Reinert Hanswille (Hrsg.): Handbuch systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Rezensiert von Dr. Kirsten Oleimeulen, 29.12.2015

Reinert Hanswille (Hrsg.): Handbuch systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2014. 496 Seiten. ISBN 978-3-525-40195-8. D: 49,99 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 62,90 sFr.
Thema
Von Fachverbänden wird die systemische Therapie als ein psychotherapeutisches Verfahren beschrieben, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen liegt. Dabei werden zusätzlich zu einem oder mehreren Patienten („Indexpatienten“) weitere Mitglieder des für Patienten bedeutsamen sozialen Systems einbezogen. Die Therapie fokussiert auf die Interaktionen zwischen Mitgliedern der Familie oder des Systems und deren weitere soziale Umwelt. Die Systemische Therapie betrachtet wechselseitige intrapsychische (kognitiv-emotive) und biologisch-somatische Prozesse sowie interpersonelle Zusammenhänge von Individuen und Gruppen als wesentliche Aspekte von Systemen. Die Elemente der jeweiligen Systeme und ihre wechselseitigen Beziehungen sind die Grundlage für die Diagnostik und Therapie von psychischen Erkrankungen.
Ein Handbuch ist eine geordnete Zusammenstellung eines Ausschnitts des menschlichen Wissens und kann als Nachschlagewerk dienen. Dabei kann die Anordnung des Wissensstoffs chronologisch oder vor allem nach thematischen Gesichtspunkten vorgenommen werden.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die systematische Gliederung des Werks, die meist in der Form eines Inhaltsverzeichnisses zusätzlich separat als Übersicht geboten wird. Handbücher haben oft einen oder mehrere Herausgeber und zahlreiche Autoren, die für die Verfassung einzelner Kapitel zuständig sind. Es werden oft ganze Fachgebiete dargestellt – somit kann ein Handbuch auch in mehreren Teilen oder Bänden erscheinen. Diese beiden Aspekte unterscheiden Handbücher von Monografien, die zudem in der Regel sehr viel engere Themengebiete behandeln. Handbücher werden in Fachkreisen oft mit einem Kurztitel zitiert.
Herausgeber
Reinert Hanswille, Diplom-Pädagoge, ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Traumatherapeut, Paar- und Familientherapeut, Supervisor, Lehrtherapeut und Lehrsupervisor u. a. bei der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) und EMDR-Therapeut (EMDRIA). Er arbeitet in der Aus- und Weiterbildung von Familien- und Traumatherapeuten und leitet seit 1998 das Institut für Familientherapie, Systemische Supervision und Organisationsentwicklung (ifs) in Essen. Außerdem ist er Ausbildungsleiter der ersten staatlich anerkannten Ausbildungsstätte und des Ausbildungsgangs „Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie im Vertiefungsgebiet Systemische Therapie“. Daneben ist er in eigener Praxis für Traumatherapie und Systemtherapie tätig.
Berufspolitisch engagiert sich der Autor in unterschiedlichen Verbänden und Gremien mit dem Ziel der sozialrechtlichen Anerkennung der systemischen Therapie. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Systemische Traumatherapie, Familien- und Sexualtherapie.
Aufbau und Inhalt
Das Buch „Handbuch systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“ setzt sich aus sieben Kapiteln zusammen:
I. Grundlagen systemischer Therapie. In dem Einleitungskapitel wird die systemische Grundhaltung eines entsprechend Therapierenden vorgestellt, die typischerweise Allparteilichkeit, Neutralität, Neugier, Lösungs- und Zukunftsorientierung, Auftragsklärung, Ressourcenorientierung, therapeutische Beziehung, Wertschätzung, Humor, Kontextorientierung sowie systemische Hypothesenbildung umfasst. Ergänzend werden verschiedene Settings der systemischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie vorgestellt.
II. Besonderheiten in der therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Der Darstellung von Grundhaltung und Settings schließt sich eine Aufgliederung der Klientel in verschiedene Altersstufen an: Therapie und Beratung von Babys, Kleinkindern und ihren Familien, Schulkindern und Jugendlichen. Zusätzlich werden die Themen Schweigepflicht, Freiwilligkeit und Zwang vertieft.
III. Systemisches Arbeiten im Kontext alternativer Familienformen. „Jede Familie ist anders und funktioniert nach eigenen Regeln.“ (Ochs & Orban, 2008). Aktuell (Mikrozensus, 2011) stellt die klassische Familie weiterhin die häufigste Familienform dar – wenn auch mit deutlich abnehmender Tendenz. Nach einem Einblick in die Familiengeschichte wird in diesem Kapitel eine „to-do-Liste“ für die systemische Arbeit mit alternativen Familienkonstellationen angehängt.
IV. Systemische Diagnostik. Aus systemischer Sicht wird eine kritische Position gegenüber Diagnosen eingenommen, da sie zu linear-kausal, personenzentriert, reduktionistisch und defizitorientiert Konzepte darstellen, die im Extremfall sogar schädliche Wirkungen haben können. Der Verzicht auf Diagnosen scheint dabei allerdings keine wirkliche Alternative. Die systemische Perspektive postuliert, dass es nicht eine „wahre“ Erklärung für Störungen und Probleme gibt, sondern viele Perspektiven und Konstrukte für die Lösungsfindung hilfreich und nützlich sein können. Dies ermöglicht, die beschriebenen klassischen Ansätze und Methoden der Diagnostik in das Vorgehen der systemischen Diagnostik zu integrieren. Diagnostische Ergebnisse werden damit aus konstruktivistischer Sicht und mit ressourcenorientierter Haltung verstanden.
V. Systemisches Arbeiten mit Symptomen und Auffälligkeiten. In diesem Kapitel werden folgende Themen fokussiert:
- Schrei- und Fütterstörungen
- Bindung und Bindungsauffälligkeiten
- Autistische Störungen
- Aspekte der Therapie bei AD(H)S
- Auffällige Persönlichkeitsentwicklungen
- Somatisierungsstörungen
- Substanzstörungen
- Anorexie und Bulimie
- Enuresis und Enkopresis
- Chronische Erkrankungen
VI. Methoden und Techniken im Rahmen der systemischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. In diesem Kapitel werden folgende Techniken und Methoden vorgestellt:
- Systemisches Fragen
- Skulpturen und Aufstellungen
- Genogrammarbeit
- Reframing
- Arbeit mit Tieren und Puppen
- Metaphern
- Externalisieren
- Aufgaben zwischen den Sitzungen
- Reflecting Team
- Rituale
- Zeitlinienarbeit
- Arbeit mit inneren und äußeren Systemen
- Marte Meo
- Körperpsychotherapie
- Psychodrama mit Kindern
- Hypnotherapeutische Zugänge
- Kinderorientierte Familientherapie
- Sandspiel und Spieltherapie
- Künstlerische-therapeutische Methoden und kreative Techniken
- Neue Medien
- BASK und SIBAM – zwei Gesprächsmodelle
- Systemische Aspekte der Pharmakotherapie
VII. Versorgungskontexte. In Deutschland nehmen etwa 160 Kliniken für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie an der Versorgung teil. Die Kliniken bieten meistens vollstationäre, teilstationäre und ambulante Behandlungen an. Zusätzlich gibt es Hilfsangebote in freien systemisch-therapeutischen und in Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxen. Das Angebot wird durch ambulante Jugendhilfe, stationäre Jugendhilfe sowie Beratungsstellen ergänzt.
Zielgruppe
Das Handbuch richtet sich an systemisch arbeitende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/-innen sowie deren Auszubildende.
Fazit
Das Handbuch systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie bietet eine umfassende Gesamtdarstellung der systemischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie von den Grundzügen der systemtherapeutischen Haltung bis zu Versorgungskontexten. Was die 544 Seiten nicht fassen, ist als digitales Zusatzmaterial online abrufbar. Das Buch kann neben der inhaltlichen Komplexität alle zum Thema bekannten Autoren und Autorinnen aus dem Ruhrgebiet um Essen herum vereinen. Wer ein umfassendes Nachschlagewerk mit den üblichen Inhalten für das Bücherregal sucht und schnell auf einzelne Inhalte zurückgreifen möchte, wird hier fündig.
Rezension von
Dr. Kirsten Oleimeulen
Psychologin – Familienberaterin, akkreditierte Psychologin für Gesundheitspsychologie und Prävention (BDP), systemische Familientherapeutin und Supervisorin, online-Beraterin
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