Sabine Doerner: Widerstände beim Übergang von der Kindertageseinrichtung [...] Kind mit Down-Syndrom
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 17.07.2015
Sabine Doerner: Widerstände beim Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule für ein Kind mit Down-Syndrom. Eine mikroanalytische Fallstudie aus der Perspektive des Kindes, der Eltern und der Professionellen. Projekt Verlag (Bochum) 2015. 62 Seiten. ISBN 978-3-89733-353-6. D: 9,90 EUR, A: 10,20 EUR, CH: 14,90 sFr.
Thema
Der Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule hat eine hohe Bedeutung. Es kommt vor, dass sich die Erwartungen und Vorstellungen von Eltern von Kindern in besonderen Ausgangslagen zu denen der Pädagogen unterscheiden. In diesem Spannungsfeld streben Eltern die soziale Partizipation ihres Kindes in der Regelschule an, demgegenüber steht der Fokus mancher Pädagoginnen auf die Defizite des Kindes. Die vorgelegte Fallstudie analysiert den Übergang eines Kindes mit Down-Syndrom von einer Kindertagesstätte der Behindertenhilfe in die Regelschule.
Autor
Sabine Doerner hat an der Hochschule Frankfurt „Frühkindliche inklusive Bildung“ studiert. Sie ist heute freie Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist im A 6 Format erschienen. Es umfasst 62 Seiten und gliedert sich in acht Kapitel.
- Einleitung
- Bedeutung von frühkindlicher Bildung
- Übergang
- Untersuchungsdesign
- Analyse der Interviews
- Fazit
- Ausblick
- Literatur
Das erste Kapitel führt in das Thema ein und im zweiten Kapitel wird die Bedeutung von frühkindlicher Bildung skizziert. Diese Skizze beginnt mit einem bildungspolitischen Diskurs, bei dem es um die Frage geht, wie es gelingt Ungleichfaktoren frühmöglich zu kompensieren, was nicht nur für Kinder mit Behinderungen gilt.
Im dritten Kapitel Übergang wird darauf verwiesen, dass es an der Schwelle vom Kindergarten in die Schule viele Unsicherheiten gibt.
Das vierte Kapitel skizziert das Untersuchungsdesign und erläutert die Datenerhebung und die Forschungsmethoden.
Im fünften Kapitel werden die Interviews analysiert. Das erste Interview wird mit Leonie geführt (was sie von der Schule weiß und erwartet), im zweiten geht es um die Perspektive der Eltern, das dritte Interview wird mit der Kindertageseinrichtung und der Logopädin von Leonie und das vierte Interview wurde mit der Grundschullehrerin geführt. Bis auf das Interview mit Leonie werden alle Interviews als problemzentrierte Interviews geführt und mittels des „rekonstruktiven Verfahrens der Dokumentarischen Methode (DM)“ ausgewertet. Ziel ist das implizite handlungsleitende Wissen der Akteure herauszuarbeiten. Mit dieser Methode können Handlungsmuster deutlich werden, die die tägliche Praxis strukturieren. Es wird nicht der Realität des Befragten nachgegangen, sondern wie diese von ihm hergestellt wird (S. 30). In der Analyse geht es neben dem, „was“ gesagt wurde auch darum, „wie“ es gesagt wurde. In einem dritten Schritt wurde aus jedem Interview die „sinngenetische Typenbildung“ herausgearbeitet. Für die Eltern ist sinnstiftend, dass sie sich engagieren, um Normalität zu erreichen. Das Interview mit der Kindertageseinrichtung und Logopädin mündete in der sinngenetischen Typenbildung, das die Förderschule ein Schonraum darstellt und das Interview mit der Grundschullehrerin ergab, dass die Förderschule eine geeignete Option der Beschulung ist.
Das sechste Kapitel formuliert ein Fazit und das Buch schließt mit dem Ausblick und Literaturverzeichnis ab.
Diskussion
Es ist von zentraler Bedeutung, dass am Übergang von einer Kindertagesstätte in die Regelschule alle Akteure beteiligt sind. Diese mikroanalytische Fallstudie kommt zu dem Ergebnis, dass es ein Spannungsfeld zwischen den pädagogisch Tätigen (Erzieherinnen und der Lehrerin) auf der einen Seite und den Eltern auf der anderen Seite gibt. Die Eltern streben eine soziale Partizipation ihrer Tochter in der Regelschule an, die Pädagoginnen legen den Fokus auf die Defizite von Leonie und definieren damit implizit die Förderschule als geeignetere Form der Beschulung für ein Kind mit Down-Syndrom. An dieser Stelle dokumentiert sich ein Konflikt zwischen Elternwille und Einrichtungsempfehlung (stehen sich konträr gegenüber mit der Folge, dass man sich gegenseitig aneinander abarbeitet und sich dadurch gegenseitig im Weg steht). Die Schwierigkeit liegt unter anderem darin, dass noch immer am „Leistungsvergleich innerhalb einer weitestgehend altershomogenen Gruppe als Referenzwert“ (S. 54) festgehalten wird. Kinder wie Leonie bleiben bei solchen Vergleichen auf der Strecke, weil sie in keine normative Wertetabelle hineinpassen.
Ich stimme mit der Autorin überein, dass dringend ein Umdenken erfolgen muss, bei dem die Stärken gefördert werden, statt zu versuchen, die vermuteten Defizite zu kompensieren. Kinder wie Leonie müssen im Sinne der Inklusion die Möglichkeit haben, ihre eigenen Wege zu wählen wie andere Kinder auch. Dabei ist es wichtig, die kindliche Identität zu wahren und die Stärken zu unterstützen. Unsere Bildungssystem hat heute leider immer noch ein anderes Ziel: es will leistungsfähige Erwachsene produzieren (S.54).
Die Autorin arbeitet heraus, dass Leistungsstandmessungen (die mittlerweile schon in Kindertagesstätten durchgeführt werden) nicht dazu führen, Kinder mit besonderen Ausgangslagen zu fördern, sondern dazu, dass diese aus dem Regelschulsystem ausgeschlossen werden – eine falsche Entwicklung im Zeitalter der Inklusion!
Fazit
Der Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule hat eine hohe Bedeutung. An dieser Schnittstelle bedarf es einer genauen Betrachtung. Nicht selten kommt es vor, dass sich die Erwartungen und Vorstellungen von Eltern von Kindern in besonderen Ausgangslagen zu denen der Pädagogen unterscheiden. In diesem Spannungsfeld streben die Eltern von Leonie die soziale Partizipation ihres Kindes (mit Down-Syndrom) in der Regelschule an, demgegenüber steht der Fokus der Pädagoginnen auf die Defizite des Kindes. Es bedarf Angebote, die den Prozess der Inklusion begleitend beraten. Unterstützend wirkt die Fähigkeit eines wertschätzenden Dialogs mit den unterschiedlichen Akteuren. Diese mikroanalytische Fallstudie gibt Einblicke in Widerstände im Spannungsfeld zwischen Eltern, Kindertageseinrichtung und Grundschule.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 17.07.2015 zu:
Sabine Doerner: Widerstände beim Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule für ein Kind mit Down-Syndrom. Eine mikroanalytische Fallstudie aus der Perspektive des Kindes, der Eltern und der Professionellen. Projekt Verlag
(Bochum) 2015.
ISBN 978-3-89733-353-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18599.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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