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Arno Rolf, Arno Sagawe: Des Googles Kern und andere Spinnennetze

Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 24.06.2015

Cover Arno Rolf, Arno Sagawe: Des Googles Kern und andere Spinnennetze ISBN 978-3-86764-590-4

Arno Rolf, Arno Sagawe: Des Googles Kern und andere Spinnennetze. Die Architektur der digitalen Gesellschaft. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2015. 200 Seiten. ISBN 978-3-86764-590-4. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,90 sFr.

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Thema

Sie haben schon einmal über ein Internetportal ein Hotel reserviert, eine Pizza bestellt oder einen Flug gebucht? Oder portofrei ein Buch geordert und eine Internet-Suche beim Marktführer der Suchmaschinen durchgeführt? Dann sind Sie zweifellos mit der neuen Internet-Ökonomie in Berührung gekommen, welche binnen kürzester Zeit althergebrachte Geschäftsmodelle in Frage und auf den Kopf zu stellen vermochte - in dem selben Maße, wie sie für die Nutzer zum ganz normalen Alltag geworden ist. Dass der rasante Erfolg der neuen Geschäftsmodelle durchaus negative Nebeneffekte mit sich bringt, zeigen in jüngster Zeit die wiederholten Streiks in deutschen Logistik-Zentren eines großen Online-Versandhändlers. Auch die Frage nach den prekären Produktionsbedingungen hochpreisiger, stylischer Smartphones und Tablets in Asien gab Anlass zur besorgten Diskussion hierzulande.

Die Autoren Rolf und Sagawe bezeichnen diejenigen global agierenden Internet-Portale, welche für sich oftmals den Schöpfungsmythos der genial-kreativen „Garagentüftelei“ reklamieren, unumwunden als „Spinnennetze“ und verweisen damit auf deren starke Tendenz, Mitbewerber auszuschalten, den Markt zu dominieren und ihre Macht nicht nur zum Nutzen der Kunden einzusetzen. Mehr noch: Mit diesen Firmen verändern sich durch den Prozess der digitalen Transformation die Bereiche: Wirtschaft, Arbeitswelt und Gesellschaft grundlegend. Eine Tatsache, die nach Ansicht der Autoren in den Wirtschaftswissenschaften unter dem Paradigma des „Homo oeconomicus“ nur unzureichend eingeholt werden könne. Daher bieten Rolf und Sagawe mit ihrem Buch an, ein Orientierungswissen zu liefern, indem sie die Architektur der digitalen Gesellschaft in Zeiten der Spinnennetze offenlegen.

Autoren

Arno Rolf, Jahrgang 1942, ist ist Professor für Informatiksysteme in Organisationen und Gesellschaft an der Universität Hamburg, mit dem Forschungsschwerpunkt im Bereich „Mensch, Computer, Internet und Arbeit in der globalen Gesellschaft“ sowie im Bereich der Umweltinformatik. Rolf hat in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts das sogenannte „Mikropolis-Modell“ entwickelt, welches die Wechselwirkungen zwischen Technikeinsatz und Organisationsentwicklung darstellen möchte – und das auch im vorliegenden Buch Anwendung findet.

Der Wirtschaftsinformatiker Arno Sagawe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Informatik der Uni Hamburg (Arbeitsgruppe Informationstechnikgestaltung und Genderperspektive – ITG) sowie im Studiengang Wirtschaftsinformatik der Leuphana Universität Lüneburg. Zu seinen Forschungsinteressen zählt unter anderem auch das oben genannte Mikropolis-Modell.

Aufbau und Inhalt

Nach einigen kürzeren, einleitenden Kapiteln gliedert sich das Buch in fünf große Teile:

Der Titel von „Teil I. Kalifornische Tüftler verändern den Computer und die Welt – die digitale Transformation der „alten“ Ökonomie nimmt Fahrt auf“ ist gleichzeitig Programm: Die Autoren schildern anhand der jüngeren Zeitgeschichte, wie aus den kreativ-tüftelnden Garagen-Startups dominante Internetfirmen geworden sind, wobei sie ihre Schilderung mit unzähligen (Alltags-)Beispielen illustrieren. Im Zuge dieser digitalen Transformation wurden Aufgaben massiv auf Nutzer umgewälzt (z.B. Serviceaufgaben, siehe Fahrscheinkauf) oder Arbeitskräfte als Click- (digitale „Fließbandarbeit“) oder Cloudworker (selbstständige Expert/innen) „outgesourct“. Mitnichten habe die Digitalisierung in jedem Falle zu verbesserten Arbeitsbedingungen geführt, im Gegenteil: Frühindustrielle Arbeitsmodelle lassen sich auch erfolgreich ins digitale Zeitalter hinüberretten, wenn nicht gar verfeinern. „F.W. Taylor wäre davon begeistert, welche ungeahnten Möglichkeiten er heute in Zeiten von Outsourcing vorfindet“ (Seite 37). Smartphones, Apps und mobile Computer bilden hierfür eine wichtige Schnittstelle, die weniger die Arbeitseffizienz zu steigern in der Lage sei als vielmehr die Grenze zwischen Privatem und Arbeit verschwimmen lasse.

Teil II. Die „neue“ digitale Ökonomie – von Googles Kernen und Spinnennetzen“ nähert sich dann zielstrebig dem Hauptthema des Buches: Anhand des Online-Versandhändlers Amazon und des Suchportals Google erläutern Rolf und Sagawe exemplarisch, worin das „Neue“ der Internetökonomie besteht, welche althergebrachte Geschäftsmodelle förmlich überrollt, durch eigene Produkte Kunden bindet und Arbeitsbedingungen gestaltet. Dabei gehen die beiden Autoren auch auf den Namensgeber des Buches ein: „google“ und erläutern dazu den Suchalgorithmus [1]. Dieser, auf Verlinkungsdichte basierende Algorithmus werde von Google jedoch auch dazu benutzt, um Suchergebnisse im Firmeninteresse zu platzieren. Aber auch die so genannte „Sharing economy“ wie „uber“ oder „airbnb“, wo private Wohn- und Mitfahrgelegenheiten über eine Portalseite vermittelt werden, wird untersucht. Nicht nur, dass bei global agierenden Firmen mit Sitz in Übersee Steuereinnahmen verloren gehen, auch ganze Berufsgruppen wie Taxifahrer sind von der Rationalisierung bedroht. Strukturell handelt es sich bei solchen App-Angeboten um Portale, die sich zwischen unzählige Nachfrager und viele Anbieter schalten, wie etwa Buchungsportale für Hotels, die im weiteren erläutert werden, oder solche Firmen, die mehr verdrängen als vermitteln. Bezeichnenderweise wird hier (Seite 82f.) auch auf den semantischen Unterschied zwischen „net“ und „web“ abgehoben, wobei letzteres sich als umgangssprachlicher Begriff für das Internet eingebürgert hat. Was nicht ganz unwichtig ist, da es die Konnotation „Spinnennetz“ besitzt, was im Buch schließlich zum Paradigma für die Beschreibung der neuen digitalen Ökonomie gerät.

Damit kommen Rolf und Sagawe zum Kern der neuen Ökonomie. Dieser besteht neben einer überzeugend einfachen Geschäftsidee erst einmal in der Ubiquität des Internets, das eine grundlegende Infrastruktur zur Verfügung stellt. Danach ist es der Prozess der „Dematerialisierung“ von einstmals Analogem (Musik, Sprache, Bücher, schwarze Bretter usw.), welcher den „genetischen Kern“ der digitalen Transformation ausmacht (Seite 102) und von den genannten Firmen im Zusammenspiel mit teilweise eigener Hardware als Schnittstelle bestens beherrscht wird. Zukäufe relevanter Dienste und Wettbewerber sichern die ökonomische Stabilität zudem ab. In diesem Zusammenhang kommen die Autoren auf das Wesen von Spinnennetzen zu sprechen: Sie haben die Tendenz zur Monopolbildung und zum engen Austausch mit den Nutzern.

Im weiteren Verlauf des Kapitels skizzieren Rolf und Sagawe, welche Ansatzpunkte sich für die alte Ökonomie (z.B. den Einzelhandel) ergeben, um verbleibende Nischen zu besetzen.

Mit dem „Internet der Dinge“ beschäftigt sich „Teil III. Die smarte Transformation“. Dabei geht es um die Verschmelzung von virtueller und physischer Welt, die sich auch auf die Produktionsprozesse auswirken wird, etwa in Form von vernetzten Maschinen, die mit den individuell herzustellen Produkten zu interagieren in der Lage sind. Die Autoren zeigen exemplarisch anhand der neu eingeführten Selbstverbuchung in den Hamburger Bücherhallen mittels RFID-Chips, dass im Interessenausgleich aller Beteiligten sowie unter Beachtung datenschutzrechtlicher Erfordernisse ein „Internet der Dinge“ Überschaubarkeit und Vorteile für alle mit sich bringen kann.

Im zweiten Abschnitt gehen die Autoren auf die smarte Stadt ein, also Stadtplanung unter der Prämisse der „Informatisierung“, um das Leben bequemer zu machen, Ressourcen zu schonen und Mobilität zu erleichtern. Diese Stadtplanung greift ja auf Manches zurück, was im Internet der Dinge bereits angelegt ist. Gerade im Schnittbereich mit „Big Data“, d.h. in der zunehmenden Transparentwerdung privater Bereiche, sehen die Autoren einen wesentliche Kritikpunkt.

Um die gesellschaftlichen Auswirkungen der „Spinnennetze“ geht es dann in „Teil IV. Digitale Transformation und stabile Gesellschaften – ist das vereinbar?“ Zunächst greifen Rolf und Sagawe den vermittelnden Aspekt der Internetplattformen auf und illustrieren dies am Beispiel des „Arbeitskräfte-Castings“ bei IBM, wobei sie prognostizieren, dass die Festanstellung in vielen Wirtschaftsbereichen zugunsten eines flexiblen Einsatzmodells fortlaufend abgebaut werde. Generell sehen die Autoren Sparten wie den Logistik-, Fertigungs- und Transportbereich in der Gefahr zukünftiger Digitalisierungswellen. Andererseits verfestige die digitale Transformation geradezu Niedriglohn-Beschäftigungen, wie man sie aus der industriellen Zeit kennt.

Demgegenüber möchten Sagawe und Rolf untersuchen, welche Alternativen als Zukunftspfade oder Sackgassen in Frage kommen könnten: das bedingungslose Grundeinkommen, die Automatiisierungsdividende als Besteuerung nichtmenschlicher Arbeit oder das Urban Manufacturing, d.h. die regionale Produktion von Gütern, die durch die 3D-Druckertechnik beflügelt werden könne. Auch die Idee der Sharing economy, sofern sie unter genossenschaftlichem oder dem Allemende-Gedanken erfolgt, könne eine lohnenswerte Option sein, die aus dem Diktat der Spinnennetze herausführt. Obwohl die Autoren durchaus Sympathie für diese Konzepte hegen, äußern sie sich skeptisch gegenüber deren Realisation, da die Macht der Internetkonzerne unterschätzt werde. Eher könne die Event-Ökonomie eine neue Branche sein, in der neue Arbeitsplätze entstehen. Jedoch bleiben die Autoren hier unentschieden.

Ein anderer Weg wäre eine Steuerung der digitalen Transformation, die sich am Nutzen für die breiten Bevölkerungsschichten orientiert, etwa im Zugewinn von Freiheit und Handlungsmöglichkeiten und in der Abwehr der Datensammelwut von Internetkonzernen. Dies erfordere jedoch die Kontrolle durch staatliche Instanzen. Beispiele aus dem europäischen / deutschen Sprachraum belegen aber, dass dies in der Realität kaum möglich ist. So entzögen sich die schnelllebigen Innovationsprozesse der Spinnennetze der schwerfälligen Legislative und schaffen Tatsachen, bevor diese bewertet und kontrolliert werden können.

Und schließlich führt die digitale Transformation auch nicht zwangsläufig und per se zu mehr Umweltverträglichkeit: Höherer Gütertransport und erhöhte Produktion trotz eines sparsameren Ressourceneinsatzes sind nur zwei Beispiele dafür.

Der abschließende „Teil V. Orientierung in digitalen Welten“ greift programmatisch wieder das Anliegen der Autoren auf, die Architektur der digitalen Transformation sichtbar werden zu lassen. Dabei ziehen die Autoren das „Mikropolis-Modell“ dem „Business-Ecosystem“ vor, welches in ihren Augen einen naturwüchsigen Zustand suggeriere. Von diesem Mikropolis-Modell aus entwickeln sie schrittweise den Übergang zum Spinnennetz-Modell und können auf diese Weise die Innovationen der vergangenen dreißig Jahre nachzeichnen.

Diskussion

Einen Orientierungsrahmen für etwas anzubieten, das längst zum Alltag gehört, aber kaum durch die Geistes- und Wirtschaftswissenschaften eingeholt wurde, dieses Anliegen der beiden Autoren zieht sich wie ein roter Faden durch das vorliegende Buch hindurch. Dabei geht es Rolf und Sagawe nicht nur um eine akademische Beschäftigung mit der neuen Internetökonomie, sondern auch um so etwas wie lebensbedeutsames Wissen in Zeiten der „Spinnennetze“, das gesellschaftliche und arbeitsmäßige Zusammenhänge klarer und zukünftige Entwicklungen sichtbar werden lässt. Dazu schlägt das Autorenduo immer wieder Brücken von der Informatik in die benachbarten Wirtschafts-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften und zeichnet anhand vieler konkreter Beispiele ein interessantes Panorama der digitalen Transformation, in der wir uns zur Zeit befinden.

In der Tat erscheint es mir, dass es Rolf und Sagawe damit gelungen ist, die Architektur der digitalen Gesellschaft verständlicher zu machen und aktuelle Phänomene und Zusammenhänge zu veranschaulichen. Gut gefallen hat mir, dass auch zum aktuellen Medien-Zeitgeist Parallelen gezogen wurden (s. Dschungelcamp und Arbeitskräfte-Casting), womit das Thema eine Plastizität gewinnt, die es im Alltag ja besitzt. Auch wenn der leserorientierte Stil in seiner direkten, oftmals plakativen oder gar kämpferischen Art nicht im herkömmlichen Sinne einer wissenschaftlichen Publikation entspricht, ist die fachwissenschaftliche Fundiertheit gegeben. Die Autoren halten sich nicht mit Fußnoten auf, was zu einem flüssig und angenehm lesbaren Lesetext führt, aber diejenigen Leser/innen stören dürfte, die sämtliche Zitate gerne nachgewiesen sehen wollen. Auch angesichts des fehlenden Literaturverzeichnisses erfüllt das Buch nicht unbedingt den Anspruch einen wissenschaftlichen Werkes im klassischen Sinne; es kommt eher als Essay daher – was sich auch im präsenten und teilweise kämpferischen Schreibstil niederschlägt. Andererseits dürfte sich das Personen- und Sachverzeichnis als hilfreich für all diejenigen erweisen, die das Buch als Arbeitstext nutzen wollen. Sie werden dort viele wertvolle Gedankengänge und Einsichten finden.

Fazit

Arno Rolf und Arno Sagawe stellen in ihrer interdisziplinären Analyse auf lebendige Weise dar, wie Internetkonzerne Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitsleben durchdringen und schrittweise verändern. Sie bieten einen theoriegeleiteten Orientierungsrahmen, um diesen Prozess zu verstehen und legen damit ein Buch vor, das weniger für diejenigen geeignet ist, die schnelle Antworten suchen, sondern für diejenigen unter ihnen, die das Problem erst einmal genau erfassen möchten.


[1] Ich verweise zu diesem Thema auf meine Rezension vom 25.10.2010: www.socialnet.de/rezensionen/10204.php

Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Es gibt 47 Rezensionen von Stefan Anderssohn.

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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 24.06.2015 zu: Arno Rolf, Arno Sagawe: Des Googles Kern und andere Spinnennetze. Die Architektur der digitalen Gesellschaft. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2015. ISBN 978-3-86764-590-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18579.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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