Irmtraud Schnell: Herausforderung Inklusion
Rezensiert von Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap, 07.05.2015

Irmtraud Schnell: Herausforderung Inklusion. Theoriebildung und Praxis. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2015. 444 Seiten. ISBN 978-3-7815-2018-9. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 35,50 sFr.
Thema
Im letzten Beitrag stellt das Autorinnenteam fest: Inklusion ist „eine der bildungspolitisch brisantesten, weil Veränderung versprechenden Aufgaben geworden und wird entsprechend engagiert und kontrovers diskutiert.“ Dies erfolgt auf der Ebene der Wissenschaft – auch interdisziplinär –, ebenso auf allen Ebenen der Praxis insbesondere des Bildungssystems im vorschulischen und schulischen Bereich unter Einbeziehung verschiedener Heterogenitätsdimensionen – nicht nur der Behinderung. Über diese aktuelle Diskussion gibt dieses Buch in 40 Beiträgen einen umfassenden Überblick sowie eine Grundlage und zahlreiche Anregungen zur Umsetzung der UN-Konvention zu Rechten von Menschen mit Behinderungen.
Herausgeberin
Herausgeberin ist Dr. Irmtraud Schnell, Jahrgang 1947, vom Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt. Sie und 51 weitere Autorinnen und Autoren sind die Verfasser/innen der Beiträge, die hier aus Platzgründen nicht namentlich genannt werden.
Entstehungshintergrund
Entstehungshintergrund ist die 28. Jahrestagung der Integrations-/Inklusionsforscherinnen und -forscher im Februar 2014, die vom Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt veranstaltet wurde. Sie stand unter dem Titel „Zur Logik der Widrigkeiten – Theoriefundamente der Inklusion“.
Aufbau
Nach einer Einführung in dieses Buch (S. 9 ff.) durch die Herausgeberin ist es in folgende Kapitel gegliedert:
- Inklusion – Arbeit am Begriff (17 ff.)
- Inklusion und Behinderung (101 ff.)
- Entwicklung einer Allgemeinen (Inklusiven) Pädagogik (167 ff.)
- Lehren und Lernen und der Anspruch Inklusion (221 ff.)
- Ausbildung für inklusive Verhältnisse (301 ff.)
- Inklusion – Forschung unter den Bedingungen der Ökonomisierung (357 ff.)
Das Buch enthält am Ende Angaben zu den Autorinnen und Autoren (439 ff.).
Inhalt
Die Arbeit zu den Theoriefundamenten der Inklusion im I. Kapitel beginnt mit einer „Einladung zum Diskurs aus der Perspektive der kritischen Theorie“ (19 ff.). Es werden vier Aspekte herausgearbeitet, zu denen eine Positionierung noch unzureichend ist (31). „Inklusion aus sozialpädagogischer Perspektive“ (33 ff.) hebt u. a. die Kritik hervor, „dass Ganztagsschule bisher nur wenig an den allgemeinen Selektionsmechanismen des Schulsystems ändert“ (38). Nach drei weiteren Beiträgen erfolgen „Überlegungen zu einem inklusiven Menschenbild aus theologischer Perspektive“ (73 ff.) u. a. mit der Schlussfolgerung, dass Bildung und Erziehung veränderte und akzeptierte inklusive Menschenbilder brauchen (82). Im Kontext einer empirischen Untersuchung werden dann „Deutungsmöglichkeiten auf Nicht-Beobachtbares“ (84 ff.) inklusiver und exklusiver Prozesse systemtheoretisch analysiert. „Widersprüche des Inklusionsdiskurses im Spiegel der Sicht angehender Sachunterrichts-Lehrerinnen auf schulische Inklusion“ (91 ff.) werden abschließend zu diesem Teil des Buches anhand erster Ergebnisse einer Pilotstudie entwickelt.
Kapitel II beginnt in erschütternder Offenheit mit einem Beitrag zur „Behindertenfeindlichkeit – narzistische Abwehr der eigenen Verletzlichkeit“ (103 ff.) und kritisiert u. a. Leitvorstellungen des Neo-Liberalismus zur Biopolitik scharf (112 ff.). „Disability Studies und Inklusion oder: Warum Inklusion die Disability Studies braucht“ (116 ff.) ist Thema des Folgebeitrages, in dem auch im historischen Rückblick aktuelle Behindertenbeurteilungen in der bürgerlichen Gesellschaft analysiert werden – auch, „um die Kluft zwischen Sonder- und Regelpädagog(inn)en zu überwinden“ (123). Schwerpunkte von zwei anderen Beiträgen sind „Eltern als Stakeholder“ (148 ff.) sowie der Paradigmenwechsel in der Behindertenarbeit und -politik (157 ff.) – insbesondere der Behindertenhilfe.
Beiträge zur Allgemeinen Inklusiven Pädagogik in Kapitel III „beschäftigen sich zum Einen mit dem Verhältnis von Allgemeiner und Sonderpädagogik, zum anderen mit schulischen und außerschulischen Feldern, mit Einstellungen bei Professionellen und mit Schulentwicklungsfragen im Interesse kind- und jugendgerechter Bildungsräume“ (13). Die Titel einiger der sechs Beiträge sind:
- „Zwischen Konkurrenz und Synergie: Zum Verhältnis von spezieller und inklusiver Pädagogik“ (169 ff),
- „Inklusive Bildung ist mehr als Schule – zur Relevanz von Jugendhilfe bzw. außerschulischer Bildungsarbeit für inklusive Bildungsprozesse“ (181 ff.),
- „Kinderrechte als Fundament inklusiver (Schul)Pädagogik – Exemplarische Implikationen ihrer Wahrung für die (Um)Gestaltung des Lebens- und Lernraumes Schule“ (197 ff.),
- „Unterstützungssysteme für inklusive Schulentwicklung in Schleswig-Holstein – eine Zwischenbilanz aus der Sicht Beteiligter“ (212 ff.).
Um „eine inhaltlich breit gefächerte Liste von Merkmalen inklusiver Unterrichtsgestaltung zu gewinnen“ werden u. a. im IV. Kapitel „84 Indikatoren inklusiver Unterrichtspraxis“ entwickelt und dargestellt (242 ff.) – eine interessante und trotz ihrer Bekanntheit in Einzelaspekten anregende, impulsgebende Arbeit für die Praxis! Ein Autorenteam berichtet über „Gelingenheitsbedingungen der sozialen Partizipation von Schülern und Schülerinnen mit Lernbeeinträchtigungen in inklusiven Grundschulklassen – ausgewählte Ergebnisse von Gruppendiskussionen in Lehrerkollegien“ (253 ff.). Ergebnisse von drei Fallstudien aus einem inklusiv ausgerichteten Schulversuch des Kreises Offenbach werden dargestellt und zusammengefasst im Beitrag: „Erwartungswidrig positive Entwicklungsverläufe“ (280 ff.). Sehr interessant ist der letzte Beitrag in diesem Kapitel: „Nutzerzentrierte Problemlösestrategien – Design Thinking als Entwicklungsinstrument für inklusive Pädagogik“ (290 ff.).
Der Forschungsbedarf hinsichtlich der Ausbildung zur Bewältigung der Gestaltung inklusiver Bildungsprozesse ist noch groß. Trotzdem liegen Erfolge unter den gegenwärtigen Bedingungen vor. Sie werden im V. Kapitel vorgestellt. So z. B. in den Beiträgen „Hochschul-Seminare einer inklusionsorientierten Lehrerbildung – Forschungsergebnisse sowie methodische und methodologische Diskussionen“ (303 ff.) sowie „‚Thinking outside the box‘ – produktive Irritationen durch ein internationales Kooperationsprojekt“ (313 ff.) und „‚Ich habe einen anderen Blick auf die Arbeit und die Kinder‘ – Ergebnisse der Absolventenbefragung des Bielefelder Studiengangs ‚Integrierte Sonderpädagogik‘“ (322 ff.); ebenfalls im Beitrag: „Inklusive Pädagogik in der Lehrerbildung – das Inklusionsmodul an der Universität Halle“ (342 ff.).
Im Kapitel VI wird Inklusionsforschung unter den Bedingungen der Ökonomisierung akzentuiert. So z. B. die „Forschungslandschaft auch hinsichtlich ihrer Relevanz für die Inklusive Pädagogik“ (375 ff.) oder Wann „erwartungswidrige Forschungsergebnisse vorliegen“ (379 ff.). Die Überlegungen „Chancen und Grenzen partizipatorischer Forschung“ (384 ff.) führen u. a. zur grundsätzlichen kritischen Anmerkung, „dass gerade im deutschsprachigen Raum die Durchbrechung traditioneller Forschungsstrukturen und die Gestaltung partizipativer Bedingungen in Hochschulen noch maßgablich vom ‚Wollen‘ der Akademikerschaft abhängen“ (391). In scharfer Offenheit bearbeitet ein Team der Universität Wien das Thema „‚Wenn ich selber Kinder hätte, die kämen in kein Heim. Nicht eine einzige Minute.‘ Zur Konstruktion von Behinderung durch das Leben in (totalen) Institutionen“ (393 ff.). Der Versuch einer Übersicht wird im umfangreichen vorletzten Beitrag gemacht: „Wissenschaftliche Begleitungen der Wege zur inklusiven Schulentwicklung in den Bundesländern“ (402 ff.).
Diskussion
- Ist die Betrachtungsweise der Autorin des Beitrages (84 ff.) von „Deutungsmöglichkeiten auf Nicht-Beobachtbares“ wirklich ein Gewinn, „dass Problemwirksamkeit nicht Menschen zugeschrieben wird, sondern sich über die differenzierten Beobachtungsmöglichkeiten von Anschluss- und Nicht-Anschlussoptionen auf Kopplungsprozesse zwischen psychischen und sozialen Systemen bezieht, die … irritiert bzw. pädagogisch angeregt werden können“ (90)?
- Führen die im Beitrag „Thinking outside the box“ (313 ff.) vorgeschlagenen Fragen für gegenseitige Auslandsbesuche von Studierenden tatsächlich zu „weiteren Irritationen“, wenn sie im Ausland „mit dem Fokus auf Inklusion pädagogische Kulturen, Strukturen und Praktiken betrachten“ (320)?
- Führt der Beitrag u. a. über ein Forschungsprojekt der Universität Wien (Titel s. o., S. 393 ff.) nicht zur Notwendigkeit der Schließung von „totalen Institutionen“ für Behinderte?!
Fazit
Herausforderung Inklusion an das deutsche Bildungssystem ergibt sich aus der Logik der Widrigkeiten und Widersprüchlichkeiten in den Theoriefundamenten der Inklusion, die sich durch eine Tagung von Forscherinnen und Forschern zu diesem Thema 2014 ergeben hat. Darüber wird in diesem interessanten und anregenden Buch umfassend und fundiert berichtet und diskutiert. Dies erfolgt rückblickend auf die historische Entwicklung der Integrationsforschung seit den 1970er Jahren bis heute im veränderten gesellschaftlichen Umfeld, das immer noch durch separierende Strukturen gekennzeichnet ist. Insofern erhalten auch Skeptiker Denkanstöße durch dieses empfehlenswerte Buch.
Rezension von
Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap
Ltd. Regierungsschuldirektor a. D.
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