Véronique Poulain: Worte, die man mir nicht sagt
Rezensiert von ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter, 27.04.2015
Véronique Poulain: Worte, die man mir nicht sagt. Mein Leben mit gehörlosen Eltern. Ullstein Verlag (München) 2015. 144 Seiten. ISBN 978-3-86493-034-8. D: 14,99 EUR, A: 15,50 EUR, CH: 20,90 sFr.
Thema
Das Buch schildert das Leben der Autorin mit ihren gehörlosen Eltern und der "Großfamilie" mit Großeltern und Onkel/Tante/Cousine/Cousin, in der es hörende und gehörlose Personen gibt.
Die erzählte Zeit beginnt in den 1960er Jahren, also – wie die Autorin selbst erwähnt – in einer Zeit, in der die Emanzipationsbewegung der gehörlosen Menschen noch nicht begonnen hatte und erstreckt sich bis zur Geburt ihrer eigenen Kinder in den 1990er Jahren. Zum besseren Verständnis sind kursiv gekennzeichnete Rückblenden bis 1935 vorhanden, welche die Familiengeschichte bis zu den Großeltern der Autorin verständlich machen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist eine Sammlung von chronologisch angeordneten Kurztexten (ein bis sechs Seiten), die eine Tatsache oder ein Gefühl feststellen, eine Begebenheit und oder eine Kommunikation wiedergeben. Dabei sind die gebärdeten Texte in ihrer Wortstruktur erhalten, was für Außenstehende einen ersten Eindruck der Gebärdensprache vermittelt.
Ein Interview mit der Autorin schließt das Buch ab. In diesem wird auch darauf Bezug genommen, dass der Kinofilm "Verstehen Sie die Béliers?" einige Anregungen aus dem Buch entnommen hat (aber Achtung: er ist weder eine Verfilmung des Buchs noch der Lebensgeschichte der Autorin und ihrer Familie).
Diskussion
Sicher sind nicht alle erzählten Begebenheiten als Wiedergabe realer Erinnerungen zu verstehen (speziell die an die frühen Kindheitsjahre) und wir müssen der Autorin neben der Einbeziehung der Erfahrungen Anderer ja auch eine gewisse schöpferische Freiheit bzw. Auswahl und Akzentuierung zugestehen. In ihrer Kürze und Intensität hat mich die Gestaltung an Texte des Psychoanalytikers Ronald D. Laing (z.B. Liebst Du mich? Geschichten in Gesprächen und Gedichten, 1978) erinnert. In ihrer anekdotischen Kürze erlauben sie den LeserInnen, ihre eigene Vorstellungskraft einzusetzen.
Die Übersetzung aus dem Französischen ist sehr gelungen (die Texte sind kurz, prägnant und einfach zu lesen). Die am Beginn des Buchs stehende Begriff "taubstumm" erscheint nur hier und ist möglicherweise als unkommentierte Reminiszenz an "sourd-muet" zu werten; das daneben befindliche "taub" ist die "richtige" Übersetzung von "sourd" wie von "deaf", die ja nach wie vor französische bzw. englische Eigenbezeichnungen der gehörlosen Menschen sind. Im deutschen Sprachbereich wurde mit "gehörlos" auf Wunsch der Gehörlosen ein anderer Weg beschritten, der heute aber mit der Diskussion um "taub" zumindest ein bisschen in Frage gestellt wird.
Ein ganz wichtiger Aspekt des Buchs ist, dass es starke Emotionen auslösen kann, speziell bei gehörlosen Menschen und ihren hörenden Angehörigen, insbesondere ihren Kindern, den sogenannten CODA´s (Child Of Deaf Adult; vgl. www.coda-international.org/ und http://coda-dach.de/ ), zu denen ja die Autorin selbst gehört. Auch ich als Rezensent bin diesen Gefühlen zwischen Tränenansturm und Lachen nicht entgangen, einfach weil die Texte so gut und treffend sind. Natürlich sind sie auch subjektiv und es ist der Autorin hoch anzurechnen, dass sie ihr "Inneres" für die LeserInnen so ganz ohne Reserven öffnet. Das macht sie natürlich angreifbar. An vielen Stellen könnte man fragen: "hat sie dort und da „richtig“ oder „moralisch entsprechend“ gehandelt?" Das verbietet sich aber angesichts der tiefen Einblicke in die Beziehung zwischen einer hörenden Tochter und ihren gehörlosen Eltern.
Von den vielen emotional aufregenden Satz- und Wortverwendungen zitiere ich nur eine, weil sie am Schluss der Texte steht und wahrscheinlich viele gehörlose Menschen verstört: Als Poulain bei der Geburt ihres zweiten Kindes sofort feststellt, dass auch dieses wie das erste hört, schreibt sie: "Der Fluch ist beendet". Das ist natürlich politisch nicht korrekt; aber auch das müssen wir akzeptieren von einer Autorin, die ganz am Ende der Texte feststellt, dass sie ihre Eltern liebt und die uns ganz eindrücklich vor Augen führt, wie es einem Kind als CODA ergehen kann (auch wenn die erzählte Zeit schon etwas in der Vergangenheit liegt):
"Ich
habe sie geliebt.
Ich
habe sie gehasst.
Ich
habe sie zurückgestoßen.
Ich
habe sie bewundert.
Ich
habe mich geschämt.
Ich
wollte sie beschützen.
Ich
habe mich gelangweilt.
Ich
hatte Schuldgefühle.
Der
Traum von Eltern, die sprechen, hat lange existiert.
Heute
existiert er nicht mehr.
Heute
bin ich stolz.
Ich
bekenne mich zu ihnen.
Vor
allem aber lieb ich sie.
Und
ich will, dass sie es wissen." (S. 142)
Fazit
Unbedingt lesen! Das Buch könnte seinen Dienst auch als Pflichtlektüre in Schulen und Ausbildungen tun.
Rezension von
ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Universität Klagenfurt
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Zitiervorschlag
Franz Dotter. Rezension vom 27.04.2015 zu:
Véronique Poulain: Worte, die man mir nicht sagt. Mein Leben mit gehörlosen Eltern. Ullstein Verlag
(München) 2015.
ISBN 978-3-86493-034-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18500.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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