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Christian Meyer-Heidemann: Selbstbildung und Bürgeridentität

Rezensiert von Dr. Rolf Frankenberger, 03.08.2015

Cover Christian Meyer-Heidemann: Selbstbildung und Bürgeridentität ISBN 978-3-7344-0049-0

Christian Meyer-Heidemann: Selbstbildung und Bürgeridentität. Politische Bildung vor dem Hintergrund der politischen Theorie von Charles Taylor. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2015. 2., überarbeitete Auflage. 239 Seiten. ISBN 978-3-7344-0049-0. D: 24,80 EUR, A: 25,50 EUR, CH: 35,50 sFr.

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Thema

Der vermeintliche Widerspruch zwischen Theorie und Praxis politischer Bildung bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden, in zweiter und überarbeiteter Auflage erschienenen Arbeit von Christian Meyer-Heidemann. Dem Drang zu einer Praxis- und Verwendbarkeitsorientierung setzt er eine kritische und in der philosophischen Anthropologie Charles Taylors verwurzelte Idee der Politikdidaktik und Politischen Bildung als Weg zur Selbstbildung entgegen.

Autor und Entstehungshintergrund

Christian Meyer-Heidemann studierte in Kiel die Fächer Wirtschaft/Politik und Mathematik für das Lehramt und absolvierte die erste Staatsprüfung und arbeitete danach als Doktorand an der Professur für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Universität Vechta. Gegenwärtig ist er Vertretungsprofessor für Wirtschaft/Politik und ihre Didaktik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Der vorliegende Band stellt die Druckfassung der Dissertation von Herrn Meyer-Heidemann dar und weist entsprechend einen stark theoretischen Bezug bei der Bearbeitung des Themas auf. Folgerichtig erscheint er auch als Band 1 in der von Sabine Achour, Tim Engartner, Peter Massing und ihm selbst herausgegebenen Reihe Wissenschaft Politik.

Aufbau

Die insgesamt 237 Seiten umfassende Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert.

  1. In der Einleitung (Kap.1) wird auf 30 Seiten das Thema der Arbeit, die Problem- und Fragestellung sowie methodisches Vorgehen und Forschungsstand dargelegt.
  2. In Kapitel 2 (S.35-50) wird Politikdidaktik als praktische Wissenschaft vom Menschen definiert.
  3. Gegenstand von Kapitel 3 ist Charles Taylors philosophische Anthropologie (S.51-106)
  4. Kapitel 4 setzte sich mit Charles Taylors Sozialphilosophie und politischen Theorie auseinander (S.107-158)
  5. In Kapitel 5 werden drei politikdidaktische Diskurse näher in den Blick genommen: „Bürgeridentität“, „Weltbürger“ und „Wissen“ (S.159-206)
  6. Das Fazit (S.207.220) bilanziert die Befunde zu Selbstbildung und Bürgeridentität.

Eine umfassende Literaturliste mit verwendeter Literatur rundet den Band ab (S.221-237).

Inhalt

Ausgangspunkte der vorliegenden Arbeit sind die Befunde zunehmender Widersprüche und Diskrepanzen zwischen politikdidaktischer Forschung und Praxis und einer zunehmenden Orientierung auch der Politikdidaktik an Bildungsstandards und Kompetenzen. Diese Entwicklung werde, so Meyer-Heidemann, insbesondere durch die zunehmende Bedeutung und den wachsenden Einfluss der empirischen Bildungsforschung, kognitionswissenschaftlicher und fachfremder Zugänge gefördert und münde im „Paradigma der so genannten Kompetenzorientierung“(S.8). Eine Folge dieser Standardisierungsversuche hinsichtlich der Kompetenzmessung sei das Ignorieren und Vernachlässigen der „Besonderheiten des Politischen und des Faches Politische Bildung“ (S.18). Ziel der Arbeit ist es „mit Taylors Einsichten grundlegende politikdidaktische Diskurse zu vertiefen“ (S.21) und diesen Entwicklungen eine kritisch-reflektierte und theoretisch fundierte Perspektive entgegen zu setzen. Vor diesem Hintergrund formuliert Meyer-Heidemann vier erkenntnisleitende thematische Schwerpunkte, die den Gegenstand der Arbeit bilden.

  • Inwieweit sind die kognitive, motivationale, volitionale, soziale und affektive Kompetenzdimension in ihrer Breite überhaupt gleichwertig messbar? Und sind die Zielsetzungen des Schulfaches Politische Bildung überhaupt über das Kompetenzschema erfassbar, ohne Bildungsziele zu reduzieren?
  • Welchen Status sollte die kognitive Dimension, also das vermittelte Wissen, in der politischen Bildung haben? Können naturwissenschaftliche Didaktiken und Methoden Vorbild sein bzw. welche methodischen Zugänge sind den Zielen politischer Bildung angemessen?
  • Ist das Konzept der Bürgerrolle, wie es etwa von Georg Weißeno und anderen skizziert wurde, zielführend für den Erhalt der Demokratie oder sollte politische Bildung dazu beitragen, „dass Jugendliche eine Identität als Bürgerinnen und Bürger herausbilden“ (S.22)?
  • Wie hat sich das Bild des „Bürgers“ als Bezugspunkt politischer Bildung vor dem Hintergrund von Europäisierung und Globalisierung verändert und warum kann der „Weltbürger“ keine realistische Perspektive sein?

Methodisch orientiert sich Meyer-Heidemann am „politiktheoretischen Ansatz der politischen Bildung“ und verwendet zentrale Erkenntnisse der politischen Theorie zur Diskussion von „Leitbildern, Themen, Zugangsweisen und Methoden politischer Bildung“ (S.23). Es geht ihm dabei dezidiert darum, die Potentiale der Arbeiten von Charles Taylor für die politikdidaktische Diskussion im Sinne eines „mit dem Denker denken“ aufzuzeigen und eben nicht darum, dessen Denken absolut zu setzen.

Dankenswerterweise beantwortet Meyer-Heidemann die von ihm aufgeworfenen Fragen umfänglich und systematisch entlang der von ihm vorgeschlagenen Vorgehensweise:

  • Einseitige Kompetenzorientierung ohne Berücksichtigung motivationaler und affektiver Faktoren ist dem Phänomen des politischen Unangemessen. Dadurch werde menschliches Handeln auf „performance“ reduziert und der Bedeutungsgehalt von Handlungen nicht angemessen berücksichtigt („significance“). Der Autor betont jedoch, dass die Erweiterung der Messung mit Taylor als unwahrscheinlich angesehen werden müsse, da „Motivationen, Einstellungen und Urteilskraft“ stark subjektiv seien und so einer „objektiven“ Messbarkeit nicht zugänglich seien. Daher sei es angezeigt, interpretative Forschungsmethoden stärker einzubinden und damit alle Kompetenzdimensionen zu erfassen.
  • Mit Taylor kann der Autor aufdecken, dass die Messbarkeitsbestrebungen der empirisch orientierten Politikdidaktiker Ausdruck eines Strebens nach „objektivem“ Wissen analog zum naturwissenschaftlichen Wissen sei, welche die Besonderheit des Faches Politik und des Wesens des Politischen infrage stelle. In der Folge plädiert Meyer-Heidemann für eine Neuorientierung des Verständnisses von Lernen in der politischen Bildung, in dem „die Vorverständnisse von heranwachsenden als deren Erfahrungshorizont ernst genommen werden“, da Lernen gewissermaßen ein iterativer Prozess auf der Basis des jeweiligen Vorverständnisses sei: „Politische Bildung dient der Selbstbildung. Diese vollzieht sich in einem Wandel der inneren Verfassung, durch den Heranwachsende beginnen, ihre eigene Lebensführung zu reflektieren“ (S.212). Standardisiert messbar sind diese Prozesse jedoch kaum.
  • Als Modell der Selbstbildung formuliert Meyer-Heidemann das Konzept der Bürgeridentität, welche sich dadurch auszeichne, „dass Menschen ein moralisches und politisches Orientierungsvermögen ausgebildet haben, die Bedingungen ihrer eigenen Freiheit reflektieren und sich mit dem politischen Gemeinwesen identifizieren“ (S.214).
  • Nicht zuletzt zeigt der Autor auf, dass eine transnationale Formulierung des „Bürgerleitbildes“ sinnvoller sei als ein Weltbürger-Ideal, da sich „Identifikation und politische Teilhabe wechselseitig verstärken“ (S.217) und eine Teilhabe auf globaler Ebene sehr schwierig und limitiert sei.

Meyer-Heidemann schlussfolgert daraus, dass Politikdidaktik verstärkt auf Narrative und dialogische Selbstbildungsprozesse setzen müsse und diese wissenschaftlich angemessen zu beobachten seien.

Diskussion

Christian Meyer-Heidemann widersetzt sich vehement dem Drang und – so möchte man ergänzen -politischen Zwang zur Quantifizierung und Messbarmachung von Bildungsprozessen. So positioniert er sich explizit gegen die „empirische Wende“ in der Politikdidaktik und hinterfragt deren Möglichkeitsbedingungen kritisch. Dass er damit eine Minderheitenposition im Mainstream des politischen Bildungsdiskurses vertritt, verleiht seiner Studie zusätzliche Relevanz in Zeiten der „Ökonomisierung von Bildungsprozessen“. Dem Trend zur Vermessung (der kognitiven Aspekte) der politischen Bildung setzt er eine überzeugende Argumentation unter Verwendung der Arbeiten von Charles Taylor entgegen. Man wünschte sich mehr solch kompetenter und wissenschaftlich fundierter kritischer Reflexion auf Prozesse der Ökonomisierung und Anpassung an eine Verwertbarkeitslogik, die nicht nur in der politischen Bildung um sich greifen.

Fazit

In der vorliegenden Arbeit diskutiert und reflektiert Christian Meyer-Heidemann zentrale Herausforderungen der politischen Bildung und ihrer Didaktik:

  • Welche Rolle sollten Wissen und Kompetenzorientierung in der Politischen Bildung einnehmen?
  • Ist das Ergebnis politischer Bildung quantifizierbar?
  • Ist die Bürgerrolle als Zieldimension politischer Bildung noch angemessen oder sollte die Ausbildung einer Bürgeridentität gefördert werden?
  • Muss die Vorstellung des Bürgers vor dem Hintergrund von Europäisierung und Globalisierung in der Politischen Bildung neu gedacht werden?

Antworten auf diese Fragen entwickelt Meyer-Heidemann systematisch und zielführend in der Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen Charles Taylors.

Auch wenn es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handelt: Die Lektüre lohnt trotz oder gerade wegen der systematischen Einbindung theoretischer Erkenntnisse nicht nur für AkademikerInnen, sondern auch und gerade für PraktikerInnen, die an einer in der Wissenschaft der Politikdidaktik fundierten Reflexion ihres praktischen Handelns interessiert sind.

Rezension von
Dr. Rolf Frankenberger
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Es gibt 21 Rezensionen von Rolf Frankenberger.

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Zitiervorschlag
Rolf Frankenberger. Rezension vom 03.08.2015 zu: Christian Meyer-Heidemann: Selbstbildung und Bürgeridentität. Politische Bildung vor dem Hintergrund der politischen Theorie von Charles Taylor. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2015. 2., überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-7344-0049-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18535.php, Datum des Zugriffs 29.03.2023.


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