Heinz Bude: Gesellschaft der Angst
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.04.2015

Heinz Bude: Gesellschaft der Angst. Hamburger Edition (Hamburg) 2014. 150 Seiten. ISBN 978-3-86854-284-4. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR, CH: 22,60 sFr.
Angst ist ein Gefühl mit schwankendem Boden
„Wer hat Angst vorm schwarzen Mann…?“ – mit diesem Kinderspiel, das wir heute eher in die Ecke von unbedachtem, rassistischem Denken und Handeln stellen, kommen wir beim Nachdenken zu Fragen, ob „Angst“, wie wir dies aus der Evolutionstheorie erfahren, „eine ursprünglich zum Überleben notwendige Reaktion“ ist, oder ob es sich dabei um ein Gefühl von „verlockender wie bedrohlicher Erfahrung menschlicher Freiheit“ handelt, wie dies Søren Aabye Kierkegaard formuliert hat (Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8464.php). In dieser Diktion wird, anthropologisch, philosophisch und psychologisch unterscheiden zwischen Angst als einem „Gefühl umfassender Unsicherheit und Bedrohtheit“ und Furcht, dem ein konkretes, bedrohliches Ereignis zugrunde liegt.
In Befragungen wird deutlich, dass wir im „Zeitalter der Angst“ leben. In Untersuchungen über die Angstmotive der Deutschen hat das Meinungsforschungsinstitut Emnid festgestellt, dass die Ängste von Jahr zu Jahr zunehmen. Die Forscher unterscheiden dabei zwischen realen Ängsten und der so genannten „Signalangst“. Zur „Realangst“ etwa gehören Ängste vor Krankheiten, vor Unfällen, vor dem Tod, vor Umweltbelastungen, Kriegen, usw., während die rote Ampel vor einem unbeschrankten Bahnübergang, an einer verkehrsreichen Straßenkreuzung uns ein Signal gibt, stehen zu bleiben, um nicht in Gefahr zu geraten. Gehen wir soziologisch und gesellschaftspolitisch an die Frage heran, bedarf es der Kompetenz, „den Leuten aufs Maul zu schauen“ und ihre Gefühle, Mentalitäten, Hoffnungen und Befürchtungen lesen zu können. In dem Kurzfilm aus dem Jahr 2002 – „Angst isst Seele auf“ – wird eine Situation dargestellt, in die ein als „Fremder“ von einer Gruppe von Rechtsradikalen Identifizierter angepöbelt und zusammengeschlagen wird; es ist ein Schauspieler, der sich auf dem Weg zu einer Theateraufführung befindet und im Stück von Rainer Werner Fassbinder – „Angst essen Seele auf“ – als Hauptdarsteller auftreten soll.
Entstehungshintergrund und Autor
Die Begriffe zeigen schon auf, mit welchen komplexen Zusammenhängen wir es zu tun haben, wenn wir von „Angst“ sprechen: Von „Urangst“ ist die Rede, biologisch, entwicklungspsychologisch und gehirnphysiologisch; „Lebens“ – und „Todes“- Angst kann Menschen aus ihrem Gleichgewicht bringen; „Flugangst“ kann Passagiere veranlassen, niemals in ein Flugzeug zu steigen; „Schulangst“ Kinder vom Unterricht abhalten; „Bindungsangst“ gemeinschafts- und empathieunfähig machen; „Inflationsangst“ Wirtschaften zum Absturz bringen. Das Gefühl wird sogar als Befindlichkeit einem ganzen Volk zugeschrieben: „German Angst“ (http://de.wikipedia.org/wiki/German_Angst). So ist die Metapher „Angst isst Seele auf“ tatsächlich ein Muster dafür, dass jeder Mensch Ängste entwickelt, wie er auch die Hoffnung hat, sie überwinden zu können. Psychotherapeuten sind konfrontiert mit Angststörungen und Depressionen (Anette Baumeister-Duru / Helmut Hofmann / Helene Timmermann / Andrea Wulf, Psychoanalytische Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen und Depressionen, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14803.php); und es sind bewusste und unbewusste Prozesse, die GesellschaftswissenschaftlerInnen Anzeichen und Hinweise darauf liefern können, „wie die Gesellschaft tickt“, was sie verbindet und spaltet, weiterentwickeln lässt und hemmt: „Angst ist hier ein Begriff für das, was Leute empfinden, was ihnen wichtig ist, worauf sie hoffen und woran sie verzweifeln“.
Der Soziologe vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel, Heinz Bude, stellt fest: „Angst zeigt uns, was mit uns los ist“. Dazu macht er sich daran, „Angst“ aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht zu analysieren. Er schließt mit dem Essay an die zahlreichen Wortmeldungen und Veröffentlichungen an, die ihn als einen „führenden zeitgenössischen deutschen Soziologen“ ausweisen (vgl. dazu z. B. auch: Heinz Bude, Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12103.php).
Aufbau und Inhalt
„In Begriffen der Angst fühlt sich die Gesellschaft selbst den Puls“. Angst kennt weder nationale noch soziale Grenzen; diese Einschätzung ist Bestandteil der Systemtheorie von Niklas Luhmann, die Heinz Bude als eine der Referenzen heranzieht, um das Phänomen soziologisch und erfahrungswissenschaftlich zu analysieren. Demnach ist eine Gesellschaft ein „umfassendes soziales System, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt“, also gewissermaßen umfassend und nicht teilbar ist. Unabdingbar dafür ist, das haben die Systemtheoretiker immer wieder hervorgehoben, „Freiheit ohne Furcht“ (Bertrand Russel, Freiheit ohne Furcht. Erziehung für eine neue Gesellschaft, hrsg., von Achim v. Borries, rororo 6900, 1975, 131 S.). Der 32. Präsident der Vereinigten Staaten, Franklin D. Roosevelt, hat bei seiner Antrittsrede 1933 darauf hingewiesen, dass freie Menschen keine Angst vor der Angst haben sollten, und zwar in jeder Hinsicht, individuell, kollektiv, ideell und materiell. Vielmehr sollten sie danach streben, ihre Selbstbestimmung zu entwickeln und sozial und solidarisch zu handeln. Mit der „soziologischen Physiognomie der Verhaltenswelt“, wie sie der US-amerikanische Soziologe David Riesmann mit seiner Theorie vom innengeleiteten Gewissens- zum außengeleiteten Kontaktmenschen vorgestellt und mit dem Begriff „Einsame Masse“ charakterisiert hat, formuliert Bude seine Argumentationslinien.
In dieser Gemengelage eines Bewusstseins, dass lokal und global das Individuum nicht als Ego, sondern nur als Societas leben und überleben kann, nistet „die Sehnsucht nach einer unkündbaren Beziehung“. Diese Chance wie gleichzeitig das Dilemma diskutiert der Autor anhand der Bindungswünsche und -ängste in familiären und Partnerschaftsbeziehungen: „Bindung macht Angst, weil die Freiheit des Ichs von der Freiheit des Anderen abhängig ist“.
In diese Analyse schleicht sich „das Unbehagen mit dem eigenen Typ“ ein, das sich ja mit der philosophischen Frage danach, wie ich geworden bin was ich bin, trefflich kommunizieren lässt. Nur: Die Angst macht sich dabei ebenfalls bemerkbar, etwa, wenn es um die Frage geht, wie ich meinen eigenen, gesellschaftlichen Auf-, oder gar Abstieg begründen, erklären oder auch vor den anderen geheim halten kann: „Während der soziale Aufsteiger alten Typs mit dem Publikum der Anderen kämpft, die ihn seiner Meinung nach am Boden sehen wollen, hadert der soziale Aufsteiger neuen Typs mit sich selbst, weil für ihn der Weg das Ziel ist“.
Wenn es um gesellschaftliche Ängste geht, kommt zwangsläufig und gerechtfertigt die Frage auf den Tisch, was ist, „wenn die Gewinner alles nehmen“(?). Es sind Fragen nach (berechtigten und unberechtigten) Gewinnern und Verlierern in der Gesellschaft, nach den gerechten und ungerechten, ökonomischen Bedingungen (vgl. dazu: Jos Schnurer, „Ist Geld die Quelle allen Übels – oder hat Geld immer recht?“, 2.11.2013, www.socialnet.de/materialien/168.php). Heinz Bude geht dabei nicht den Weg einer radikalen (und konsequenten?) Kapitalismuskritik, sondern er setzt darauf, dass individuelle und gesellschaftliche Leistung belohnt wird, aber nicht überbordet; denn „eine Leistungsgesellschaft braucht eine Erfolgskultur, die Gewinner prämiiert, ohne Verlierer herabzuwürdigen“.
Damit outet er sich in die „Mitte“ der Gesellschaft, die, wie dies in zahlreichen gesellschaftspolitischen Analysen zum Ausdruck kommt, zwischen Verschwinden (Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen. Soziologische Aufklärung im 21. Jahrhundert, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/7197.php) und neuer Kraft und Macht chargiert (Herfried Mückler, Macht der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18230.php) und in „Statuspanik“ gerät, die einerseits an den erworbenen Privilegien festhalten will und andererseits in vielfältiger Weise erfährt, dass der Boden unter den scheinbar festgefügten und garantierten Pfründen schwankt, die erleben, dass die globale ökonomische Entwicklung, wonach die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, längst auch Einzug in die eigene Gesellschaft genommen hat. So entwickeln sich Statusängste zu Gegenwarts- und Zukunftsängsten auf allen Ebenen des alltäglichen, beruflichen und gesellschaftlichen Lebens; nicht zuletzt auf dem Gebiet des Bildungswesens und der Schulsysteme, ohne dass hier tatsächliche, für die Mittelschicht akzeptable Lösungsansätze erkennbar sind.
Zu Sisyphos-Herausforderungen werden dabei die „alltägliche(n) Kämpfe auf der unteren Etage“, die der Autor mit dem Etikett „Sicherheitsparadox“ versieht und damit deutlich macht, „dass die Empfindlichkeiten für Unsicherheiten mit dem Ausmaß der Sicherheit wächst“. Diese gesellschaftlichen Bewusst- und Unbewusstheiten werden mittlerweile nicht mehr nur als hochsensible, internationale Phänomene verhandelt, sondern sind längst eingegangen in Fragen nach der Sicherheit des Arbeitsplatzes, des Einkommens und des alltäglichen Überlebens (vgl. dazu auch: Hans Hoch / Peter Zoche, Hg., Sicherheiten und Unsicherheiten. Soziologische Beiträge, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18195.php).
Was wird aus der Wut, die sich aufstaut und keinen Ausweg findet im unbarmherzigen, kapitalistischen System? Heinz Bude macht „das brüchige Ich“ aus, weil „Angst erschöpft“ und kaum Ansatzpunkte für eine „Work-Life-Balance“ findet, sondern wie mittlerweile in vielen Service-Einrichtungen praktizierten Form, eine Nummer zieht und darauf wartet, dass auf dem Display der Aufruf erscheint. Und immer wieder wirkt das von außen geleitete und kontrollierte Getriebensein, wie in immer stärkerem Maße die selbst auferlegte Treibung, getrieben v on der Angst, eine Chance versäumt zu haben.
Wer aber veranlasst das alles? Ist es der Herr „Niemand“? Wenn der Autor bei der Feststellung darüber, dass es heute vor allem zwei Dinge zuviel gibt, nämlich Geld und Daten, antwortet, es sei die „Niemandsherrschaft“, die dies bewirke, kann er das nur als Karikatur meinen; denn er begründet dieses „Zuviel“ zum einen damit, dass die Finanzspekulationen und die virtuelle Geldvermehrung, die wenige zu Multimilliardären und viele zu Habenichtse macht, Wirtschafts- und Finanzkrisen hervorruft, und zum anderen die freiwillig hergegebenen Informationen über sich selbst, über das eigene Denken, Wollen und Handeln, die, ungefragt und nicht genehmigt zusammengefügt als Logarithmen den „gläsernen Menschen“ hervorbringen. Diese Akteure aber sind zu benennen und zur Verantwortung zu ziehen. Dass dies von einer „Niemandsherrschaft“ ausgehen soll, ist kritisch nachzufragen!
Ist es vielleicht die „Emotionsmacht“, der wir „Hampelmenschen“ unterliegen? Wer mit der Angst spielt, sie manipuliert und prophezeit wird gemeinhin als „Populist“ bezeichnet, selten als „Angstmacher“; denn die „Angstkommunikation“ verläuft meist nicht mit platten, leicht durchschaubaren Argumenten, sondern mit gefühlsbetonten, vom Gegenüber scheinbar erlebbaren „Tatsachen“, an denen der …, die …, das … Schuld sind. Und tritt dann jemand auf, dem es gelingt, „die Massen zu mobilisieren“, wird kaum danach gefragt, welche Motive, Ziele und Inhalte dahinter stehen. In dem Zusammenhang verweist der Rezensent auf ein Buch der US-amerikanischen Soziologin Martha C. Nussbaum, in dem sie für die Entwicklung und Pflege von politischen Emotionen plädiert, natürlich mit der Voraussetzung, dass „alle Gefühle ein auf ein Objekt gerichtetes intentionales Denken oder Wahrnehmen sowie eine Bewertung dieses Objekts vom Standpunkt des Akteurs aus beinhalten“, also mehr sein sollen als nicht steuerbare und nichtbeeinflussbare Gemütsbewegungen (Martha Craven Nussbaum, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17720.php).
Weil, wie anfangs bereits ausgeführt, Angst als gesellschaftliches Phänomen bezeichnet wird, kommt der „Angst der Anderen“ eine große Bedeutung zu; und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist es die „Angst vor dem Fremdem und den Fremden“, der mit dem Zeigefinger oder dem Molotow-Cocktail begegnet wird; zum anderen der Wille und die Empathie, die „Angst der Fremden“ zu erspüren und mit dem Mittel der aktiven Toleranz zu begegnen.
Mit „Verhaltenslehren der Generationen“ beschließt der Autor seine vielfältigen Zugangsformen zu seinem Versuch, „Gesellschaft der Angst“ zu analysieren. Dabei eröffnen sich unterschiedliche, erlebbare und erlebte Erfahrungen aus historischen Zusammenhängen, wie etwa Angst vor Kriegen, Angst im Krieg, wie auch gewöhnliche und außergewöhnliche Phänomene, wie z. B. die vom russischen Philosophen und Literaturkritiker Michail Michailowitsch Bachtin propagierte Therapie- und Widerstandsform „Angst kaputt zu lachen“, oder die vom evangelischen Theologen Paul Tillich empfohlene Auseinandersetzung als „mögliche Form des Selbstseins unter der Bedingung von Angst, die als Enge ohne Ausweg oder als Offenheit ohne Richtung erlebt wird“.
Fazit
Was bleibt? Wenn Angst nicht als psychische Störung auftritt, und deshalb einer professionellen Aufmerksamkeit und Therapie bedarf, sondern als ein gesellschaftliches Phänomen, dessen Ursachen erkennbar und damit im kommunikativen Prozess des „zôon politikon“, des aristotelischen politischen Lebewesens Mensch zu einer bewältigbaren Herausforderung wird, kommt es darauf an, die Ursachen von Ängsten aufzuspüren und kognitiv und emotional zu bearbeiten. Das mag dadurch möglich sein, die Imponderabilien und Fälschungen zu deuten, wie Ängste gemacht werden (Manfred Lütz, Bluff! Die Fälschung der Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14059.php); in jedem Fall aber gilt es, ein Bewusstsein zu entwickeln, dass Angst immer persönlich und gesellschaftlich, lokal und global zugleich wirkt; was bedeutet, aktiv und interessiert in die Welt zu schauen und sich als ein Mitglied der Menschheitsfamilie zu verstehen und zu erkennen, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, wie dies in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 proklamiert wird.
Heinz Bude unternimmt diesen essayistischen Versuch, indem er „die Erfahrungen der Menschen zum Sprechen bringt“ und aufzeigen kann, dass der Begriff der Angst ein wichtiger Erfahrungsbegriff in den heutigen, lokalen und globalen Gesellschaften ist, „ein Begriff für das, was die Leute empfinden, was ihnen wichtig ist, worauf sie hoffen und woran sie verzweifeln“. Es ist gleichzeitig ein Aufruf, die gesellschaftlichen Zusammenhänge, Wirkungen und Wirklichkeiten von Angst soziologisch zu deuten.
Ein aktuelles Beispiel kann man in dem Artikel des Publizisten und Mitherausgebers der Wochenzeitung DIE ZEIT; Josef Joffe, lesen, der zum Thema „Terrorismus“ in seinem Beitrag „So ist die Hölle“ über „Tausende durch die Welt streunende IS-Kämpfer“ nachdenkt und die Frage nach den globalen Sicherheitsszenarien und Allianzen zur Terrorbekämpfung stellt: „Wenn Netanjahu vor dem amerikanischen Kongress den Atom-Deal mit Teheran auseinander nimmt, findet er sich in bester Gesellschaft mit Israels neuen arabischen Freunden. Seine Angst ist deren Angst…“ (DIE ZEIT, Nr. 13 vom 26. März 2015, S. 1).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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