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Gunda Voigts: Kinder in Jugendverbänden

Rezensiert von Prof. Dr. Titus Simon, 28.09.2015

Cover Gunda Voigts: Kinder in Jugendverbänden ISBN 978-3-8474-0633-4

Gunda Voigts: Kinder in Jugendverbänden. Eine empirische Untersuchung zu Strukturen, Konzepten und Motiven im Kontext der gesellschaftlichen Debatten um Inklusion. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2015. 359 Seiten. ISBN 978-3-8474-0633-4. 34,90 EUR.

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Autorin

Gunda Voigts ist Diplompädagogin. Sie arbeitete anfangs in der Evangelischen Erwachsenbildung, war zwischen 2001 und 2009 Geschäftsführerin des Deutschen Bundesjugendrings. Forschungserfahrung seit 1994, leitend seit 2009. Zum Thema des hier dargestellten Buches promovierte sie mit der Fragestellung „Inklusion oder Segmentierung? – eine Analyse der Arbeit mit Kindern in Jugendverbänden“ an der GHS Kassel. Seit kurzem lehrt die Autorin an der HAWK Hildesheim-Holzminden-Göttingen.

Aufbau und Inhalt

Jugendverbände haben – in unterschiedlicher Intensität – seit jeher Angebote für Kinder unterbreitet. Deren Betreuung innerhalb traditioneller Gruppen- und Ferienangebote gehört seit Jahrzehnten zu den praktischen Aufgaben meist jüngerer Ehrenamtlicher. Es überrascht deshalb, dass die Autorin überzeugend das Fehlen einschlägiger Forschung belegen kann.

Im vorliegenden Band nähert sie sich im 1. Kapitel diesem Forschungsdilemma, beschreibt dabei angemessen knapp die Pluralisierung der kindlichen Lebenswelten und skizziert den Aufbau ihrer Studie.

Nachfolgend wird im 2. Kapitel eine Standortbestimmung der Jugendverbände unter Berücksichtigung ihrer Funktionen als Akteure der Kinder- und Jugendarbeit vorgenommen.

Im 3. Kapitel skizziert die Verfasserin Inklusion als aktuelle und künftige Herausforderung der Jugendverbandsarbeit. Sie beschreibt dabei die Ausgangspunkte, die sich aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ergeben und stellt Bezüge zu Annedore Prengels Systematisierung her, die die klassische Unterscheidung „behindert – nicht behindert“ zugunsten der Einbeziehung anderer Dimensionen wie Herkunft, Kultur, Gender und sexueller Orientierung erweitert.

Im 4. Kapitel skizziert die Autorin den Forschungstand zur Arbeit mit Kindern in Jugendverbänden. Ihre zentrale Feststellung lautet, dass speziell die jugendverbandlichen Angebote für Kinder selten Gegenstand empirischer Forschung sind. Diese Feststellung ist zutreffend, wenn sie sich – wie in dieser Arbeit – alleine auf die verbandsbezogene Forschung und ausgesuchte Kindersurveys bezieht. Auf einschlägige Praxisforschung aus den Feldern Sozialberichterstattung und Jugendhilfeplanung nimmt das dargestellte Forschungsprojekt keinen Bezug.

Nachfolgend beschreibt Gunda Voigts im 5. Kapitel die forschungsmethodische Anlage ihrer Untersuchung. Das Forschungsdesign basiert auf drei Schritten. Sie beginnt mit einer auf ihre Forschungsfrage(n) bezogene Sekundäranalyse einschlägiger Veröffentlichungen aus der Kinder- und Kindheitsforschung sowie von Jugendverbandstudien. Dem folgt eine quantitative schriftliche Fragebogenerhebung unter Jugendverbänden auf Bundesebene. Eine qualitative Erhebung erfolgt in Form von 18 Interviews mit ExpertInnen aus dem Haupt- und Ehrenamt. Diese werden auf der Basis offener Leitfragen geführt.

Die Ergebnisse sowohl der quantitativen als auch der qualitativen Erhebung werden in einem umfangreichen 6. Kapitel vorgestellt. Es kann der Trend ausgemacht werden, dass die Verbände die Altersgrenze für den Zugang von Kindern senken. Dies ist vor allem der Intention geschuldet, in Konkurrenz zu anderen Verbänden und Vereinen „nicht zu spät kommen zu wollen.“ Somit überrascht es nicht, dass 74% der Verbände in der Arbeit mit Kindern aktiv sind. Die Motive hierfür können in kinder-, sozial-, fach- und verbandspolitische unterteilt werden. Über das gewählte Erhebungsdesign kann allerdings nicht erhellt werden, in welchem zahlenmäßigen Umfang Kinder tatsächlich erreicht werden. Deren Gewinnung geschieht über das traditionelle Verbandsmilieu, das Interesse der Eltern an guter Betreuung sowie unverändert über die Multiplikationsfunktion bereits im Verband aktiver Freunde und Freundinnen. Nur rund zwei Drittel der Verbände gibt an, dass sie – quer durch alle Ebenen des Verbandes – über eine entwickelte Struktur für die Arbeit mit Kindern verfügen, wobei Angebote der örtlichen Ebene auch von den Verbandsspitzen nur unzureichend erfasst und bewertet werden können. Mit Blick auf die für diese Arbeit wichtigen Prozesse der Inklusion wird von etlichen der befragten ExpertInnen bezweifelt, dass die Gruppe der jüngeren Ehrenamtlichen diesen Prozess ohne professionelle Unterstützung leisten könne.

Obwohl 94% der Befragten innerhalb der quantitativen Erhebung angegeben haben, dass der jeweilige Verband über eine ausgearbeitete Konzeption für die Arbeit mit Kindern verfüge, kann im Rahmen der geführten Interviews nur ein Experte auf das Vorliegen eines schriftlich fixierten Konzeptes verweisen. Damit erhellt die Autorin ein gängiges Forschungsproblem. Generell neigen Gruppen und Akteure, die auf verschiedenen Ebenen im Wettbewerb um Ressourcen stehen, dazu, gewünschtes oder positiv besetztes Verhalten als Bestandteil des eigenen Handelns auszuweisen. Dort wo Angebote für Kinder zur verbandlichen Praxis gehören, geschieht dies unverändert vor allem in regelmäßiger Gruppenarbeit sowie durch Ferienfreizeiten. Projektarbeit, Hausaufgabenhilfen und offene Kindertreffs werden lediglich ergänzend angeboten.

Jugendverbände scheinen sich mit Fragen sozialer Segmentierung zumindest theoretisch auseinanderzusetzen. Dies führt jedoch nicht automatisch zu einer veränderten verbandlichen Praxis. Dies wird in den ExpertInneninterviews selbstkritisch eingeräumt. Unverändert bleiben somit Herkunft, Armut, Migration und Behinderung Hürden, die zum Ausschluss führen.

In ihrer abschließenden Zusammenfassung geht Gunda Voigts nochmals auf einen in der Welt der Verbände nicht untypischen Spagat ein. Die Berücksichtigung von Kindern in Jugendverbänden vollzieht sich häufig innerhalb der Trias von Selbstorganisation, der Funktion als Fachverband sowie der Lobbyfunktion für die Interessen der Kinder und Jugendlichen, aber auch des jeweiligen Jugendverbandes selbst. Neben Versuchen der Berücksichtigung von Kinderinteressen, werden diese auch gelegentlich Mittel zum Zweck, etwa dann, wenn die Senkung des Zugangsalters eine von mehreren Maßnahmen ist, um dem Erwachsenenverband den notwendigen Nachwuchs zu sichern. Die Studie bestätigt zahlreiche frühere Befunde. Kinder verbleiben vor allem dann in der Gruppe, wenn ihnen das Gebotene Spaß macht, sie Wertschätzung erfahren und die Möglichkeit zum Treffen von Freunden und Freundinnen besteht. Mit Blick auf die Funktion der Jugendverbandsarbeit als einem Ort außerschulischer Bildungsarbeit wird kritisch angemerkt, dass letztendlich nur jene davon profizieren können, die Zugang haben. Das verweist erneut auf die Notwendigkeit, Zugangsschwellen zu senken und umfassende Inklusion zu einem nicht nur theoretischen sondern vor allem praktischen Bestandteil verbandlicher Jugendarbeit zu machen. Aus dem erhobenen empirischen Material zieht die Autorin allerdings den Schluss, dass diesbezügliche Auseinandersetzungen auf der theoretischen Ebene und in der Formulierung von politischen Positionierungen und Anforderungskatalogen stehen bleiben.

Fazit

Das vorliegende Buch schließt einen wesentlichen Teil jener Lücken, die sich bei der Frage auftun, welche Motive und Konzeptionen Jugendverbände für die Arbeit mit Kindern entwickelt haben. Neben den verbandsspezifischen Intentionen spielen jugendpolitische und darauf bezogene strategische Überlegungen eine große Rolle. Deutlich wird auch, dass praktische Handlungsweisen der örtlichen Akteure nur begrenzt von den kinderpolitischen Intentionen ihrer Bundes- und Landesebenen beeinflusst werden. Entscheidend sind die Fähigkeiten und Intentionen der meist ehrenamtlich handelnden Akteure vor Ort sowie die Gegebenheiten der jeweiligen Sozialräume.

Die Hereinnahme der Inklusionsthematik in das Forschungssetting „Kinder in Jugendverbänden“ zeigt dort vorhandene bedeutsame Hürden für Inklusion auf. Das Forschungsdesign lässt allerdings praktische Beispiele der kommunalen Ebene außen vor. Gleiches gilt für die Perspektive der Kinder und ihrer Eltern. Hier wäre der Rückgriff auf Ergebnisse jener Sozialraumanalysen und kommunalen Jugendhilfeplanungen hilfreich gewesen, die in der Vergangenheit zum Teil umfangreich die Motive von Kindern und Jugendlichen zur Mitwirkung in örtlichen Vereinen und Verbänden aufgegriffen haben.

Für eine mögliche Zweitauflage sollte das Buch redaktionell überarbeitet werden. Ärgerlich sind textliche Hinweise auf Anlagen, die vermutlich der Dissertationsschrift entstammen, im Buch aber keine Berücksichtigung fanden. Diese kleineren Mängel schränken den Wert des Werkes nicht wesentlich ein. Es kann die Debatte der PraktikerInnen in den Verbänden beleben und schließt relevante Forschungslücken.

Rezension von
Prof. Dr. Titus Simon
lebt in Wolfenbrück, einem Weiler mit 140 Einwohnern; lehrt zu ausgesuchten Themen in Magdeburg und St. Gallen und schreibt kritische Heimatromane.

Es gibt 7 Rezensionen von Titus Simon.

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Zitiervorschlag
Titus Simon. Rezension vom 28.09.2015 zu: Gunda Voigts: Kinder in Jugendverbänden. Eine empirische Untersuchung zu Strukturen, Konzepten und Motiven im Kontext der gesellschaftlichen Debatten um Inklusion. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2015. ISBN 978-3-8474-0633-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18563.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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