978-3-86723-540-2. D: 24,90 EUR, A: 24,90 EUR, CH: 33,60 sFr.
Thema
Das Buch ist als Handbuch des Schweizer Schubi-Lernmedienverlags erschienen und richtet sich damit als praktisch orientierte Einführung und Anleitung offensichtlich an KindergärtnerInnen, ErzieherInnen und/oder Eltern.
Als Zielgruppe werden die 3-6 Jährigen angegeben.
Aufbau und Inhalt
Das Buch beginnt statt mit einem Vorwort mit einem „Einstieg“. Hier wie in allen anderen Kapiteln sind die (Teil-)Überschriften aus Alltagfragen oder -Äußerungen („Wo soll das hinführen?“ oder „Ich kann doch schon sprechen“), pädagogischen Anforderungen („Kinder abholen, wo sie stehen“), beschreibenden Feststellungen („Sprechen bringt weiter“) u.ä. als erstem und der eigentlichen Inhaltsangabe („Wie sich Kinder Sprache aneignen“, „Methoden sprachlicher Bildung“) zusammengesetzt.
Der Einstieg setzt sich anhand der Frage „Warum schon im Kindergarten und warum ‚sprachliche Bildung‘?“ mit der grundlegenden Bedeutung einer guten Sprachkompetenz auseinander, deren Erwerb möglichst früh erfolgen soll. Als Begründung für den steigenden Bedarf nach solcher sprachlicher Bildung im Kindergarten nennt der Autor einerseits die erhöhte Zahl muttersprachlich deutscher Kinder mit unvollständiger altersgemäßer Sprachentwicklung, andererseits die hohe Zahl von Migrantenkindern mit einer anderen Muttersprache als Deutsch. „Sprachliche Bildung“ hat der Autor anstatt „Sprachförderung“ gewählt, um zu betonen, dass es zentral um die sprachliche Eigenentwicklung („Selbstbildung“) aus einer globalen Sicht, mit vielen einzelnen Einflussgrößen und nicht nur um den Ausgleich von Mängeln geht.
Das Buch konzentriert sich trotzdem nach eigener Aussage auf den „Kernbereich“ sprachlicher Kompetenzen, nämlich Aussprache, Wortschatz und grammatische Regeln (S. 11).
Kapitel 1 bietet „Grundwissen zur sprachlichen Bildung“, d.h. eine kurze Einführung in nonverbale und sprachliche Kommunikation und einige ihrer Hauptregeln, sowie in die standarddeutsche Aussprache, Wortarten, Wortbildung und Syntax. Abschnitt 1.3 „Das geheime Lehrbuch – Wie sich Kinder Sprache aneignen“ bietet eine ausführliche Darstellung zum Spracherwerb. Abschnitt 1.4 beschäftigt sich mit dem Deutschlernen von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache.
Kapitel 2 handelt von der Praxis sprachlicher Bildung: Die Kinder sollen dort abgeholt werden, wo sie stehen. Hier werden Ziele und Methoden sprachlicher Bildung diskutiert. Die Fachkräfte in Kindergärten sind nach Meinung des Autors oft nicht ausreichend bezüglich der Sprachstruktur des Deutschen und der kindlichen Sprachentwicklung informiert. Dazu werden praktische Hinweise zu organisatorisch-didaktischen Maßnahmen und zur Feststellung des Sprachstands mittels Testverfahren sowie zur Beobachtung des Sprachverhaltens gegeben. Weiters werden Förderkurse und Sprachtraining hinsichtlich der von ihnen zu erwartenden Ergebnisse vorgestellt.
Dem folgt ein Abschnitt zu „Spracherziehung im alltäglichen Umgang“, d.h. der alltags- und handlungsbezogenen Sprachbildung mit vielen praktischen Hinweisen.
Abschnitt 2.3 wiederholt das Thema der sprachlichen Bildungspraxis im Kontext von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache und ihren sehr unterschiedlichen Deutschkenntnissen zur Zeit des Eintritts in den Kindergarten. Hier empfiehlt der Autor spezielle Kommunikationsstrategien und das Einbeziehen dieser Muttersprachen in den Alltag anhand verschiedener Spiel- bzw. Interaktionsvorschläge, sowie eine geeignete Arbeit mit den Eltern.
Abschnitt 2.4 beschäftigt sich mit spielerischem Sprachlernen in seinen verschiedenen Dimensionen, z.B. den sprachlichen Möglichkeiten in Spielen, Sprache in Formeln, Versen, Gedichten, Liedern, Puppen- und Rollenspiel, Theater, Geschichtenerzählen und dem expliziten Spielen mit Sprache.
Abschnitt 2.5 widmet sich sehr ausführlich dem Erzählen, einem der Arbeitsschwerpunkte des Autors (vgl. etwa Merkels Erzählkabinett: www.stories.uni-bremen.de/), Abschnitt 2.6 ebenso ausführlich der Verwendung von Bilderbüchern und anderen Medien (Hörspiele, Fernsehen) sowie dem Vorlesen; ein kurzer Unterabschnitt der aktiven Medienarbeit im Kindergarten (Tonaufnahmen, Fotografieren).
Abschnitt 2.7 geht auf den „Umgang mit Zeichen und Schrift“ ein und behandelt u.a. das Würzburger Programm zur Förderung der phonologischen Bewusstheit kritisch.
Der Ausblick bietet eine Liste von Fähigkeiten, welche Kinder zum Schuleintritt beherrschen sollten. Nach Meinung des Autors besteht die „Basiskompetenz“ dabei aus der „Bereitschaft und der Fähigkeit zu kommunizieren und der Sprachbeherrschung“ (S. 173).
Der Anhang enthält die „Geschichte vom verlorenen Teddy“, das Literaturverzeichnis und einen Fragebogen zum Sprachstand des Kindes („Hör mir zu!“).
Diskussion
Eine ganz eigenartige Haltung nimmt der Autor zu Dialekten, regionalen oder sozialen Umgangs- und Verkehrssprachen ein (vgl. dazu etwa Jürgen Erich Schmidt & Joachim Herrgen: Sprachdynamik. Eine Einführung in die moderne Regionalsprachenforschung, 2011): „Denn Kinder vereinfachen komplizierte Lautverbindungen, sprechen in ihrer Mundart oder mit Akzenten. Das ist zunächst kein großes Problem und wird sich meist im Umgang mit anderen selbst auflösen.“ (S. 25)
In dieser Äußerung werden Entwicklungsphasen (Vereinfachung), regionale Sprache („Mundart“) und nichtdeutsche Muttersprache („Akzente“) miteinander vermischt und schlicht erklärt, das werde sich schon geben. Sollen hier wirklich alle identitätsstiftenden Varianten des Deutschen der „Hochlautung“ zum Opfer fallen?
Ziemlich eigenartig ist auch, dass die Frage, wie sich Kinder Sprache aneignen, mit folgendem Zitat „beantwortet“ wird: „Bis heute wurde das Geheimnis, wie Kinder ohne didaktische Anleitung das komplizierte Regelwerk Sprache erwerben, nicht geklärt (Jampert, 2002, S. 19)“ (S. 42).
Lieber Autor, das ist eine ziemlich ungute Irreführung, die wohl darauf beruht, dass manche PädagogInnen darunter leiden, dass Kinder auch ohne sie was lernen können und auf der fälschlichen Ineinssetzung komplizierter, unangemessener Modelle von Sprache mit der realen Sprachverwendung selbst. Immerhin widmet der Autor dann dieser geheimnisvollen Entwicklung doch 18 Seiten, welche eine recht gute Darstellung der Entwicklung bieten.
Der Abschnitt „Lernschritte beim Erwerb des Deutschen“ durch Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache ist durch die einseitige Beschreibung der – tatsächlichen und vermeintlichen – Schwierigkeiten, die das Deutsche allen diesen Kindern bietet, etwas entwertet. Warum etwa ausgerechnet Pronomina (Fürwörter), Präpositionen (Verhältniswörter) oder Nebensätze so kompliziert sein sollten, wenn sie doch in den allermeisten anderen Sprachen auch vorkommen, bleibt unklar. Sie unterscheiden sich halt von den Elementen mit gleicher/ähnlicher Funktion in anderen Sprachen. Hier sollte auf die bekannten kontrastiven Darstellungen verschiedener Sprachen im Vergleich zum Deutschen verwiesen werden. Und auch didaktisch wäre die „andere“ Muttersprache interessant und sinnvoll stärker in den Kindergarten einzubringen als vom Autor vorgeschlagen; das würde das Sprachverständnis aller Kinder fördern.
Der Autor verweist an mehreren Stellen des Buchs darauf, wie wichtig eine enge Verbindung von Sprache und nonverbalem Verhalten sei („Alles, was Sie sagen, gleichzeitig verbal wie nonverbal mitteilen“, S. 110). Insbesondere empfiehlt er den Einsatz von sprachbegleitender Gestik („Über die aussagekräftige Gestik wird die Bedeutung des Gehörten andeutungsweise verstanden und allmählich auch ohne Gesten verständlich sein“, S. 110). Es ist schon richtig, wenn die ErzieherInnen aufgefordert werden, auf jede, auch nonverbale Kommunikationsversuche der Kinder zu „antworten“; ebenso ist es richtig, beim Sprechen eine normale gestisch-mimische „Körpersprache“ zu verwenden bzw. durch Zuwendung oder freundliche Reaktion dem Anderen Akzeptanz zu zeigen. Dass aber Gestik über ganz einfache Alltagshandlungen (Zeigegesten; Unterstützung von „kommt bitte her“ u.ä.) hinaus viel für die tatsächliche Verständlichkeit bringt, darf bezweifelt werden (außer man setzt bewusst ikonische Gestik ein, um z.B. bestimmte Tätigkeiten wie Essen oder Zuhören zu zeigen; das müsste vom Autor dann aber auch so eingeführt werden, wie er es z.B. auf S. 140 zum Thema Erzählen macht). Dass nonverbale Kommunikationselemente auch kulturell gebunden sind (vgl. etwa die Arbeiten von Desmond Morris) und eine undifferenzierte Anwendung der eigenen zu beträchtlichen Missverständnissen führen kann, verschweigt der Autor.
Manche Empfehlungen des Autors sind sehr allgemein und bleiben mangels näherer Beischreibung bzw. Beispielen weitgehend unklar. So fordert er von den ErzieherInnen ein „klare und deutliche Körpersprache“, ohne zu sagen, was er damit meint. Bezüglich ihrer Aussprache empfiehlt der Autor den ErzieherInnen, „insbesondere die Endungen von Verben oder Hauptwörtern, die Anpassung des Verbs an das Subjekt (du hörst) oder die Fälle benennen, oder auch die zugehörigen Artikel hörbar aussprechen. Weil dabei häufig schwierige Konsonantenverbindungen auszusprechen sind, werden sie im alltäglichen Umgang oft undeutlich ausgesprochen oder ganz verschluckt. Zweisprachige Kinder hören sie nicht mehr und gewöhnen sich an, sie irgendwie zu umgehen.“ (S. 111). Solche allgemeinen und daher z.T. unüberprüfbaren bzw. falschen Behauptungen bringen ohne konkrete Beispiele gar nichts. Sollen die Kinder eine unnatürliche Aussprache lernen (z.B. das geschriebene „r“ immer als [r] sprechen, obwohl es im Silbenauslaut in vielen Fällen zu [a] vokalisiert wird) oder sollen sie die Gelegenheit haben, die regionale Aussprache des Deutschen so zu erlernen, wie sie nun einmal ist. Was ist gegen eine gute, nicht reduzierte Alltagssprache der Umgebung der Kinder einzuwenden, auch wenn es dort – wie z.B. im Norden manchmal – auch „Ferde“ statt „Pferde“ heißt? Was ist gegen die dunklen [a] des süddeutschen Sprachraums einzuwenden, wenn sich die Kinder durch ihre Verwendung in die regionale Sprachgemeinschaft eingliedern können? Ist Django Asül wirklich ein schlechtes Sprachvorbild? Hier widerspricht sich der Autor manchmal selbst, wenn er z.B. schreibt: „Da Kinder in diesem Alter ihre Aussprache noch gut nach dem Gehör ausrichten können, sprechen sie bald auch fast ohne Akzent…“ (S. 113)
Die Bildungsziele für mehrsprachige Kinder scheinen dem Autor nicht immer klar zu sein: „Im Laufe der Jahre…erweitern sie ihre Deutschkenntnisse… In übersichtlichen Handlungssituationen verstehen sie, jedenfalls ungefähr, was gesagt wird und schaffen es, sich in der neuen Sprache mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln oft recht geschickt auszudrücken.“ (S. 113). Würden wir dieses Bildungsziel auch für deutschsprachige Kinder gegen Ende des Kindergartens formulieren?
Wie manche andere AutorInnen führt auch Merkel das offenbar gerade modische „literale Sprachbewusstsein“ ein, das er – ohne auf die Vielschichtigkeit lebender Sprachen einzugehen (vgl. dazu etwa Ingo Thonhauser: Literale Praxis – Mehrsprachigkeit – Sprachkonzeptualisierung, http://www.germanistik.unibe.ch/SAGG-Zeitschrift/3_06/thonhauser.html) - in Kontrast setzt zur „alltäglichen Verständigung“, die dabei sehr schlecht wegkommt. Ohne weiteres Nachdenken spricht Merkel nämlich allen „mit Sprache vorgestellte Handlungen, die sich nicht in der aktuellen Handlungssituation abspielen, sondern in einer in Sprache und Spiel vorgestellten Welt“ den Charakter der „Alltagssprache“ ab. Damit wird jedes noch so einfache Gespräch über Planung oder „was wäre, wenn“ schon „literal“ oder besäße zumindest entscheidende Element dieser Qualität, was ein Widerspruch zur ursprünglichen Definition von „literal“ ist
Sehr unangenehm ist die schlicht falsche Behauptung des Autors: „Die meisten Kinder beginnen irgendwann nach dem fünften Geburtstag mit sprachlichen Elementen zu spielen“ (S. 171). Das spielerische Austauschen von Lauten zur Erzeugung lustiger „Wörter“ kennen wir schon bei Zweijährigen (vgl. auch das gleichzeitig eintretende Symbolspiel), die Erfindung von Wörtern zumindest bei Dreijährigen.
Dass der Autor sich nicht wirklich mit der Forschung zur kognitiven und sprachlichen Entwicklung von Kindern beschäftigt hat, zeigt die unrichtige Darstellung der Abhängigkeit metasprachlicher Fähigkeiten von der Schriftlichkeit: „Das heißt also, die Bestandteile sprachlicher Äußerungen zu ‚segmentieren‘ und umgekehrt aus den Einzelteilen neue Einheiten zusammenzufügen. Dieser Umgang mit der Sprache kann sich jedoch erst mit der Schriftlichkeit entwickeln. Der gesprochenen Sprache ist wohl anzuhören, dass sie sich aus Silben zusammensetzt, aber eine gehörte Äußerung ist allein vom Hören her kaum in einzelne Wörter aufzutrennen.“ (S. 172).
In der „Schulfähigkeitsliste“ des Ausblicks finden sich einige merkwürdige Feststellungen bzw. Bedingungen; etwa die Feststellung, dass „die Mitteilungsbereitschaft vom Sozialverhalten abhängt“, „die feinmotorische Beherrschung sich auf die Artikulation auswirkt“ (S. 174). Die Mitteilungsbereitschaft ist jedenfalls Teil des Sozialverhaltens eines Menschen; es ist allenfalls von anderen Faktoren, wie erlernten individuellen Verhaltensweisen und den bisherigen Erfahrungen mit Kommunikation abhängig. Die artikulatorische Feinmotorik entwickelt sich – genetisch gesteuert - mit dem Beginn des Lallens viel früher als etwa die manuelle Feinmotorik, deren Beurteilung oft zur Bewertung der Schulfähigkeit gehört, da mit ihr die Schreibfähigkeit zusammenhängt.
Unter den Bedingungen fallen auf:
- „sich nonverbal und spielerisch über Gesten ausdrücken können“
- „beim Sprechen deutlich und verständlich zu artikulieren“
- „in ihren Äußerungen einen treffenden und differenzierten Wortschatz zu gebrauchen“
- „ihre Äußerungen ohne Nachdenken nach den Regeln der Grammatik bilden zu können“ (S. 174)
Zu diesen Bedingungen sagt der Autor: „Kinder, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, und Kinder mit deutscher Muttersprache, die beträchtliche Sprachprobleme haben, werden diese Anforderungen nur zum Teil erfüllen.“ (S. 175). So einfach erscheint dem Pädagogen also die Prognose. Dabei beschreibt die erste Bedingung entweder eine „normale“ Körpersprache, die wir Kindern normalerweise unterstellen, oder der Autor meint damit, dass die Kinder schon seine Arbeiten zur Gestik in der mündlichen Erzählung verinnerlicht hätten und diese praktisch ausüben könnten. Letzteres würde als Bedingung allerdings 98% der Schulanfänger vom Schulbesuch ausschließen, da sie diese umfangreiche Technik im Kindergarten nicht erlernt haben.
Die zweite Bedingung, nämlich sich „deutlich und verständlich zu artikulieren“ räumt dem pädagogischen Beckmessertum große Beurteilungsfreiheit ein, wenn sie nicht wirklich operationalisiert ist. Dasselbe gilt für den „treffenden und differenzierten Wortschatz“. Was sollen so formulierte Bedingungen ohne Beispiele und ohne Literaturverweis den KindergärtnerInnen und den Eltern bringen?
Zur letzten Bedingung müssen wir den Autor fragen, welche Grammatik er meint: die internalisierte Sprachkompetenz des Kindes oder Regelwerke wie den Duden? Jedenfalls steht fest, dass Kinder – wenn sie nicht durch falsche pädagogische Interventionen bereits verhaltensgestört sind – ihre Sätze im Einklang mit ihrer Sprachkompetenz formulieren, ohne über etwas Anderes nachzudenken bzw. nachdenken zu müssen. Das gilt auch für alle anderen Menschen: Sprache funktioniert nun einmal so. Sollten die internalisierten Regeln denen des Duden und anderer ähnlicher Regelwerke widersprechen, besteht für den Pädagogen eine Aus- und Weiterbildungspflicht gegenüber den SchulanfängerInnen, was das Standarddeutsche betrifft, nicht aber ein Recht, dem Kind den Schulbesuch zu verweigern.
Als „Minimalkompetenz“ für die Kindergruppen, welche nach der Prognose des Autors die Bedingungen für den Schuleintritt eher nicht erfüllen werden, findet sich auf S. 175 eine Liste, die hauptsächlich auf Hauptwörter, die Übereinstimmung von Subjekt und Objekt sowie die Satzgliedstellung in den verschiedenen Satztypen orientiert ist. Das sind sehr niedrige Erwartungen, welche das Fremdbild des Autors von diesen Kindern negativ illustrieren.
Der beiliegende, vom Autor selbst stammende Fragebogen enthält aus meiner Sicht viele wenig brauchbare, weil kontextlos gestellte Fragen oder Fragen, die entweder eine unrealistische Verhaltensbeurteilung der Kinder durch ihre Bezugspersonen provozieren oder nur für Kinder mit manifesten kommunikativen oder sprachlichen Problemen in Frage kommen (etwa: „Geht Gesprächen aus dem Weg“, „Wird häufig handgreiflich, statt zu sprechen“, „Hört Erzählungen teilnahmslos zu“, „Äußert sich nie in Gruppengesprächen“).
Aufklärungsbedürftig ist, dass der Verlag nicht darauf hinweist, dass unter dem Titel „Weißt Du was, sprechen macht Spaß“ (Bildungsverlag EINS Troisdorf 2010) eine textlich weitestgehend identische Version des Buchs erschienen ist (vgl. http://files.jugendvolk.at/onlineanhaenge/files/2574.pdf). Diese Version wird vom Verlag unter der Bezeichnung „Sonderauflage des Handbuchs zur ‚Sprachbildung im Kindergarten‘ erweitert um einen Materialanhang mit Sprachspielen, Liedern, Wortschatz- und Grammatikübungen, Spielszenen usw.“ ebenfalls angeboten, ohne auf den Autor und die praktische Identität der Texte hinzuweisen. Das „Handbuch“ wird dagegen beworben mit „Neuauflage von ‚Weißt Du was, sprechen macht Spaß‘“. In der hier vorliegenden Handbuchausgabe (die man unter dem Namen des Autors nicht finden kann) fehlen die Bilder der Version von 2010 sowie das Material zur sprachlichen Bildung in (ca. 30 Seiten). Auf der Homepage des Verlags werden beide Bücher als „geeignet für: 2-5 4-7 Jahre“, das Handbuch in der Druckversion nur für „3-6 Jahre“.
Fazit
Wie bei manchen ähnlichen vorwiegend pädagogisch orientierten Büchern lässt die allgemeine Einführung (hier Kapitel 1, „Grundwissen zur sprachlichen Bildung“) bezüglich einiger Fragestellungen zu wünschen übrig, insbesondere deswegen, weil die internationale Forschung zur kognitiven und sprachlichen Entwicklung nicht berücksichtigt wird und stattdessen eine pädagogisch zwar kinderfreundliche, aber eben nicht aktuelle Beschreibung geboten wird. Der zweite Teil des Buchs (sein Hauptteil), die „Sprachliche Bildung in der Praxis“ bietet hingegen eine Fülle von Anregungen, die viele PraktikerInnen oder Eltern mit Gewinn lesen werden. Negativ fällt hier nur die pauschale Abwertung der Sprachkompetenz von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache und einer nicht klar umrissenen Gruppe mit Deutsch als Muttersprache, die „beträchtliche Sprachprobleme“ aufweisen, auf. Negativ ist auch die Ignoranz des Autors gegenüber Dialekten und Regionalsprachen, die offensichtlich nur als mit Zeitablauf versehene Störfaktoren gegenüber dem Standarddeutschen bewertet werden, was der Sprachrealität des deutschen Sprachraums widerspricht. Dass ein solches Bild ausgerechnet von einem Schweizer Verlag verbreitet wird, der zumindest auf die gleichberechtigte Existenz von Schwyzerdütsch und Standarddeutsch abheben müsste, ist erstaunlich. Bemerkenswert ist auch der Vertrieb zweier textlich weitestgehend identischer Bücher durch den Verlag ohne klare Information für die VerbraucherInnen.
Rezension von
ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Universität Klagenfurt
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Es gibt 80 Rezensionen von Franz Dotter.
Zitiervorschlag
Franz Dotter. Rezension vom 04.08.2015 zu:
Johannes Merkel: Sprachbildung im Kindergarten. SCHUBI Lernmedien
(Braunschweig) 2014.
ISBN 978-3-86723-540-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18413.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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