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Ingrid Gissel-Palkovich, Herbert Schubert: Der Allgemeine Soziale Dienst unter Reformdruck

Rezensiert von Prof. Dr. phil Michael Böwer, 14.08.2015

Cover Ingrid Gissel-Palkovich, Herbert Schubert: Der Allgemeine Soziale Dienst unter Reformdruck ISBN 978-3-8487-2063-7

Ingrid Gissel-Palkovich, Herbert Schubert: Der Allgemeine Soziale Dienst unter Reformdruck. Interaktions- und Organisationssysteme des ASD im Wandel. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2015. 240 Seiten. ISBN 978-3-8487-2063-7. D: 18,90 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 28,90 sFr.
edition sigma.

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Thema

Das vorliegende Buch greift ein hochaktuelles Thema auf: es nimmt den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) in den Blick, der als Fachdienst örtlicher Jugendämter wegen einer Vielzahl trotz seiner zu Tode gekommenen Kinder seit Anfang der 2000 Jahre unter besonderer öffentlich- medialer, politischer und fachlicher Aufmerksamkeit steht.

Der ASD als ein „Kernstück des kommunalen sozialen Dienstleistungsnetzes“ steht – so markiert es der Klappentext treffend – unter einem „erheblichen Entwicklungsdruck“: So muss er steigende Fallzahlen und Fallkomplexität bewältigen, „neue fachliche Trends und gesellschaftliche Bedarfe aufgreifen, dem Ruf nach ganzheitlichen, einheitlichen und effizienten Hilfsleistungen folgen und Organisationsreformen (… bei) einer anhaltend schwierigen kommunalen Haushaltslage“ (ebd.) durchführen.

Der Band stellt diese Ausgangslage schrittweise vor und legt auf Basis einer empirischen Studie dar, welche Faktoren von dort aus gesehen ausschlaggebend sind, um eine »gelingende ASD-Praxis« (Klappentext) sicherzustellen. Dabei sollen neben Jugendamtsakteuren auch Adressat/innen mit ihrer Sicht auf den ASD zur Sprache kommen.

Autor/in und Mitautorinnen

Die Autorin und der Autor sind kundige Fachleute im Feld des ASD bzw. des Sozialmanagements: Dr. Ingrid Gissel-Palkovich (Jg. 1955) ist Dipl. Sozialarbeiterin, Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Soziale Arbeit der FH Kiel; sie kennt den ASD aus beruflicher Praxis als Fach- und Leitungskraft, ist Case-Management-Ausbilderin (DGCC) und aktuell stellvertretende Vorsitzende der von ihr mitgegründeten Bundesarbeitsgemeinschaft ASD/KSD. Dr. Herbert Schubert (Jg. 1951) ist Professor für Soziologie und Sozialmanagement an der FH Köln und dort aktuell Direktor des Instituts für angewandtes Management und Organisation in der Sozialen Arbeit (IMOS). Er habilitierte Ende der 1990er Jahre an der Leibniz Universität Hannover, wo er sich mit der Sozioökonomie von Regionalentwicklung befasste und seit 2003 eine apl. Professur innehat.

Die vorliegende Veröffentlichung entstand unter Mitarbeit von Dipl.-Soz.arb., M.A. Marion Rädler (FH Köln) und M.A. Julia Stegt (FH Kiel), die als wiss. Mitarbeiterinnen des zugrundeliegenden Forschungsprojekts „ASD im Wandel“ tätig waren.

Entstehungshintergrund und Anspruch

Das vorliegende Buch dokumentiert die Ergebnisse des von der Hans-Böckler-Stiftung von 2008-2010 geförderten Forschungsprojektes „Der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) im Wandel: ein Praxisvergleich“. Es erscheint als Band 172 in der Reihe „Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung“ in der „edition sigma“ des Nomos-Verlags. Ein Teil der Veröffentlichung erfasst damit den Stand der Debatte aus dem Jahr 2009; neuere insbesondere auch statistische Daten aus 2014 werden ergänzend herangeführt und in die Diskussion der Befunde integriert.

Wer nun in dem Wissen, einen Forschungsbericht zu lesen, auf den Klappentext schaut und zentrale Fakten zur ASD-Arbeit erwartet, wird zunächst mit einer offenen Frage konfrontiert, die an den Erwartungsdruck (s.o.) anschließt: das Buch stelle „in kompakter Form die Frage ins Zentrum, wie (eine) Vielfalt von teilweise widerstreitenden Zielen erreicht werden kann“ (ebd.). Das macht das Buch auch für Praktiker interessant: wird etwa eine Zauberformel präsentiert, die die – vorsichtig gesagt: hohen – Ansprüche an das Konzept ASD aufzulösen in der Lage ist?!

Worum geht es den Autor/innen? Es geht ihnen zuallererst darum, die Reformansätze der letzten zwanzig Jahre im Bereich des ASD zu sichten und auszuwerten: was wird deutlich, in welche Richtungen hat sich der ASD entwickelt? Denn dass es eine Vielfalt sich widerstreitender Ziele in der Praxis von ASD (und gleichsam allen anderen Praxen der Hilfen zur Erziehung) gibt, ist dem kundigen Beobachter vielleicht bewusst; hier findet er es nachgezeichnet. Mit einer einleitenden systemtheoretischen Analyse verknüpft ist die Frage, was zu „gelingender Praxis“ im ASD beiträgt. Darauf wird eine Antwort mit zentralen Faktoren angeboten.

Grundlage dafür bildet eine empirische Befragung im Feld: in (Telefon-) Interviews mit ausgewählten Expert/innen bzw. Leitungskräften in einer Zufallsstichprobe (100 Personen) einerseits und in einer auf Basis der Expert/innen-Empfehlung kreierten Fallstudie unter Leitungs- und Fachkräften, mit Adressat/innen sowie einer Dokumentenanalyse in 16 ausgewählten ASD andererseits (Stichprobenumfang n=311).

So beschreiben die Autor/innen den ASD als ein soziales System im Wandel, blicken dabei auf besondere Typen von Organisationsmodellen und deren Anforderungen und Auswirkungen für das Interaktions- und Organisationssystem in der ASD-Praxis.

Aufbau und Inhalt

In einer Einleitung als erstem Kapitel werden aktuelle Herausforderungen für die ASD-Arbeit (s.o.) und an das Konzept ASD im gesellschaftlichen Wandel beschrieben, der gewählte Forschungsfokus kurz vorgestellt und in den Aufbau des Buches eingeführt.

Im zweiten Kapitel wird unter der Überschrift „Der ASD als sozialer Basisdienst“ (S. 19) zunächst die Struktur des ASD skizziert und der ASD hinsichtlich seiner Mikroebenen und relevanten Systemumwelt beschrieben. Danach wird auf das Spektrum der Leistungen und Aufgaben eingegangen, denen der ASD als Dienstleistungseinrichtung unter normativen Vorgaben, zeitlich gefassten Prozessverläufen und in unterschiedlichen Handlungssettings und Mandaten folgt.

Im dritten Kapitelwerden sodann (neuere) Reformmodelle für den ASD vorgestellt, die zwischen den 1990er Jahren und 2009 als dem Jahr der durchgeführten Erhebung fachlich diskutiert wurden.

Im vierten Kapitel wird in enger Anlehnung an den systemtheoretischen Ansatz Niklas Luhmanns eine Perspektive auf soziale Systeme, Interaktionen und Organisation im Kontext des ASD entwickelt. Anschließend wird über den kurzen Rekurs auf Dimensionen des lebensweltorientierten Ansatzes Thierschs die Annahme entfaltet, dass Veränderungsprozesse in Organisationen wie dem ASD durch rahmengebende Bedingungen gekennzeichnet sind: sie müssten „als notwendige Voraussetzung für gelingende sozialpädagogische Praxis“ „auf die Bedarfe der Adressat/innen abgestimmt werden“ (S. 58), in der Alltagspraxis „fachlich programmatische Kenntnisse der Profession“ und „bewährte Routinen“(S. 59) erfassen und würden die an sich eigendynamischen Interaktionen von Fachkraft und Adressat/in durch ordnungsgebende Entscheidungen beeinflussen (S. 60).

Ist damit aus Sicht der Autor/innen das „komplexe Funktionsgefüge des ASD“ (S. 61) erörtert, wird im fünften Kapitel auf ein Qualitätsbewertungssystem der European Foundation for Quality Management (EFQM) zurückgegriffen: Das hierzulande auf Leistungs- und Effizienzsteigerung öffentlicher Verwaltung zielende Common Assessment Framework (CAF) wird in modifizierter Form zur Einordnung der Untersuchungsergebnisse als Referenzrahmen herangezogen.

Das sechste Kapitel stellt sodann die Ergebnisse der quantitativen Erhebung unter Fach- und Führungskräften der Fallstudie von 16 ASD vor. Bestätigt die Studie strukturelle Faktoren (z.B. hohe Quote qualifizierter, v.a. weiblicher Fachkräfte im Basisdienst; erkennbare Personalaufstockung aufs Ganze gesehen), gibt es einigen Neuigkeitswert: Selbst in den hier untersuchten, ja von Expert/innen empfohlenen ASD (!) ist jeder fünfte Mitarbeiter mit seiner Arbeitssituation eher unzufrieden und selbst dort, wo es das Personal aufgestockt wurde, ist die Zufriedenheit nicht besser als im Schnitt. ASD-Themen erhalten kommunal vor Ort wenig Raum, nur geringe Zeitressourcen gehen in Vernetzung, in 55% der ASD wird keine regelmäßige Supervision vorgehalten, vor allem für Einzelfallarbeit und Dokumentation wird viel Zeit investiert, die psychische Belastung ist hoch. Und: der ASD wird zunehmend zum Einstiegsfeld von Berufsanfänger/innen (vgl. S. 71ff.).

Im siebten Kapitel folgen dann die Erkenntnisse der qualitativen Erhebung. Elf für innovative Veränderungsprozesse relevante Bereiche werden anhand einzelner kommunaler Beispiele näher herausgearbeitet: Führung und Kommunikation, Fachlichkeit und Qualitätsstandards, personelle Ressourcen, Neuordnung der Dienste, politische Rückendeckung, Konzept der Sozialraumorientierung, Projektumwelt, Kinderschutz, Eingangsmanagement und Fallverteilung, Hilfeplanungsprozess und Fallkommunikation.

Das achte Kapitel ist darum bemüht, die vorstehenden (quantitativen) Erkenntnisse zu filtern und förderliche Faktoren für (fachliche) Innovationsprozesse herauszuarbeiten, die eine „gute ASD-Praxis“ ermöglichen. Einfluss auf die „Leistungsergebnisse des ASD“ (S. 145) hat danach, wie je vor Ort zu einer guten Praxis befähig wird und wie die Fallzahlbelastung von festgestellt durchschnittlich 40 Fällen pro Fachkraft dort gehandelt wird: eine hohe Fallzahl bedeutet nicht unbedingt subjektiv hohe Belastung (S.149ff.)! So zeigen sich bei einer so titulierten Tendenz zur sozialräumlicheren Ausrichtung parallel ein langes Halten von Fällen im ASD ebenso wie ein eher formales Fallmanagement mit frühzeitiger Abgabe an freie Träger (S. 152). So kommt es hier auf ‚tragende‘ Erfahrungen an: Eine profunde Führungskompetenz der Leitung wirkt bei hohen Fallzahlen entlastend; ein offener Umgang mit internen Fehlern will hingegen noch gelernt sein; die durchweg positive Selbsteinschätzung der eigene Kompetenz fällt hinsichtlich des eigenen Team etwas skeptischer aus; positive Erfahrung von Supervision und Praxisreflexion sowie die Beteiligung an konzeptionellen Fragen scheint gelingende ASD-Arbeit wahrscheinlicher zu machen (S.158).

Ein neuntes Kapitel wird dafür in Anschlag genommen, „die Adressat/inn/en des ASD zu Wort (kommen zu lassen)“ (S. 17). Die dort aufgeführten Erkenntnisse einer Fragebogenerhebung lassen bei einem Rücklauf von (nur) 16% (n=52) keine validen Aussagen über die ASD-Praxis und den zunächst im Raum stehenden Befund weitgehender Zufriedenheit (S. 174, S. 185) zu, wie die Autor/innen auch mit Blick auf andere Studien selbst bilanzieren.

Das zusammenfassende zehnte Kapitel skizziert die Befunde und zeigt Perspektiven für die Weiterentwicklung des ASD als Konzept und Organisationseinheit in Jugendämtern auf. Dabei werden als kritische Punkte der Stand von Kooperation und Vernetzung über freie Träger hinaus (S. 177f.), die auf der Fachkraftebene vorherrschende fallbezogene Arbeitsweise (S. 178ff.), die „Arbeits(un)zufriedenheit“ (S. 180) der Mitarbeiter/innen, die Zusammenhänge von Fachlichkeit, Fallbelastung und (oft fehlender) Supervision (S. 181f.) sowie die offen bleibende Frage der Adressatenzufriedenheit (S. 183f.). markiert. In den ASD wird viel Zeit für die Einzelfallarbeit aufgebracht, aber auch eine gute EDV-Ausstattung (so die ob dessen verblüfften Autor/innen), das „hohe Maß an Standardisierung im Hilfeprozess“ (S. 186) und Falldokumentation führen nicht zu weniger Belastung. Dass auch Fachkräfte mit geringerer Fallzahl ähnlich stark Belastung melden, verweist – so die Botschaft der Autor/innen – auf die internen Interaktionssysteme in Organisationen. So präsentieren sie am Schluss eine Liste mit „Gelingensfaktoren“ (S. 187), die alle zuvor näher diskutierten und (dort trefflich) präzisierten Aspekte nochmals versammeln. Diese Liste allein verdeutlicht: Es bleibt viel zu tun im ASD – sowohl gesehen auf die Organisations- als auch auf die Interaktionssysteme im ASD und in Kommunen.

Der Band wird abgeschlossen durch ein Verzeichnis der verwendeten Literatur und der Abbildungen sowie einem Anhang, der den Untersuchungsansatz und Erhebungsprozess darstellt.

Diskussion

Das vorliegende Buch und die ihm zugrunde liegende Studie liefern eine lesenswerte und vielfältig interessante Darstellung neuerer Entwicklungen und Alltagspraxen im ASD. Sowohl der vorangestellte Theorieteil als auch der Forschungsbericht ist auch für Neueinsteiger/innen in das Thema gut verständlich gehalten. Eingebrachte Schaubilder und Graphiken veranschaulichen die Darstellung. Die Befunde der Studie und ihre Aufbereitung in den Teilkapiteln des Buches liefern Anlass und Anknüpfungspunkte für die Professionalisierung und Qualitätsentwicklung des ASD (Stichwort: reflexive Standards), für die Leitung und Personalführung im ASD bis hin zur Reflexion sozialräumlicher Konzepte und organisationaler „Schauseiten“, so zu tun „als ob“.

Zugleich sind einige kritische Einwürfe zu machen bzw. Hinweise zu geben: Im Einstieg wird die Frage aufgeworfen, wie sich Reformdruck und eingeschlagene Veränderungen auf Praxis auswirken (S. 60); dies wird im Schluss, vielleicht auch wegen der Darstellungsform nicht recht deutlich. Hier hätte, auch mit Blick auf die unterwegs skizzierten spannenden Befunde eine stärkere Konzeptkritik und ein prospektiver Entwurf für Entwicklungsanforderungen im ASD angestanden. Wird, wie zu erwarten, schon keine Zauberformel mitgeliefert, so bleibt der/die Leser/in am Ende doch etwas ratlos: wo wäre in dem Vielen wie anzusetzen? Was tun, damit Sozialraumorientierung nicht nur plakativ etikettiert, sondern in guter Praxis sinnvoll gelebt wird? Wie umgehen mit der Personalentwicklung mit einem ASD als Berufseinstiegsfeld und als Ort von Sorge um andere und eigene Gesundheit? Was tun mit der Fallbelastung? Für diese ganz konkreten Fragen bieten der Zugang und das erhobene Material, wie oben deshalb so auch im Einzelnen vorgestellt, viele Ansatzpunkte.

Systemtheoretisch jedenfalls ist klar: Ziele für (!) den ASD werden kommunikativ konstruiert. Wie ein Hilfeziel ist auch der ASD als Hilfeprogramm nicht von sich selbst aus „da“; seine Regeln und seine Ziele „werden“ ihm soziales Konstrukt zugeschrieben; nicht zuletzt legt er sich selbst (-referentiell) Verfahren, Abläufe und Vorgaben auf. Dies erfolgt stets gesellschaftlich vermittelt und die Zielerreichung wird als Konstruktionsleistung der Beobachtung durch Viele unterworfen sein. Wenn es also auf den eigenen Standpunkt ankommt, was und wie man es sehen kann, und um aufzuzeigen, wohin die Reise im weiteren Reformprozess gehen könnte, wären Entwürfe für die Zukunft anzustellen, die aus Pilotphasen vor Ort rekrutiert werden können: Qualifizierte Übergänge im Berufseinstieg gemeinsam mit Hochschulen (Trainee) in die Fläche bringen, systematische Weiterbildung, Fortbildungsbudget und Supervision als nachweisbarer Standard in jedem ASD, Coaching für Leitungskräfte und gemeinsame Sozialraumteams mit anderen Diensten und Trägern zum Aufbau von Fachlichkeit und Vernetzung etc. Ein näherer systemtheoretischer Blick zeigte zugleich: Keinem ASD wird die Quadratur des Kreises gelingen, es allen recht zu machen. Aber: Jede gute Praxis ist im stetigen Wandel – und gewiss ähnlich unter Entwicklungsdruck. Der ASD wird vermutlich immer irgendwelche Ziele nicht erreichen, gerade weil sie beobachtungsabhängig sind: weil sie mehrere Akteure schmieden, sie gerade jetzt en vogue sind – oder weil sie als Konstrukt sozialer Hilfe am Ende gar schon immer widerstreitend waren!

Hier schließt ein zweiter Aspekt an: Werden in der Diskussion des Ergebnisteils einige Anschlüsse an vorliegende Studien hergestellt, wäre es im systematischen Einstieg in das beobachtete Feld hilfreich, in den Stand empirischer Forschung zum ASD einzuführen. Dann käme in den Blick, dass und inwieweit seit 90 Jahren Strukturdaten über Jugendamtsdienste und die Apparatur von Verwaltung und Hilfe erhoben werden (vgl. Heynacher 1925, Vogel 1966 etc.), dass Teamaspekten gerade in der Angst, Fehler zu machen, noch mehr Aufmerksamkeit gebührt (vgl. Studie von Pothmann/Wilk 2009), dass es Sinn macht, (ethnographisch) auf (Entscheidungs-) Verläufe in Hilfeplangesprächen (vgl. Messmer/Hitzler 2007, Ackermann 2014) etc. zu schauen.

So aber wird ein Reformdiskurs zur Basis der Untersuchung, der in der historischen Aufnahme einige Auslassungen vornimmt: Vorläufer der Diagnostik, reformpädagogische Gründungsideen im Weimarer Wohlfahrtsstaat, erstmalige Fokussierung von Spezialisierung (vgl. im Überblick: Uhlendorff 2003), die prägende Apparatur der Jugendwohlfahrtsgesetzgebung bis hin zu weit in die 1980er Jahre tragende Praxen der Trennung von Außen- und Innendienst (vgl. Kreft/Lukas 1993, Müller 1994) kommen nicht vor. So aber bleiben die Modellierung (S. 37) und dessen Botschaft eines steten Entwicklungskontinuums womöglich unvollständig. Auch grundlegende Modelle wie das der Dienstleistungs- und der Sozialraumorientierung hätten mit Blick auf Steuerungs- und Hilfeansatzseite (ähnlich wie zur Neuen Steuerung, S. 42) durchaus noch genauer sondiert werden können, zumal sie später im Ergebnisdiskurs wieder virulent werden. Ähnlich geht es dem Organisationsbegriff und eher eingeworfenen Facette der Organisationskultur: In dem die Autor/innen stringent Luhmann rezipieren, bleibt nicht nur der systemtheoretische Diskurs im Fach selbst ausgeklammert, sondern auch solche grundlegenden Erörterungen, die beleuchten, was jenseits des zurecht ausgewiesenen Operierens von Systemen die Organisation und ihre Kultur verhaltenswissenschaftlich gesehen (noch) ausmacht: Träge Routinen, soziale Koalitionen und Motive, soziale Einbettung, begrenzte Rationalität etc. (vgl. Wolff et al. 2013, Böwer/Wolff 2011). Hier wäre dann auch auf sozialgeschichtliche, normative und sozialpolitische Aspekte hinzuweisen, inwieweit soziale Hilfe und Sorgearbeit nicht auch anderen Dynamiken wie Sicherheitslogiken oder konjunkturhaften gesellschaftlichen Problemwahrnehmungen folgen (vgl. Bode/Turba 2014, S. 23f., 26ff.). Schließlich: dass ein belastbarer Erkenntnisgewinn aus der Adressat/innen-Perspektive an Gründen der Validität scheitert, ist schade. Angesichts des für wiss. Positionierungen in der Tat nicht tragfähigen Rücklaufs hätte man das neunte Kapitel besser gleich auslassen sollen und in ein Anschlussprojekt mit neuem, ggf. ethnographisch angelegtem Zugang gehen können, um wie sprichwörtlich mehr Licht ins Dunkle der ASD-Praxis zu bringen.

Fazit

Das Buch stellt eine gelungene und differenzierte Analyse des ASD zur Verfügung, die im Konzert mit anderen neueren Erkenntnissen zur Weiterentwicklung der ASD-Praxis beitragen kann. Damit kann es, was vor allem auch die fachlichen Standards und die Personalentwicklung betrifft, sowohl Führungskräften und politischen Entscheidungsträgern mit Leitungs- und Steuerungsverantwortung im ASD als auch (angehenden) ASD-Fachkräften sowie Neueinsteiger/innen ins Thema eine wertvolle Orientierungshilfe sein. Eingedenk der oben näher erläuterten Hinweise auch auf weiterführende Gesichtspunkte kann dieses Buch allen am Thema Interessierten empfohlen werden.

Literatur

  • Ackermann, T. (2014): Entscheiden über Fremdunterbringung. Praktiken der Fallerzeugung. In: Bütow, B. et al. (Hrsg.): Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie. Alte und neue Politiken des Eingreifens. Wiesbaden: Springer VS, S. 153-173
  • Bode, I./Turba, H. (2014): Organisierter Kinderschutz in Deutschland: Strukturdynamiken und Modernisierungsparadoxien. Wiesbaden: VS
  • Böwer, M. (2012): Kindeswohlschutz organisieren. Jugendämter auf dem Weg zu zuverlässigen Organisationen. Weinheim: Beltz Juventa
  • Böwer, M./Wolff, S. (2011): Führung in Zeiten enger(er) Kopplung. Über ‚Erfindungen‘ im Management Allgemeiner Sozialer Dienste. In: Göhlich, M./Weber, S. (Hrsg.): Organisation und Führung. Wiesbaden: VS Heynacher, M. (1925): Die Berufslage der Fürsorgerinnen unter Verarbeitung einer vom Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt vorgenommenen statistischen Erhebung. Karlsruhe: G. Braun Verlag Kreft, D./ Lukas, H. (1993): Perspektivenwechsel in der Jugendhilfe. Bd. 1. Frankfurt am Main: ISS Eigenverlag
  • Messmer, H./Hitzler, S. (2007): Die soziale Produktion des Klienten - Hilfeplangespräche in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Ludwig-Mayerhofer, W./ Behrend, O./ Sondermann, A: (Hrsg.), Fallverstehen und Deutungsmacht: Akteure der Sozialverwaltung und ihre Klienten. Wiesbaden: Verlag Barbara Budrich, S. 41-74
  • Müller, C. W. (1994): JugendAmt. Geschichte und Aufgaben einer reformpädagogischen Einrichtung. Weinheim Pothmann, J./Wilk, A. (2009): Wie entscheiden Teams im ASD über Hilfebedarf? Download: http://www.forschungsverbund.tu-dortmund.de/?id=133 (13.8.2015)
  • Uhlendorff, U. (2003): Geschichte des Jugendamtes. Entwicklungslinien öffentlicher Jugendhilfe 1871-1929. Weinheim: Beltz Votum
  • Vogel, M.R. (1966): Die kommunale Apparatur der öffentlichen Hilfe. Eine Studie über Grundprobleme ihres gegenwärtigen Systems. Stuttgart: F. Enke Verlag
  • Wolff, R./Flick, U./Ackermann, T./Biesel, K./Brandhorst, F./Heinitz, S./Patschke, M./Rönsch, G. (2013): Aus Fehlern lernen. Qualitätsmanagement im Kinderschutz. Opladen: Budrich

Rezension von
Prof. Dr. phil Michael Böwer
Dipl. Päd., Dipl. Soz.arb./Soz.päd., Professor für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe/erzieherische Hilfen, Kath. Hochschule Nordrhein/Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen
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ISSN 2190-9245