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Klaus Farin (Hrsg.): Kerl sein. Kulturelle Szenen und Praktiken von Jungen

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Rabe, 28.12.2015

Cover Klaus Farin (Hrsg.): Kerl sein. Kulturelle Szenen und Praktiken von Jungen ISBN 978-3-943774-36-8

Klaus Farin (Hrsg.): Kerl sein. Kulturelle Szenen und Praktiken von Jungen. Archiv der Jugendkulturen Verlag KG (Berlin) 2014. 355 Seiten. ISBN 978-3-943774-36-8. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,50 sFr.

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Thema

Eigentlich wussten wir schon immer: Es gibt nicht ‚die Jugend‘, und auch gibt es nicht ‚die Jungen‘. Die einschlägigen Studien um Shell, Sinus und JIM im Umfeld der Veröffentlichungen um jugendliche Subkulturen haben unsere Eindrücke auch immer wieder bestätigt. Das Thema ist uns also nicht gegeben, sondern aufgegeben: Wir müssen Jugendliche suchen, um sie verorten zu können. Und wir können feststellen, dass die Heranwachsenden sich voneinander abgrenzen (wollen): Jugend ist in Szenen verortet; Jungen leben in Szenen. Und diese Szenen folgen nicht den angestaubten romantischen Vorstellungen der West Side Story, und es gibt auch mehr als bloß die Polaritäten von Mods und Rockers – so wie früher. Das Ganze ist unübersichtlich und überbordend. So stehen vielleicht noch Mods neben Rockern, aber es stehen auch Hippies gegen Skinheads oder Emos neben Punks; und es gibt Raver und Heavy Metalists, Psychobillies und Hardcorer, New Romantics und Straight Edger, Sprayer und Skater, Gothics und Rollenspieler, Egoshooter und Blogger, Tough Mudders und Szenegänger. Es gibt die Risikoszenen um die Artisten der Fixies, der Traceurs und der Kletterer, aber auch die Jungs der Inner Circles von Sport und Politik – und das ist nur ein sehr ungefährer Einblick.

Über einige dieser Szenen wird im Sammelband die Rede sein, über andere nicht.

Herausgeber

Die beiden Herausgeber sind absolut szenekundig und vielfältig einschlägig ausgewiesen:

Klaus Farin ist Mitgründer des Archiv der Jugendkulturen (1997), in dessen Verlag auch das zur Rezension anstehende Werk veröffentlicht ist. Er hat als einer der ersten Autoren in Deutschland Jugendliche über sich selbst reden lassen: Krieg in den Städten (1991) und damit Akzente in der Sozialforschung gesetzt. Bis heute sind knapp 30 weitere meist einschlägige Veröffentlichungen erfolgt. Ergänzt werden kann diese Liste mit dem Hinweis auf Mitarbeit und Herausgabe mehrerer Zeitschriften und auf Hörfunkproduktionen.

Der Erziehungswissenschaftler Kurt Möller ist habilitierter Hochschullehrer für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit an der Hochschule Esslingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gewalt, Jugendkulturen, Rechtsextremismus, Fremden- und Menschenfeindlichkeit mit zahlreichen Veröffentlichungen zu diesen Themen, zuletzt Mitarbeit an: Kerlekulte. Inszenierung von Männlichkeit der Projektgruppe Mannopoly (2012). Außerdem ist er Mitherausgeber einer Schriftenreihe zur Konflikt- und Gewaltforschung und Mitglied in mehreren Beiräten in diesem Themenfeld.

Aufbau

Nach einer Einleitung und vor dem Fazit versammelt der Reader 17 Beiträge in acht Themenblöcken: Ghetto, Sport, Sexualität, Gewalt, Multikulti, Männlichkeit, Spaßgesellschaft. Also wird jeder dieser Blöcke von zwei Beiträgen bedient mit Ausnahme der Männlichkeit: Hier sind es drei. Zur Einführung liefert die Leitfigur der deutschen Sozialpädagogik, Lothar Böhnisch, einen inhaltlichen Beitrag zu Cliquen; das Fazit des Mitherausgebers Kurt Möller fasst die unterschiedlichen Szenen und Praktiken als Entwürfe zu einer Pluralität von Männlichkeiten zusammen. Einleitung und Fazit liefern nicht nur analytische Eckdaten zum Thema, sondern diskutieren auch Aufträge, die die Soziale Arbeit mit Jungs übernehmen könnte, um die Risiken der Szenezugehörigkeit pädagogisch zu begrenzen. Einige der Einzelbeiträge folgen diesem Beispiel.

Das Layout kennzeichnet den äquivoken Titel durch die Invertierung von ‚Er‘ in ‚Kerl‘. Das kann man programmatisch verstehen. Männlich sein (Er sein) heißt auch: ganz männlich sein (Kerl sein).

Blicke in das Inhaltsverzeichnis liefern erste Erklärungen des etwas sperrigen Untertitels: Kulturelle Szenen und Praktiken von Jungen. Wenn es um Szenen und um Praktiken geht, erfahren wir also, wo die Jungs sind – in Szenen und was die Jungs tun – welche ihre Praktiken sind. Das eine muss mit dem anderen nichts zu tun haben: Ultra sein geht nur mit anderen und in einem spezifischen Umfeld (in einer Szene) – Pornos kucken kann man auch gut allein: Beides kann aber spezifisch männliche Attitüden aufzeigen.

Inhalt

In seiner Einführung ‚Cliquen machen Männer‘ will Lothar Böhnisch nicht in das Buch, sondern in das Thema Cliquen und Jugendkulturen einleiten: Clique ist der originäre Ort der Gleichaltrigenbeziehung von Jungs. Die Darstellung beginnt mit der Darstellung eines geschlechtsspezifischen Ablöseprozesses von der Mutter; Böhnisch konstatiert eine medienvermittelte Idolisierung des Mannseins. Der Weg in die Clique sei so gleichsam vorgezeichnet und die männlich dominierte Peergroup der Normalfall, um endlich ‚unter Männern‘ sein zu können. Dabei sei diese Orientierung ‚am Mann‘ nur eine, denn Jungen wollen auch ‚nur jung‘ sein: Sie wollen nur spielen. Der männliche Habitus entwickle sich nebenbei. Böhnisch bezieht sich auf Strukturen männlicher Hegemonialität, die am Ende durch den Mitherausgeber Möller wieder aufgegriffen werden. Er zeigt die Clique als Gruppe, in der sich ein Wir entwickelt, das von der Jugendpädagogik erkannt werden muss und das - bei Anerkennung eines spezifischen jungenspezifischen Risikoverhaltens – vor Devianz und Delinquenz geschützt werden muss: Die Vermittlung von Risikokompetenz ist angesagt, weil die Lust am abweichenden Verhalten Kennzeichen des Jungeseins sein kann.

Den ersten inhaltlichen Schwerpunkt In the ghetto eröffnet der Mitherausgeber Klaus Farin mit einem Versuch über Straßenkultur. So heißt auch sein Beitrag, der die Kiezszene Berlin-Neuköllns fokussiert und die alltägliche Realität unterprivilegierter Jugendlicher als Gegenkultur kennzeichnet. Die Jugendlichen seien von Exklusion bedroht und von traditionellen Herangehensweisen der Bürgergesellschaft nicht mehr zu erreichen. Ihre Werte seien Maskulinität, Gewalt, Ehre, Kriminalität, Respekt, das Wir: Kennzeichen der einzigen Ressource, auf die die jungen Männer vertrauen.

Als zweiten Beitrag aus dem Ghetto verstehen Matze Jung und Christian Schmidt ihren Beitrag über Männlichkeiten in der Hiphop-Kultur: Nur ein Junge von der Straße. Die beiden beleuchten zwei Ausdrucksformen dieser Szene – Rap und Graffiti –, die sie aus der Hiphopkultur herleiten, die ihrerseits ihren Ursprung in der New Yorker Bronx der 60er Jahre habe. Auch hier geht es um ein Spannungsverhältnis von hegemonialer Männlichkeit und ‚Queer‘-Verhalten. Gerade die Sprayer bilden Männerbünde um die Ideale von Illegalität und Gefahr, von Wagemut und Crew-Solidarität.

Der zweite Schwerpunkt des Sammelbandes ist ‚Sport‘: Nur Sport?

Zunächst beschreibt Florian Neuscheier in seinem Beitrag Ultras! No Fans: Mannhaftigkeit in der Ultraszene. Er umreißt die Geschichte der aus Italien stammenden Szene und schließt mit dem differenzierenden Fazit, dass im Umfeld der Aktivitäten in und um Fußballstadien herum nicht nur deviante Männlichkeit rund um Alkohol, Gewalt und Landfriedensbruch zelebriert werde, sondern dass gerade in den mittel- und oberschichtsorientierten Jungenbünden Gelegenheiten geboten und genutzt werden, traditionelle Männlichkeitsbilder zu hinterfragen.

Renato Liermann fokussiert im zweiten ‚Sport‘-Beitrag Männliche Körperkulturen: Bodybuilding und Fitness. Zunächst werden die unterschiedlichen Dimensionen von Körperkult entfaltet – eine Praxis, die in verschiedensten Szenen praktiziert werde als Ästhetisierungsmoment des Schönen, des Athletischen und des Fitten als besondere Orientierung am durchgebildeten Körper, in dem ein gesunder Geist steckt. Danach konkretisiert Liermann auf die Fitness- und Bodybuilding-Bereiche, die Orte individueller Körperarbeit (Praktiken) seien und über die man sich in Chats austausche (Szenen?). Die pädagogische Herausforderung sieht Liermann in der Unterstützung einer positiven Haltung zu einem definierten Körperselbstbild diesseits des Muskelmanns.

Der dritte Schwerpunkt des Bandes setzt sich unter der Überschrift Welche Sexualität? mit Pornographie und Männlichkeitsbildern jenseits der Norm auseinander.

Zunächst beschreibt Jörg Mitschke Jugend und Pornographie: Herausforderungen für die sexualpädagogische Arbeit mit Jungen. Nicht die Praktiken, sondern die pädagogische Arbeit steht für den Autor im Vordergrund. Tatsächlich geht es zunächst eher um Jugend und Sex als um Jungen und Pornographie. Erst im Anschluss wird der alltägliche Konsum beschrieben (Praktiken). Es gibt keine Pornoszenen. Als pädagogische Herausforderung formuliert Mitschke eine Einladung zum reflektierenden Gespräch, für dessen Strukturierung er Anregungen von pro familia wiedergibt.

Danach beleuchten Jonathan-Rafael Balling, Marco Kammholz und Jakob Reineke ihre Aussichten auf Männlichkeiten jenseits der Norm: Von Tunten, Dragkingz, Bitches und Trans*. Ihnen geht es um Darstellung der unterschiedlichen sexuellen Entwürfe eines queer movements, das Geschlechtsidentitäten differenzieren will, wobei schon der Terminus Geschlecht Auslegungssache sei. Das ‚sich zeigen‘ kann in Szenen passieren, muss aber nicht: es ist auch als ‚Praktik‘ möglich, die sich woanders ausleben lässt. Die gleichsam natürliche Folgefrage kreist darum, was denn dann männlich sei. Im Anschluss werden sexualpädagogische Folgerungen gezogen: Gender als Querschnittsthema der Sozialen Arbeit.

Von der Sexualität geht’s zur Gewalt: Nix als Gewalt. Auch hier wird in zwei Beiträgen zunächst eine spezifische Szene beschrieben und danach der pädagogische Umgang mit denjenigen Jungs thematisiert, die Gewalt derart als ‚Praktik‘ gelebt haben, dass sie darüber straffällig geworden sind. Claus-Dieter Schulz, Uwe Wendt und Sabine Lothmüller beschreiben in ihrem Beitrag WOW, Star Wars &Co unterschiedliche elektronische Spielkulturen. Ihnen geht es um die gewaltaffinen Szenarien der Online-Rollenspiele rund um das bekannte World of Warcraft (WOW). Sie sehen, dass die Spieler in der Regel Jungs sind, dass diese zu jung mit dem Spielen angefangen haben und dass sie auf Communities mit spezifischen Verkehrsformen angewiesen sind, wenn sie tatsächlich online und mit spezifischen Identitäten in die Spielewelt abtauchen wollen. Das mache eine pädagogische Zugehensweise schwierig und verlange Sachkenntnis - auch was die Durchdringung der Spielewelt selber betrifft.

Thomas Mücke schreibt in Verantwortung übernehmen – Abschied von Hass und Gewalt sein Konzept eines Coaching für ideologisierte jugendliche Gewaltstraftäter. Ihm geht es natürlich nicht um Szenen, sondern um den Umgang mit vergangener habitualisierter Praktik von Gewalt. Dazu analysiert er Gewaltkarrieren, um den Motiven und den Ursachen auf die Schliche zu kommen. Im Anschluss beschreibt er dann sein Programm eines nicht-konfrontativen Coachings, das sich auch auf die Zeit nach der Haftentlassung ausdehnt und das er als Beitrag zur politischen Bildung versteht – mit dem Ziel, durch direkte Arbeit mit den Tätern zukünftige Opfer zu vermeiden.

Unter der Überschrift Politik oder mehr? werden im Anschluss zwei extreme Positionen der jugendpolitischen Szenen beschrieben: Die Autonomen und die extremen Rechten.

Sebastian Haunes überlegt: Wie male ich einen Autonomen? und beschreibt Männlichkeitsbilder auf Plakaten der autonomen Bewegung. Allerdings sind dieser Bilder älter – sie stammen großenteils von Plakaten aus den Neunziger Jahren des letzten Jahrtausend und den ersten Jahren danach - und sie zeigen ein spezifisches Bild von Kämpfernaturen. Weniger geht es um Jugend und um Szenen: Mehr geht es um den antiimperialistischen Kampf.

Der Folgebeitrag zum Thema stammt von Nils Schumacher: Zwischen ‚Toughness‘ und ‚Bodywork‘: Inszenierungen von rechten Männlichkeiten. Auch hier geht es um (politischen) Kampf und um (alltägliche) Gewalt. Die Szenen haben sich im Lauf der letzten Jahrzehnte immer weiter ausdifferenziert; sie produzieren unterschiedliche Typen von Männlichkeit: Skins und Hools, Hardcore und HipHop-Adepten, die auch ganz normal im bürgerlichen Alltag mitschwimmen können und nur dann und wann als Aktivisten auftauchen. Die unterschiedlichen Bilder werden illustriert.

Abschnitt 7 beschäftigt sich mit Multikulti?

Zunächst geht es um Jungskulturen junger Muslime: Zwischen Alltag und Koran. Der Beitrag von Götz Norbruch unterscheidet die zahlreichen Erkenntnisse, die wir über den Alltag junger weiblicher Muslime haben von der wenig differenzierten Erkenntnislage bei ‚den Jungs‘. Der Beitrag will dem Desiderat abhelfen und weitere Erkenntnisse zu den Rollenbildern dieser Heranwachsenden zusammenfassen, ohne dabei die Moslemjungs als eine homogene Gruppe oder gar als eine Szene dingfest machen zu wollen. Stattdessen erläutert er spezifische rigide Männlichkeitsbilder, das Bewusstsein der eigenen gesellschaftlichen Marginalität und ein mitunter demonstratives Bekenntnis zum Islam, das er allerdings konsequent von den schablonenhaften Rollenmustern und orthodoxen Chiffren der salafistischen Szene trennt.

Als zweite Gruppierung rund um Multikulti werden von Steffen Zdun Kulturelle Praktiken männlicher Russlanddeutscher ermittelt, wobei der Autor von der These ausgeht, dass sich spezifische Szenen und besondere Praktiken, die zu den Zeiten des erheblichen Zuzugs um die Jahrtausendwende entwickelt haben, aufzulösen beginnen. Dennoch ließe sich eine spezifisch russlanddeutsche Form von ‚Straßenkultur‘ ausmachen, die durchaus Strukturmomente der Herkunftsgesellschaft aufweise und traditionelle Männlichkeitsbilder rund um Stärke und Standfestigkeit hervorbringe, mit deren Hilfe sich die Jungs selbst inszenieren wollen. Allerdings könne man davon ausgehen, dass die mitunter abweichenden, auffälligen, devianten oder sogar delinquenten Verhaltensweisen passagere Phänomene seien, die sich im Übergang in die Erwachsenengesellschaft gleichsam auswachsen würden.

Nummer 8 liefert drei weitere Blicke auf den Kontext von Gender, Sexualität und erotischer Orientierung: Schwul, bi, androgyn?

Der erste Beitrag in diesem Kontext stammt von Jörg Freitag und Ralf Mahlich: Wie männlich sind Clubkultur und Partyszene? Die Autoren beschreiben die Situation von Jugendlichen in Clubs, also den Orten, an denen Jugendliche zusammenkommen, um zu aktuellen Musiktrends zu tanzen oder zu chillen. Als aktuell angesagt machen sie die elektronische Tanzmusik um House und Techno aus, die sich in den letzten dreißig Jahren zu einem ‚jugendkulturellen Mainstream‘ entwickelt habe, einem Sozialraum des Feierns, der fernab von eindeutigen Genderverhalten eine halbwegs friedliche Gemeinsamkeit ermögliche. Es gebe eine ‚queer‘-Entwicklung, die das verdeutlicht. Also gibt es auch keine ausgeprägte Männlichkeit bei den Jungs, sondern emanzipatorische Entwicklungen und eine festgestellte Experimentierlust.

Danach beschreibt Peter Rüttgers Emos: Dünne Jungs in Mädchenhosen? Die Emo-Jungs sind ‚emotional‘: Sie zeigen Gefühle, kleiden sich eher androgyn und liefern die Alternative zu jedem klassisch orthodoxen Männlichkeitsbild. Der Autor beschreibt die Szene als im Internet fest vernetzt, die eine liberale Form sexueller Orientierung entwickle und sich äußerlich und im Verhalten und den Ansichten vom Mainstream abgrenze. Deshalb wird sie auch von den Szenen der traditionellen Männlichkeitsrituale als ‚das Andere‘ angegangen und unter Generalverdacht gestellt: Emos werden als ‚leichte Beute‘ gesehen und gedisst. Am Schluss stellt Rüttgers die Überlegung an, ob die Emo-Jungs womöglich die moderne Männlichkeit verkörpern.

Der letzte Beitrag in dieser Reihe ist Visual Kei, Manga, Anime und Cosplay. Marcel Eulenbach und Dominik Wagner zeigen Japanische Populärkultur in Deutschland und ihre Rezeption durch Jungen und junge Männer. Die beiden Autoren bemühen sich zunächst in einer ‚theoretischen Skizze‘ um eine weitere Definition von Jugend. Danach beschreiben sie ‚doing gender‘ als soziale Konstruktion geschlechtlicher Orientierung. Sie stellen die aktuellen Jugendszenen als marktwirtschaftlich orientierten Mainstreams vor und zeigen, dass die Japanbegeisterung rund um die Visualisierung von Visual Kei, Manga, Anime und Cosplay, den fernöstlichen Medienprodukten mit direktem Bezug zu den dortigen Jugendkulturen, als Suche nach einer Alternative verstanden werden kann – auch wenn das marktwirtschaftliche Moment in Japan genau so greift: Diese Szenen sind da mainstream. Auffällig ist das androgyne Moment der Szenen, das Spiel mit dem Geschlecht, das Crossdressing. Diese Jugendmedienszene ist nicht von Jungs dominiert und Jungs treten auch nicht besonders in Erscheinung. Die Szene bietet Ansatzpunkte für eine pädagogische Auseinandersetzung mit ‚Heteronormativität‘.

Den letzten Szeneschwerpunkt bildet die Frage nach Nur Fun?

Zuerst beschreibt Philip Lorig Straight Edge zwischen Selbstermächtigung und Remaskulinisierung unter der Überschrift Drogenfrei, aber Mann dabei. Wir lernen Straight Edge als eine neue Form von Askese kennen – als Ausweg aus dem Alltag von Drogen, Konsum, Sexualität und Verschwendung. Straight Edge wird als eindeutig männerdominierte Szene beschrieben, als eine neue Form von ‚hard core‘, die sich vom Punk und dem klassischen Hardcore abgrenze. Frauen spielen eine untergeordnete Rolle in dieser ‚homosozialen Männergemeinschaft‘ mit archaischen Mannbarkeitsriten undeinem strikten Ehrencodex um Reinheit und Disziplin. Hier mischt sich für Lorig eine neue Form harter Männlichkeit mit homosexuellen Attituden. Möglicherweise werde der Anspruch auf ‚queer‘ durch eine Revitalisierung traditioneller Männlichkeitsbilder konterkariert.

Den inhaltlichen Abschluss liefert Nothing but a beatdown von Cord Dette. Dette schreibt von echten Kerlen, ganz viel Härte und dem Versuch sich als Mann zu finden. Es geht – nach einer weiteren ‚Kultur‘-definition – um die Darstellung einer spezifischen Ausprägung innerhalb der Hardcore-Szene, die durch Männlichkeitsrituale, programmatischen Sexismus und Gewaltaffinität auffällt. Bei den Konzerten der einschlägigen Bands komme es beim hauptsächlich männlichen Publikum zum nahtlosen Übergang vom Tanz zur Tat. Dette sieht in diesem Umfeld von zumindest latenter Gewalt eine herausfordernde Aufgabe von Jugendarbeit, der man sich stellen müsse, um nicht in die Reihe der Zensoren gestellt zu werden. Deshalb formuliert er: So ist doch eine der größten Errungenschaften der Demokratie die freie Meinungsäußerung…

Und die Bilanz?

Der Mitherausgeber Kurt Möller formuliert diese Bilanz am Ende in seinem Artikel Jugendkulturen als Jungenkulturen und zeigt zentrale Kennzeichen und Entwicklungen auf. Jugendkulturen entstünden nicht zufällig, sondern seien Kinder der Zeit: Sie erfüllen eine gesellschaftliche Funktion, indem sie Identität stiften helfen und dem Bedürfnis nach Diskriminierung nachkommen. Gleichzeitig gehe es in den Szenen um eine differenzierende Auseinandersetzung und Umwidmung von Männlichkeitsbildern – um eine Ästhetisierung von gender: Es gibt ein Spiel um neue und alte Chiffren und Konnotationen der Rolle von ‚Mann‘ in der Gesellschaft. Und auch gehe es – so Möller - um Distinktion. Als Szeneangehöriger kann man sich in seinem Style und seinen Attituden von anderen außerhalb unterscheiden, von anderen Szenen, von Mädchen, von der Erwachsenenwelt. Und das Ganze kann zum Spiel mit der Männlichkeit werden, wenn diese Bilder modularisiert werden und von den Jungs in unterschiedlichen Kontexten verschieden ausgelebt werden. Jugendarbeit kann sich diesen Optionen der Jungenszenen öffnen und die Jungenkulturen als Avantgarde neuer Verständnisse von Männlichkeit, Mannhaftigkeit und Geschlechterbeziehung wahrnehmen. Szenen sind auch eine Chance und nicht nur das Risiko.

Diskussion und Fazit

Zur Einführung fasst Böhnisch seine grundlegenden Forschungen zum Thema Jungen in Cliquen noch einmal zusammen und sieht eher die Clique als den einzelnen Jungen als das jugendtypische Agens devianten Verhaltens. Diese Erkenntnis lässt sich auf mehrere Szenen beziehen, die in den Beiträgen des Bandes vorgestellt werden – allerdings nicht auf alle (Emos / Straight Edger). Deswegen geht es auch nicht ausschließlich um Jungs und Devianz, und es geht auch nicht unbedingt um pädagogischen Umgang mit Devianz.

Auf jeden Fall betrifft es die Straßenkulturen im Beitrag Farins, in denen sich die devianten Chancenlosen organisieren. Natürlich betrifft es auch die HipHop-Kultur der Bronx und ihrem Zitat im Gangsta-Rap und in gewisser Weise auch der Graffiti-Szene, die Jung und Schmidt vorstellen, wobei letzterer Performance bei aller Illegalität ein gewisses Maß an sportlichem Wettbewerb zugeschrieben werden muss: Hier ist Devianz ein passageres Phänomen. Das zeigen die Bilddokumentationen sehr schön. Der Beitrag über die Ultras arbeitet sehr genau die kreativen Potenziale heraus, die in dieser kulturellen Szene stecken, auch wenn die Öffentlichkeit dem ‚Kulturellen‘ der Bengalos und der Inszenierungen der Choreos lautstark widerspricht. Dass hier pädagogisch relevante Folgerungen unterbleiben, ist nur folgerichtig und angemessen.

Die folgenden Beiträge zur Fitness und zum Pornographiekonsum fallen etwas aus der Reihe, weil beides eher weniger ein Szenephänomen ist und auch wahrscheinlich nicht von Devianz geprägt. Wenn Devianz Kennzeichen einer Szene ist, findet man auch in den beiden anschließenden Beiträgen zu den ‚Männlichkeiten jenseits der Norm‘ und den Egoshootern zwei eher szeneunabhängige Phänomenen, die sich im Verborgenen (des Internet, der Clubs) materialisieren – und das das Coaching von Straftätern beschreibt den pädagogischen Umgang mit einer möglichen Folge von Devianz: Nämlich Delinquenz. Autonome und Rechte wollen deviant sein – das ist ein Ausdruck ihrer Ideologie, und sie leben von der Szene. Das ist ein genauso passageres Phänomen wie der Szenegang der Jungen mit Migrationshintergrund. Die können wahrscheinlich eher durch sozialarbeiterische Intervention erreicht werden als die politisch Radikalisierten, die ihren Untergrund idealisieren. Die Jungs in Clubs und die Emos dürften eher keiner einheitlichen Partyszene zuzuordnen sein und sie sind wahrscheinlich auch nicht betreuungsbedürftig. Gleiches könnte von den wahrscheinlich eher wenigen Manga-Adepten gelten und auch von den Straight Edgern. Soweit zu den unterschiedlichen Jungsszenen mit unterschiedlichem Hang zur Devianz und zu devianten Verhalten. Wie sind die Beiträge organisiert?

Die Herausgeber treten aktiv ordnend nur bedingt in Erscheinung. Zwar liefern sie wichtige inhaltliche Beiträge (einer fungiert als Fazit), aber sie weisen keinen Auftrag des Bandes aus, liefern keine Einführung und zeigen nicht auf den Verwendungssinn des Bandes. Wer sind die Zielgruppen? Was soll gezeigt werden? Sind das alle Jungenszenen, die es gibt? Sind alle Jungs in Szenen groß geworden? Gehört jeweils einer nur einer Szene zu? Das sind Fragen, die dem Rezensenten einfallen und auf die er nur bedingt Antwort erhält, auch nicht in der Einführung, die keine wirkliche Einleitung ist, sondern die das Thema Cliquen (und nicht Szenen) grundsätzlich angeht und dabei ganz nebenbei den Titel des Sammelbandes umdeutet.

Naturgemäß sind die Beiträge eines Sammelbandes unterschiedlich weit reichend, wertvoll und informativ. Das ist auch hier der Fall. Manche Autoren analysieren Szenen, andere beschreiben Praktiken; einige gehen auf jugendlichen Mainstream, andere beschreiben Nischenphänomene. Die Frage nach dem (sozial-)pädagogischen Umgang mit Szeneangehörigen wird immer wieder gestellt, aber eher unsystematisch beantwortet. Und ob die Jungs in ihren Szenen überhaupt von uns Erwachsenen erreicht und dann noch pädagogisch betreut werden wollen, wird eigentlich auch nur in der Einleitung diskutiert. Denn man könnte auch auf die Idee kommen, dass man der Jugend ihren Lauf lassen solle.

Und weil es keine Einführung in den Sammelband gibt, muss man sich den Zusammenhang und die Unterschiede von ‚Szenen‘ und ‚Praktiken‘ erst erarbeiten. Denn – wie eingangs erwähnt – sind die Sprayer natürlich in einer Szene – und natürlich ist der Konsum von Pornographie eine ‚Praktik‘. Was das eine vom anderen unterscheidet, findet der Leser selber heraus.

Und natürlich kann man nicht über alle möglichen Szenen schreiben. Insoweit ist es verzeihlich und nachvollziehbar, wenn die Traceurs auf dem Parcours fehlen und wenn man die politischen, kulturellen und sportorientierten Normaloszenen auslässt. Andererseits wäre es natürlich auch schön, etwas über die wirklich harten Jungs auf ihren Fixies zu lesen (die ja auch im Archiv der Jugendkulturen schon vorkommen). Und wir müssen uns alleine überlegen, warum wir über die einen Jungs etwas erfahren und über die anderen nicht. Ohne eine explizite Begründung für die Auswahl der Szenen und Praktiken und ohne eine Begründung für den Verzicht auf andere Szenen – also ohne eine Relevanzanalyse – wirkt das Spektrum etwas willkürlich gewählt. Das ist schade, weil natürlich die wissenschaftlich abgesicherte Auseinandersetzung mit einer neuen Männlichkeit bei den Jungs wichtige Hinweise enthält für die pädagogische Arbeit mit den Zielgruppen.

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Rabe
ehemaliger Professor für Erziehungswissenschaft an der FH Münster
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Es gibt 19 Rezensionen von Uwe Rabe.

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Zitiervorschlag
Uwe Rabe. Rezension vom 28.12.2015 zu: Klaus Farin (Hrsg.): Kerl sein. Kulturelle Szenen und Praktiken von Jungen. Archiv der Jugendkulturen Verlag KG (Berlin) 2014. ISBN 978-3-943774-36-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18600.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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