Aline Köstli: Miss Abgefahren (Autobiografie Autismus)
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 12.05.2015

Aline Köstli: Miss Abgefahren (Autobiografie Autismus). Kirja Verlag (Gelterkinden) 2015. 257 Seiten. ISBN 978-3-9524056-3-5. CH: 25,90 sFr.
Thema
Mit 23 Jahren mitten in der Ausbildung zur Heilpädagogin bekommt Aline Köstli die Diagnose Autismus. Diese ist der Anstoß, retrospektiv ihre Autobiografie zu schreiben. Sie erlebt diesen Prozess als sehr aufschlussreich und entlastend zugleich. Seitdem sie weiß, dass sie Asperger Autistin ist, kann sie sich viele rätselhafte Ereignisse aus ihrem Leben erklären und zudem besser verstehen. Mit dem Erzählen ihrer Lebensgeschichte möchte die Autorin dazu beitragen, dass das Verständnis und die Akzeptanz für Menschen mit Asperger-Syndrom und deren etwas andere Denkweise wächst.
Autorin
Aline Köstli wurde am 23.03.1989 in Bern geboren. Nach dem abgeschlossenen Studium in Heilpädagogik macht sie eine Umschulung zur Kauffrau.
Entstehungshintergrund
Der Buchtitel entstand auf dem Abiturabschlussball, auf dem jeder ausgezeichnet wird. Aline Köstli erhält von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern den Titel „Miss Abgefahren“, die damit ihre unkonventionelle Art bezeichnen.
Aufbau
Das Buch im Hartcoverformat enthält 257 Seiten. Es besteht aus 16 Kapiteln und einem Anhang. Die Kapitel sind nicht nummeriert. Im Fließtext ist jede Kapitelüberschrift deutlich hervorgehoben.
- Vorwort
- Einleitung
- Die Verdachtsphase
- Abklärung
- Die Zeit nach der Aufklärung
- Da Kleinkindalter
- Die Vorschulzeit
- Das Kindergartenalter
- Primarschulzeit in Frankreich
- Rückkehr in die Schweiz
- Die Zeit in der Sekundarschule
- Die Zeit am Gymnasium
- Das Studium
- Mein heutiger Alltag
- Anhang
- Sinnesempfindung
- Danksagung
Inhalt
Das Buch beginnt mit dem Vorwort von Christophe Giradin, der als Praxisassistent Aline Köstli in der Ausbildungszeit begleitete, die Zeit, in der sie sich selbst fand und entdeckte, dass sie Asperger Autistin ist.
Die Einleitung gibt einen Überblick über den bisherigen Werdegang von Aline Köstli. Mit 23 Jahren erkennt sie, dass sie Aspergerautistin ist. Das überraschte sie kaum. Zu dieser Zeit hat sie drei anstrengende Studienjahre hinter sich, in der sich ihre „Andersartigkeit“ nach und nach zeigte. Dank ihrer liebevollen Familie (sie ist die erste von fünf Töchtern) gelang es ihr, viel zu erreichen und Schwierigkeiten zu kompensieren.
Die Verdachtsphase zieht sich länger hin. Ein erster Verdacht ergab sich 2011 in einem Praktikum. Zu dieser Zeit hatte sie ihr erstes Studienjahr absolviert, in dem sie sich theoretisch mit dem Asperger-Syndrom befasst. Ein Praktikumsanleiter äußert zum ersten Mal in einem Gespräch den Verdacht. Während ihres Abschlusspraktikums (2012) wurde zunehmend deutlich, dass Aline Köstli nicht weiter arbeiten kann. Aber es wurde eine Lösung gefunden: Die Schule beauftragte sie, ihren Werdegang niederzuschreiben, so dass dieses Buch entstehen konnte.
Im Januar 2013 beginnt die Abklärung. Dreiundzwanzig Jahre war die Autorin mit dem Gedanken durchs Leben gegangen, so zu sein, wie die Anderen, nun muss sie ihr Selbstbild neu finden.
Die Zeit nach der Aufklärung, die ein halbes Jahr umfasste, wurde ihr Umfeld schrittweise informiert und nach neuen Lösungen für die berufliche Zukunft gesucht. Zuerst informiert sie Schule und Universität, dann nimmt sie Kontakt zu ihrem früheren Praktikumsanleiter auf. Es ist ihr auch ein Bedürfnis ihre Mitstudierenden zu informieren, nicht – wie sie schreibt – um einen „Behindertenbonus“ zu bekommen, sondern um aufzuklären und mitzuteilen, worum es geht. Mit Hilfe ihres Coaches beantragt sie eine Umschulung und deren finanzielle Unterstützung. Sie erhält eine Zusage. Parallel schreibt sie ihre Autobiografie und bekommt damit die Möglichkeit, sich intensiv mit der eigenen Lebensgeschichte und dem Werdegang zu beschäftigen. Dieser Prozess ist sehr aufschlussreich und entlastend. Vergangene Ereignisse erscheinen in einem neuen Licht.
Ihre Aufzeichnungen führt sie zu vergangenen Stationen ihres Lebens vom Kindergartenalter bis zum Ende des Studiums.
An das Kleinkindalter kann sich die Autorin nicht gut erinnern, aber ihre Eltern können einige Begebenheiten beisteuern, die in diesem Kapitel kurz beschrieben werden. Dabei geht es um körperliche Nähe, um das Schreien und die Reaktion bei plötzlichen Geräuschen.
An die Vorschulzeit (4.und 5. Lebensjahr) kann die Autorin sich selbst erinnern. In diesem Kapitel beschreibt sie Ereignisse, in denen der Autismus deutlich erscheint (was zu der Zeit niemand wusste) wie z.B. bei ihren Spezialinteressen oder bei den Problemen im Urlaub mit der Familie. In dieser Zeit wird von Bekannten die Verdachtsdiagnose ADHS geäußert, die die Eltern aber nicht weiterverfolgen.
Im Kindergartenalter wird sie als stures Kind wahrgenommen, weil sie wenig flexibel ist. Ihre kognitiven Leistungen sind gut, im sozialen Verhalten gibt es Schwierigkeiten, die nach der Einschulung in die erste Klasse stärker sichtbar werden.
Die Familie siedelt ins Nachbarland um und Aline Köstli erlebt eine glückliche Primarschulzeit in Frankreich, denn die französische Schule ist stark strukturiert, was ihr Halt und Orientierung gibt. Selbstverständlich werden dort für jedes Fach farblich passende Hefte benutzt, es gibt klare Regeln und es wird in Zweierreihen nach der Pause in die Klasse gegangen. Ihre Spezialinteressen helfen ihr dabei, Interaktion mit ihren Mitschülern aufzubauen. Sie sammelt wie die anderen Schüler Pokemonkarten, die sie mit den anderen tauscht. Mit diesen Karten können auch Spiele gespielt werden. Durch dieses Tun blieben ihre schlechten Sozialkompetenzen verborgen.
Im fünften Primarschuljahr erlebt die Autorin die Rückkehr in die Schweiz, wodurch sie sich wieder umstellen muss. In der Sekundarschule hat sie einen Außenseiterstatus. Sie wird auch von den andern gemobbt und oft ausgelacht. Zudem steht sie permanent unter Druck, will sich aber nichts anmerken lassen. Ihren Eltern will sie aus Scham nichts sagen. Ihr Ausweg ist die Flucht in Phantasiewelten wie z.B. in Harry Potter Bücher. Sie erinnert sich, dass sie zunehmend düstere Gedanken entwickelt, die sie auch vor den Eltern nicht verheimlichen kann. Die Eltern machen sich Sorgen und versuchen ihr zu helfen.
Besserung gibt es beim Übertritt ins Gymnasium. Dies ist ein Neuanfang. Der Umgang mit den Mitschülern wird entspannter, sie beginnt Comics zu zeichnen. Dadurch kann sie ihre Gefühle und Widersprüche verarbeiten, die sie mit Worten nicht ausdrücken kann. In den Comics beschäftigt sie sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen und sozialen Kontakten.
Die Entscheidung zum Studium der klinischen Heil- und Sonderpädagogik fiel mehr oder weniger zufällig. Eigentlich hatte die Autorin nach dem Abitur vor, Biologie zu studieren, wurde aber davon abgeschreckt, dass sie sich zur Anmeldung selber organisieren und ihren Studiengang selber zusammenstellen musste. Das überforderte sie. Im Studium der Heilpädagogik gab es feste Stundenpläne und feste Orte. Nach dem Wechsel des Faches stellte sie fest, dass die Entscheidung einen Haken hatte: es wird verlangt, ein neunmonatiges Vorpraktikum vorzuweisen, zudem sind viele Aufgaben in Teamkonstellationen zu bearbeiten. Die Schwierigkeiten nehmen zu und sie sucht eine Ärztin auf, die die Diagnose Asperger Autismus stellt. Sie bekommt die Möglichkeit das Studium abzuschließen, aber es ist schon klar, dass sie in diesem Beruf nicht weiterarbeiten kann. Sie hat Glück und bekommt eine Lehre zur Kauffrau. Darüber schreibt sie im Kapitel mein heutiger Alltag, mit dem das Buch endet. In diesem Moment ist die Autorin 24 Jahre alt. Ihr Tag ist stark strukturiert, was sich aus dem beigefügten Tagesablauf ablesen lässt. Dieser ist hilfreich. Dennoch gibt es immer wieder alltägliche Hürden, mit denen ein Umgang gefunden werden muss, der stark von ihrer Tagesform geprägt ist. Diese ist maßgeblicher Faktor für ihre Stresstoleranz, welche die Reaktionen in schwierigen Situationen beeinflusst. Die Autorin vergleicht diesen Faktor mit sog. Kraftpunkten (KP), die man aus Videospielen kennt. Je anstrengender der Tag ist desto mehr Kraftpunkte werden verbraucht. Morgens hat sie mehr Kraftpunkte als abends, was bedeutet, dass sie z.B. morgendliche Verspätungen besser verkraftet als abendliche. Wenn die Kraftpunkte verbraucht sind kommt es bei ihr zu einem Krisenverlauf, der nicht oder schlecht zu steuern ist. Die Autorin vermutet, dass autistische Menschen mehr Kraftpunkte verbrauchen als neurotypische Menschen. In diesem Kapitel berichtet sie auch vom Zusammenleben mit ihrem Freund David, mit dem sie seit fünf Jahren zusammen ist, seit dem 2. Studienjahr leben sie in einer gemeinsamen Wohnung.
Im Anhang erläutert sie ihre Art der Sinnesempfindung in Bezug auf Wasser und Druckempfinden, Temperaturempfinden, olfaktorische Wahrnehmung, Geräusche, Synästhesie und Schreckhaftigkeit.
Das Buch endet mit einer ausführlichen Danksagung an die Eltern, an den Freund David, an die Schule, an dem sie ihr Abschlusspraktikum absolvierte und an ihren Coach.
Diskussion
Nach wie vor beeindrucken mich Bücher wie das hier vorliegende. Obwohl es sich um eine Autobiografie handelt erfährt man viel über das Fachgebiet Autismus. Auf Fachbegriffe wird verzichtet, sodass es gut zu lesen ist. Es ist nicht selten, dass Menschen erst im Erwachsenenalter erfahren, dass sie Autisten sind. So erging es Axel Brauns und Peter Schmidt. Mit der Diagnose erklärt sich plötzlich, warum man so anders ist als die anderen in der Klasse oder auf der Arbeitsstelle. Peter Schmidt schrieb mittlerweile drei Bücher darüber: Der Junge vom Saturn (wie ein autistisches Kind die Welt sieht) www.socialnet.de/rezensionen/15378.php, ein Kaktus zum Valentinstag (ein Autist und die Liebe) www.socialnet.de/rezensionen/13548.php und kein Anschluss unter den Kollegen (ein Autist im Job) www.socialnet.de/rezensionen/16970.php.
Der Werdegang vieler Autisten ist holprig und nicht jedem gelingt es, einen Einstieg ins Berufsleben zu finden. Aline Köstli hat erkannt, dass sie nicht als Heilpädagogin arbeiten kann und macht deshalb eine Umschulung zur Kauffrau. Auch Peter Schmidt schaffte den Einstieg und fand einen Beruf, der ihn befriedigt und durch den er den Lebensunterhalt für sich und seine Familie bestreiten kann. Es ist ihm immer wieder gelungen, sich nicht unterkriegen zu lassen und nach neuen Wegen zu suchen.
Die Erläuterungen der Autorin z.B. zur Bedeutung von Kraftpunkten fand ich sehr hilfreich, anschaulich und authentisch. Auch das ist sicher ein Grund, warum ich in meinen Fortbildungen www.abcautismus.de Autobiografien als wichtige Informationsquellen empfehle.
Das Buch ist im Kirja-Verlag erschienen. Dieser wurde von dem Ehepaar Ramona und Stephan Zettel in Gelterkinden (Schweiz) gegründet. Der Verlag hat sich zur Aufgabe gemacht, Bücher, Broschüren und Multimedia-Produkte herauszugeben, zu verkaufen oder als download zur Verfügung zu stellen. Anliegen ist das Thema „Asperger Syndrom“ und das Wissen darüber in der Öffentlichkeit bekannter zu machen, das Verständnis für betroffene Menschen und die Akzeptanz für ihre andere Denkweise zu vergrößern, sodass das Potenzial autistischer Menschen von der Gesellschaft erkannt wird (Quelle: www.kirjaverlag.ch).
Einer der Söhne erhielt im Jahr 2008 nach einigen Fehldiagnosen die Diagnose Asperger-Autismus. Das war eine riesige Erleichterung, da das Verhalten des Sohnes, welches vor allem in der Schule sichtbar wurde, endlich einen Namen bekam. 2009 gründete sich eine Elterngruppe, um den Austausch zwischen Eltern mit dem gleichen „Schicksal“ zu ermöglichen. 2011 gründete diese Gruppe gemeinsam mit einem Kinderpsychiater den Verein Asperger-Hilfe Nordwestschweiz. Im Namen des Vereins werden pro Jahr mehrere Seminare angeboten und Ferien für Familien organisiert. Es werden auch Infoveranstaltungen oder Klassenstunden für die Schulen/Eltern oder Mitschülerinnen und Mitschüler zum Thema Asperger Autismus angeboten.
Im Kirjaverlag erschienen einige Broschüren wie z.B. „So macht me das! Gebrauchsanweisungen für den Alltag“ www.socialnet.de/rezensionen/16820.php oder ein Bilderbuch mit dem Titel „Paulchen und die Quadrate“, das von einem Menschen mit Autismus geschrieben wurde. Es erklärt Kindern anhand einer Geschichte das Thema Autismus www.socialnet.de/rezensionen/17065.php.
Fazit
Mit 23 Jahren mitten in der Ausbildung zur Heilpädagogin bekommt Aline Köstli die Diagnose. Diese ist der Anstoß, retrospektiv ihre Autobiografie zu schreiben. Sie erlebt diesen Prozess als sehr aufschlussreich und entlastend zugleich. Seitdem sie weiß, dass sie Asperger Autistin ist kann sie sich viele rätselhafte Ereignisse aus ihrem Leben erklären und besser verstehen. Sie will mit dem Erzählen ihrer Lebensgeschichte dazu beitragen, dass das Verständnis und die Akzeptanz für Menschen mit Asperger-Syndrom und ihre etwas andere Denkweise zunimmt.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 12.05.2015 zu:
Aline Köstli: Miss Abgefahren (Autobiografie Autismus). Kirja Verlag
(Gelterkinden) 2015.
ISBN 978-3-9524056-3-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18464.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.
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