Janine Radice von Wogau, Hanna Emmermacher et al. (Hrsg.): Therapie und Beratung von Migranten
Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 27.07.2004

Janine Radice von Wogau, Hanna Emmermacher, Andrea Lanfranchi (Hrsg.): Therapie und Beratung von Migranten. Systemisch-interkulturell denken und handeln.
Beltz Psychologie Verlags Union (PVU)
(Weinheim) 2004.
279 Seiten.
ISBN 978-3-621-27542-2.
D: 34,90 EUR,
A: 35,90 EUR,
CH: 59,00 sFr.
[Praxishandbuch].
Anliegen und Aufbau des Werkes
Noch immer sind gelungene Beispiele interkultureller Orientierung und Öffnung von Praxisfeldern der Beratung und Therapie rar. Dies gilt auch für die diesbezügliche Theoriebildung, obwohl mit Handlungsmaximen wie Lebenswelt- und Subjektorientierung und Partizipation der AdressatInnen allgemeingültige Paradigmen existieren, die eine Entwicklung interkultureller Ansätze aus allgemeinen Orientierungen (sozial-) pädagogischen und psychologischen Handelns ermöglichen.
Stattdessen gibt es eine Reihe teilweise durchaus interessanter Praxisberichte, die verstreut in verschiedenen Fachzeitschriften einzelne Aspekte oder die Arbeit mit spezifischen Adressatengruppen in den Blick nehmen. Deshalb ist es verdienstvoll und außerordentlich hilfreich, wenn mit dem vorliegenden Reader der Versuch gemacht wird, relevante theoretische Aspekte zusammen zu führen, um vor diesem Hintergrund deren Umsetzung in einer Reihe von Praxisfeldern in der Arbeit mit MigrantInnen zu beschreiben.
Der vorliegende Reader besteht entsprechend diesem Anliegen aus einem theoretischen Grundlagenteil und einem Praxisteil. Die Beiträge sind - wie bei einem Reader nicht ungewöhnlich - hinsichtlich ihrer Diktion und Komplexität sehr unterschiedlich.
Inhalt
Im theoretischen Teil des Buches werden die Lebenswelt der AdressatInnen sowie deren Zugänge zum Sozial- und Gesundheitssystem skizziert und daraus erwachsende Belastungen sowie Beratungs- oder Therapieanlässe abgeleitet. Weitere Kapitel widmen sich dem Umgang mit "Kultur" in der Beratung, der Netzwerkarbeit, der Bedeutung der Sprache in Beratungs- und Therapieprozessen sowie der dafür erforderlichen interkulturellen Kompetenz der professionellen Akteure. Als Metatheorie für all diese Aspekte wird in einem gesonderten Kapitel die Systemtheorie und das daraus entwickelte systemische Denken und Handeln für die interkulturelle Beratung und Therapie nutzbar gemacht. Klammer der theoretischen Beiträge dieses Teils ist somit ein systemisch-konstruktivistisches Verständnis von Lebensentwürfen und gesellschaftlichen Bedingungen. Es erkennt kulturelle Zuschreibungen als soziale Konstruktionen und schützt so vor kulturalistischen Interpretationen in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten. Dieser theoretische Rahmen begründet auch den Untertitel des Buches: "Systemisch- interkulturell denken und handeln."
Der Praxisteil, der mehr als die Hälfte des Buches in Anspruch nimmt, widmet sich der Umsetzung einer solchen Orientierung in sehr unterschiedlichen Praxisfeldern. Für den Therapiebereich werden Praxiserfahrungen und Handlungsweisen zu folgenden Bereichen anschaulich und anregend begründet und beschrieben:
- systemische Einzel-, Paar und Familientherapie,
- Umgang mit MigrantInnen beim Hausarzt,
- Behandlungszentrum für Folteropfer,
- interkulturelle Betreuung lebensbedrohlich erkrankter Kinder,
- Psychiatrie,
Im Rahmen von Beratungsprozessen finden systemisch-interkulturelles Denken und Handeln in folgenden Bereichen Anwendungen:
- Erziehungsberatung,
- Schule,
- schulpsychologischen Dienst
- sowie Ehe-, Familien- und Lebensberatung für binationale Paare und MigrantInnen.
Schon dieses breite Spektrum der Praxisfelder sowohl im Gesundheits- wie auch im Sozialsystem sowie die unterschiedlichen Professionen in diesen Feldern erklären die hohe Variation des Themas und die sehr unterschiedlichen Begrifflichkeiten und theoretischen Begründungen. Eine zumindest formale Vergleichbarkeit der Beiträge ist durch eine annähern gleiche Gliederung gegeben: zunächst werden jeweils die eigenen Zugänge zum Thema erläutert, dann werden die Probleme der AdressatInnen und ihre Beratungs- bzw. Therapieanlässe im jeweiligen Arbeitsfeld dargestellt sowie das methodische Instrumentarium und die konkreten Interventionen geschildert.
Diskussion
Die Mehrzahl der Beiträge bietet einen fundierten und differenzierten Einblick in die systemische Arbeit mit MigrantInnen und zahlreiche praktische Anregungen und Denkanstösse. Da - mit einer Ausnahme - die Autorinnen und Autoren der Praxisbeiträge nicht mit den VerfasserInnen des Theorieteils identisch sind, bleibt die Verbindung zwischen den Theorie- und dem Praxisteil des vorliegenden Readers allerdings leider sehr locker und beschränkt sich vielfach auf ein "irgendwie" systemisches und/oder interkulturelles, gemeinsam geteiltes Grundverständnis. Die Verbindung zwischen Theorie- und Praxisteil erweisen sich deshalb stellenweise als sehr fragil.
Die ansprechende Gestaltung des Textes (Layout, Hervorhebungen etc.) sowie ein umfangreiches Schlagwortverzeichnis steigern den Gebrauchswert dieses Readers.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber verfügen - wie auch einige der übrigen AutorInnen - selbst über Migrationserfahrungen oder aber eine lange Berufspraxis in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten. Dies erleichtert ihnen zweifelsohne den Perspektivwechsel und rückt mit Sicherheit Aspekte in den Blick, die andernorts im Diskurs zu kurz kommen oder gar nicht thematisiert werden. Allerdings ist damit auch verbunden, dass die Herleitung von Handlungsmaximen systemisch-interkulturellen Denkens und Handelns nahezu ausschließlich auf die Migrantinnen und Migranten fokussiert bleibt. Damit besteht die Gefahr, dass diese als "Zielgruppe" wiederum und weiterhin segregiert bleiben, das "Migrationsspezifische" in den Vordergrund rückt - eine Gefahr auf die Franz Hamburger in seinem Geleitwort zu dem Reader eindrücklich verweist. Stattdessen müsste es darum gehen, ein umfassendes Verständnis interkultureller Verständigung in der Sozialen Arbeit zu entwickeln, dass seine Begründung nicht (allein) aus der Lebenswelt und den Belastungsfaktoren der MigrantInnen ableitet, sondern angesichts von Individualisierung und Pluralisierung der Lebenswelten interkulturelles Handeln als universelle Handlungsmaxime Sozialer Arbeit begreift und sich als konsequente Orientierung an der Lebenswelt der AdressatInnen darbietet. Systemisch-interkulturelles Denken und Handeln wäre so auch nutzbar zu machen für die Verständigung etwa mit Menschen mit Behinderungen, Jugendkulturen oder unterschiedlichen sozialen Milieus, mit denen Soziale Arbeit in reichem Maße zu tun hat. So gesehen ist interkulturelle Arbeit auch ohne Migrantinnen und Migranten denkbar.
Fazit
Mit dem vorliegenden Werk ist es gelungen, erste Schritte in ein stärker theoriegeleites umfassendes Verständnis Interkultureller Orientierung und Verständigung zu gehen. Die Beiträge des Theorieteils bieten hierfür rechhaltiges und gutes Material, auf dessen Basis der Theoriediskurs weiter geführt werden sollte. Der Praxisteil schildert eindrucksvoll das Gemeinsame, aber auch das Spezifische systemisch-interkultureller Arbeit in den dargestellten Praxisfeldern. Die Ausführungen in den einzelnen Beiträgen regen an, die eigene Praxis auf kulturalistische "Schieflagen" hin zu überprüfen und die Weiterentwicklung interkultureller Orientierung und Öffnung zu erwägen und voran zu treiben.
Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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