Rosa Fava: Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz [...]
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.03.2015
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Rosa Fava: Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse. Metropol-Verlag (Berlin) 2015. 397 Seiten. ISBN 978-3-86331-202-2. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 34,50 sFr.
Identifikation und Abgrenzung in der Migrationsgesellschaft
Der humane Anspruch, dass nach der unmenschlichen, nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik, die das Menschheitsverbrechen des Holocaust hervorgebracht hat, eine andere Bildung und Erziehung der Täter und dem den Tätern angehörendem Volk erfolgen müsse, was sich mit der Aufforderung „Erziehung nach Auschwitz“ im Diskurs um das Verbrechen etabliert hat, gehört zu den Paradigmen einer neuen Bildungs- und Erziehungspolitik in Deutschland. Mit dem „Nie wieder!“ soll verdeutlicht werden, dass eine Auseinandersetzung um die nationalsozialistischen Untaten Verpflichtung für die Gegenwart und Zukunft der Menschen in Deutschland sein und sich als antirassistisches Bewusstsein darstellen soll. Der Erinnerungsarbeit als Information und Aufklärung wird in der institutionalisierten, schulischen und außerschulischen Bildung ein hoher Stellenwert beigemessen. Es sind vor allem die Gedenkstätten in Deutschland und Europa, die als Erinnerungsorte die Auseinandersetzung mit dem Holocaust wach halten sollen. Untersuchungen zur „Holocaust Education“, wie sie z. B. in der zehnjährigen europäischen Identitätsstudie zum Ausdruck kommen, machen es erforderlich, neue Perspektiven bei der Erinnerungskultur zu entwickeln. Auch wenn die vorgelegten Ergebnisse und Vermutungen bisher nicht durch eindeutige, beweisbare Forschungsergebnisse bestätigt sind, gilt es sie doch zu beachten: „Die Holocaust Education scheint sich den vorliegenden Studien zufolge aber nicht als Übungsfeld für …demokratische( ) Tugenden zu begreifen. Vielmehr wird häufig eine sakrale Atmosphäre angestrebt, in der kollektive Meinungskonformität herrschen soll und individuelle Abweichungen sanktioniert werden“ (Ulrich Schmidt-Denter, Die Deutschen und ihre Migranten. Ergebnisse der europäischen Identitätsstudie, 2011, S. 316, www.socialnet.de/rezensionen/12676.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Im Zeitalter der Europäisierung und Globalisierung zeigen sich Entwicklungen, die nationale Identitäten obsolet werden und im Zeichen einer zunehmenden Mobilität und Migration nach neuen identitätsstiftenden Mustern Ausschau halten lassen. Die Forderung nach einer „Europäisierung deutscher Migrationspolitik“ (Jens Wassenhoven, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11890.php) ist ein Aspekt; die nach einer „postnationalen Erinnerungskultur in Europa“ ein weiterer (Patrick Ostermann / Claudia Müller / Karl-Siegbert Rehberg, Hg., Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13967.php).
Die Berliner Geschichtslehrerin, als Teamerin für historische und politische Bildung in Gedenkstätten und seit 2012 Leiterin des Projektes „Vielfalt in Schulen“ im Berliner Jüdischen Museum tätige Rosa Fava legt ihre rassismuskritische Dissertation vor. Sie benutzt dafür Materialien und Informationen aus den Arbeitsfeldern Gedenkstättenpädagogik, Politischer Bildung, Geschichts- und Politikdidaktik, die zur Aufklärung über Nationalsozialismus, Faschismus und Holocaust vorliegen. Bei ihrer Diskursanalyse stützt sie sich vor allem auf Materialien, die sich speziell nicht an (schulischen und außerschulischen) Bildungsplänen und Curricula ausrichten, sondern von nicht orts- und themengebundenen Einrichtungen wie z. B. dem Fritz Bauer Institut in Frankfurt/M. zur Verfügung gestellt werden. Es ist das Wort „Migrationshintergrund“, das eingeführt wurde als vermeintlich positiver und integrationsförderlicher Differenzierungsbegriff, der sich beim Integrations-, nicht Assimilationsdiskurs, nicht als verbindende Brücken- sondern Trennungs- und Mauerfunktion darstellt. Diese Problematik beleuchtet die Autorin mit ihrer Arbeit, indem sie „die diskursive Produktion von ‚normalen‘ und ‚abweichenden‘ Subjekten im Sprechen über die historisch-politische Bildung über den Nationalsozialismus in der Einwanderungsgesellschaft entlang der rassistischen Differenzierungsdimension“ thematisiert. Den vielfältigen Benennungen einer „Erziehung nach Auschwitz“ im schulischen wie im außerschulischen Lernen liegen dabei keine ergebnisoffenen Lernziele zugrunde, sondern die gesellschaftliche Ab- und Übereinstimmung, dass „Lernen aus der Geschichte“ als deutliches Erkennen für eine Verantwortung der lebenden und nachfolgenden Generationen für den Genozid die „nationale Identität“ in der Einwanderungsgesellschaft bestimmen muss.
In der Pädagogik und Erziehungswissenschaft wird dieser Paradigmenwechsel mit verschiedenen Begrifflichkeiten belegt, wie z. B.: Interkulturelles Lernen, Globale Bildung, Transkulturelle Aufklärung, Lernen für Eine Welt, usw. Dass dabei das Phänomen der Migration eine bestimmende Bedeutung erhält, bedarf keine besonderen Betonung. Beim Sprechen über Migrantinnen und Migranten im Zusammenhang mit Fragen der Integration und des Lernens, in der schulischen Bildung insbesondere zum Lernen über den Holocaust, ergeben sich oftmals Spagate und Fehltritte, wie Schülerinnen und Schüler „mit Migrationshintergrund“ mit diesen Lernaufgaben konfrontiert werden und wie sich Lehrerinnen und Lehrer auf die unterschiedlichen Reaktionen, wie z. B.: „Was haben wir mit dem Holocaust zu tun?“, einstellen sollen. Die sozial- und geisteswissenschaftliche Methode der Diskursanalyse nach Michel Foucault bietet die Möglichkeit, Zusammenhänge von kommunikativen Strukturen bei der Thematik zu verbinden mit den Wirkmächtigkeiten bei den gesellschaftlichen Auseinandersetzung.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einführung in die wissenschaftliche Fragestellung und der Begründung des erkenntnisleitenden Interesses der Forschungsarbeit gliedert die Autorin ihr Buch in zwei Kapitel. Im ersten stellt sie die theoretischen und methodologischen Grundlagen ihrer Arbeit vor und zeigt die verschiedenen Diskussionsstränge auf, die sich bei den erziehungswissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen „aus dem Diskurs über die historisch-politische Bildungsarbeit über den Holocaust mit eingewanderten Jugendlichen oder Jugendlichen mit eingewanderten Vorfahren“ ergeben. Es sind nämlich die geraden wie verschlungenen Wege, Verkehrstrassen, Einbahn- und Stoppstraßen, Leitlinien wie Fallstricke, die die im Interkulturellen Lernen so einfach daherkommende Brücke – „Der Andere bin ich selbst!“ – nicht selten im Antirassismusdiskurs als Hindernis zeigen. Dazu verweist die Autorin auf Konzepte, wie sie in die Erziehungswissenschaften seit den 1990er Jahren Eingang gefunden haben: Das „Othering“, wie es sich in den Postcolonial Studies, den Critical Whiteness Studies im anglophonen und als „Kritische Weißseinsforschung“ im deutschen Diskurs darstellen und als diskriminierende, ethnozentristische und rassistische Abgrenzungen zeigen (vgl. dazu: Jos Schnurer, Wie Deutschland zu den Fremden kam, 20.12.2013, www.socialnet.de/materialien/171.php).
Im „Diskurs über die Neuausrichtung der ‚Erziehung nach Auschwitz‘ im Einwanderungsland“ setzt sich die Autorin mit dieser Forderung auseinander. Dazu analysiert sie zahlreiche Texte und Lernmaterialien aus den Jahren 1995 bis 2008. Dabei betrachtet sie sehr ausführlich und im Detail die vorliegenden Positionen und charakteristischen Aussagen darüber, „wie die Erziehung nach Auschwitz (kursiv, JS) und die deutsche Migrationsgesellschaft zueinander in Beziehung zu setzen seien". Sie fördert dabei eine Reihe von übereinstimmenden bis kontroversen Meinungen und didaktischen Konzepten zu Tage und öffnet so ein im erziehungswissenschaftlichen und curricularen Diskurs bisher eher randständig bearbeitetes Feld. Mit dieser kritischen Lernmaterialien-Analyse leistet sie eine wertvolle Bildungs- und Aufklärungsarbeit.
Zum Abschluss ihrer Arbeit formuliert die Autorin zusammenfassend Fragen, die sich auf die Grundaussagen ihrer Arbeit beziehen und die theoretischen und praktischen Auseinandersetzung zu diesem Bildungsbereich anregen sollten:
- „Welche Jugendlichen werden als Migranten angesehen, wie werden sie charakterisiert und von den anderen Jugendlichen unterschieden?“
- „Welche Beziehungen werden zwischen migrationsanderen Jugendlichen und dem Lerngegenstand sowie seiner Didaktisierung hergestellt? Wie wird, bei einer nicht personalisierenden Betrachtung, Interkulturalität auf das Lernen über und aus dem Nationalsozialismus bezogen?"
- „Was gilt als das allen Zukommende in Bezug auf das Lernen über Holocaust und Nationalsozialismus, und erscheint es nur über die Differenzierung in Deutsche und Migranten erlernbar beziehungsweise lehrbar?“.
- „Welche migrationsspezifischen Phänomene treten auf, und finden dabei Differenzierungsmechanismen Anwendung, die zur diskursiven Reproduktion von Migrationsanderen beitragen?“.
Die Antworten darauf sollen natürlich nicht als „Rezepte“ gelesen werden; vielmehr zeigt sich in einer Einwanderungsgesellschaft – wie in jeder funktionierenden, demokratischen und freiheitlichen lokalen und globalen Gemeinschaft – dass Lernen sich immer als Aufforderung zur Verhaltensänderung vollzieht und dass eine gelingende, humane Integration niemals als Einbahnstraße und schon gar nicht mit Ordre-Mufti-Postulaten daher kommen dürfen, sondern immer einem Wandlungs- und Veränderungsprozess unterliegen, an dem sich alle Mitglieder einer Gesellschaft beteiligen sollten. Im interdisziplinären, wissenschaftlichen Diskurs wird diese Herausforderung aktuell engagiert angegangen (vgl. z. B. dazu: Ursula Bertels, Hrsg., Einwanderungsland Deutschland. Wie kann Integration aus ethnologischer Sicht gelingen?“, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17565.php).
Fazit
Der Blick darauf, ob und inwieweit, angesichts der Entwicklung Deutschlands als Einwanderungsland, eine Neuorientierung der didaktischen und methodischen Konzepte einer „Erziehung nach Auschwitz“ erforderlich ist und wie diese rassismuskritisch gestaltet werden solle, zeigt eine Reihe von Wirklichkeiten auf, die es zu bedenken und zu verändern gilt, z. B. „das Fortleben des Abstammungsdenkens“, das einerseits für eine Identitätsbildung notwendig ist, andererseits aber „auch Identitäten als primordial gedachte( ) Deutsche, Türken, Muslime, usw.“ ermöglichen muss. Die in der Diskursanalyse ermittelten Ergebnisse sind irritierend und aufschlussreich zugleich, nämlich „dass die epistemischen Grundlagen des traditionellen und völkisch fundierten Migranten-Diskurses quasi unverändert und lediglich umgewertet im Diskurs über das Lernen über den Nationalsozialismus fortbestehen“. Dies muss im disziplinübergreifenden, wissenschaftlichen Diskurs wie in der bildungspolitischen und pädagogischen Praxis aktive Herausforderungen bewirken. In der Lehrerausbildung (leider bisher kaum in der Lehrerfortbildung!) gibt es Ansätze dazu, die es zu beachten gilt (Elisabeth Rangosch-Schneck, Lehrer – Lernen – Migration. Außen- und Innenperspektiven einer „interkulturellen Lehrerbildung“, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14006.php).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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