Hans-Jürgen von Wensierski, Jüte-Sophia Sigeneger et al. (Hrsg.): Technische Bildung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.03.2015

Hans-Jürgen von Wensierski, Jüte-Sophia Sigeneger, Andreas Petrik (Hrsg.): Technische Bildung. Ein pädagogisches Konzept für die schulische und außerschulische Kinder- und Jugendbildung.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2015.
176 Seiten.
ISBN 978-3-8474-0626-6.
D: 24,90 EUR,
A: 34,00 EUR,
CH: 44,90 sFr.
Studien zur Technischen Bildung, Band 1 .
Lebensbewältigung und -gestaltung in der technischen Zivilisation
Im Bildungsdiskurs, der sowohl von der Erziehungswissenschaft, wie von der Philosophie, der Soziologie, der Psychologie, den Naturwissenschaften und anderen wissenschaftlichen Fachbereichen geführt wird, gibt es bei aller differenzierten Unterscheidung und Schwerpunktsetzung – und jenseits der überholten Vorstellungen von „höherer Bildung“ und praktischem Tun – eine Übereinstimmung: Der anthrôpos, der Mensch, ist nach der anthropologischen Definition ein vernunftbegabtes, bildungsfähiges und -bedürftiges Lebewesen. Ein Blick in ein pädagogisches Handbuch allerdings zeigt, dass die Fragen, was Bildung ist, wie Bildung entstanden ist, sich darstellt und wie die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen den Bildungsbegriff definieren, verschieden behandelt werden. 2011 haben der Leiter des Frankfurter Zentralarchivs und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Goethe-Universität, Michael Maaser und der Historiker von der Bergischen Universität Wuppertal, Gerrit Walther 82 Autorinnen und Autoren um sich versammelt und eine Enzyklopädie herausgegeben, um „diejenigen Ideen kennen (zu) lernen, die unter gebildeten Expertinnen und Experten verschiedener Disziplinen heute gängig sind“. Sie stellen die vielfältigen Konzepte von Bildung vor, die es „in Gegenwart wie Vergangenheit auf verschiedensten Feldern gibt und gab, wie sie sich äußerten, heute äußern und vielleicht künftig äußern werden“ (Michael Maaser / Gerrit Walther, Hrsg., Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12295.php). Bei aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit sind sich die Expertinnen und Experten wiederum darin einig, dass Bildung ein Prozess ist (und nicht etwa ein „Trichter“). Eine weitere Übereinstimmung lässt sich registrieren, wenn wir im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte davon ausgehen können, dass Bildung ein Menschenrecht ist, Bildung also einen Anspruch für alle Menschen darstellt.
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Die wissenschaftliche Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis hat ja auch zu der Crux geführt, dem einen eine „eigentliche“ Bildung mit einem geistigen Wert zuzusprechen, und dem anderen das Odium des bloßen Tuns anzuheften. Die Technische Bildung wird deshalb im bildungswissenschaftlichen Diskurs im allgemeinen der Berufspädagogik zugeordnet. Ein Techniker ist also jemand, der, angezogen mit einer Arbeitskluft, Tätigkeiten ausübt, bei denen sich der Theoretiker nicht die Hände schmutzig macht. Der „höhere“ Techniker, etwa der Ingenieur, trägt zwar meist nicht mehr Arbeitskleidung, sondern kann sehr wohl in einem Anzug daher kommen; aber in der populären, öffentlichen Ansehensskala steht er nicht auf der gleichen Stufe wie der Theoretiker. Diese Auffassungen finden sich im übrigen in allen Gesellschaften wieder. „Weiße-Kragen-Berufe“, und seien es auch nur mechanische Bürotätigkeiten, stehen – in Afrika wie in den westlichen, industrialisierten Ländern – hoch im Kurs.
Diese Einstellungen sind paradox, angesichts der weltweit vollzogenen Entwicklungen hin zu einer technischen Zivilisation, die technisches Wissen nicht mehr nur als praktische Tätigkeiten versteht, sondern ein Be-Greifen im echten Sinne des Wortes erforderlich macht. Der Techno sapiens ist ja keine Zwischenstufe der Menschwerdung hin zum homo sapiens, sondern bezeichnet eine notwendige und konsequente Entwicklung hin zu einer Allgemeinbildung und Lebenskompetenz: „Technisches Handeln weist … die Aneignung technischer Kompetenzen und Auseinandersetzung mit technischen Prinzipien und technischen Problemen stets als grundlegende Bestandteile der sozialen Welt, der Auseinandersetzung mit der Natur sowie der Gestaltung von Kultur und Gesellschaft aus“.
Der Erziehungswissenschaftler Hans-Jürgen von Wensierski und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Jüte-Sophie Sigeneger, beide vom Institut für Allgemeine Pädagogik und Sonderpädagogik der Universität Rostock, legen ein Essay vor, mit dem sie zum Ausdruck bringen wollen, dass technische Bildung nicht nur relevant für Unterricht ist und nicht erst in der Schule beginnen dürfe, sondern ihr „ein differenziertes und kategorisches Konzept von technischer Handlungskompetenz zugrunde liegt“. Sie entwickeln ein wissenschaftliches Konzept für einen vielschichtigen und lebensphasenübergreifenden Bildungsprozess, der didaktisch und methodisch eine fächerübergreifende Kooperation erfordert. Die Arbeit ist Teil eines empirischen Forschungsprojektes, das die Autoren von 2011 bis 2014 im Rahmen des europäischen Förderbereichs „Strategien zur Durchsetzung von Chancengleichheit für Frauen in Bildung und Forschung“ durchgeführt haben.
Aufbau und Inhalt
Wensierski und Sigeneger gliedern das Buch in zwei Kapitel.
Im ersten Teil „Technik, technisches Handeln und Technische Bildung“ werden die Grundlagen, Entwicklungen, Definitionen und Dimensionen von technischer Bildung in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen dargestellt und die Engführung hin zur didaktischen Umsetzung des Bildungsbereichs kritisiert. Rekurrierend auf die bereits in der antiken Philosophie von „technê“ als „Erfahrungswissen“ (Aristoteles) zum Ausdruck gebrauchte Zuordnung, werden drei Dimensionen für technische Sach- und Wissenssysteme genannt:
- Die sozialen Funktionen des technischen Handelns.
- Die Sachdimensionen der Technik.
- Die Prozessdimensionen der Technisierung.
Damit erweitern sie die traditionellen Vorstellungen und Kategorisierungen vom „technischen Wandel“ als technischen Modernisierungsprozess: „Technischer Wandel umfasst auch den gesellschaftlichen Diskurs über die technische Zivilisation im Spannungsfeld zwischen Chancen und Risiken sowie ethischen und ökologischen Grenzen von Zukunftstechnologien“.
Im zweiten (Haupt-)Teil des Buches entwickelt das Autorenteam Grundzüge eines bildungstheoretischen Konzepts für Technische Bildung. Sie begründen den Theorie-Entwurf mit vier zentralen Bildungszielen:
- Lebensbewältigung in der technischen Zivilisation.
- Ausbildung eines technikkulturellen Lebensstils bzw. Habitus.
- Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben.
- Die technische Zivilisation gestalten und weiter entwickeln.
Sie nehmen zuerst eine Bestandsaufnahme über die Entwicklung und den Zustand der technischen Bildung in Deutschland vor. Dabei kommen sie zu der durchaus Beunruhigung verursachenden Einschätzung, dass die in der Geschichte der Bildungsdiskussion eher punktuellen Initiativen zur Inwertsetzung der technischen Bildung, etwa in der Arbeitsschulbewegung, bereits damals allzu geringe, programmatisch und didaktisch wirksame Wirkungen hatten, die sich bis heute fort setzen. Viel zu einseitig stünden dabei ökonomische Verwertungsinteressen im Blick, und viel zu wenig seien im Blickfeld gesellschaftliche, hierarchische, traditionelle und geschlechtsspezifische Bedingungen und die Notwendigkeit zum Perspektivenwechsel hin zu mehr Chancengleichheit in den Lebens- und Tätigkeitsfeldern der Menschen.
Daraus entsteht ein neuer, lebensweltlicher Zugang bei den Kompetenzentwicklungen im Bildungs- und Erziehungsbereich: Technische Kompetenz umfasst mehr als technisches Können; sie kann aber auch nicht den Anspruch zu haben, „Alles-Bildung“ zu sein. Vielmehr kommt es darauf an, Bildung als einen lebenslangen Lernprozess zu verstehen, der es den Menschen in den je individuellen, kollektiven und situativen Lebenslagen ermöglicht, ein gutes, gelingendes, humanes Leben zu führen. Und siehe da: Unter dieser Betrachtung gewinnen die vielfältigen Kompetenzen eine Gleichwertigkeit: „In Anerkennung des Eigensinns und der Heterogenität von Bildungsprozessen, stellt Technische Bildung im Spannungsfeld von Subjekt, pädagogischen Intentionen und historisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen darauf ab, ein möglichst breites pädagogisches Anregungsmilieu zu schaffen, unter Beachtung von Selbstbildungsprozessen und im Bildungshorizont zwischen Notwendigem und Möglichem“.
Wensierski und Sigeneger entwickeln im Rahmen ihres Konzeptvorschlags Leitlinien für die technische Kinder- und Jugendbildung. In den didaktischen Diskurs bringen sie dabei die Prämissen – Projektorientierung, Lebensweltorientierung, Diversität – ein, und spiegeln die Leitlinien am schulischen Fachunterricht in den MINT-Fächern, den Alters- und Schulstufen. Zur Konkretisierung ihres Entwurfs stellen sie Good-Practice-Beispiele aus dem Primar- und Sekundarbereich vor.
Die immer wieder beklagte, bildungspolitische und pädagogische Situation, dass trotz der im Laufe der Jahrzehnte vielfach initiierten Versuche, der technischen Bildung eine den anderen Bildungskompetenzen gleichwertige Bedeutung für die lebenslangen Bildungsprozesse der Menschen zuzugestehen, liegt auch dieser Arbeit zugrunde. Es ist die Erkenntnis, dass Paradigmenwechsel insbesondere in den Bildungstraditionen nicht nur individueller Initiativen brauchen, sondern auch institutionenbezogene und räumliche Schnittstellen, die Veränderungen entwickeln, erproben, propagieren und präsentieren. Für den Bildungsbereich Technische Bildung schlägt das Autorenteam deshalb die Einrichtung eines technikkulturellen Zentrums vor, für das sie einen Strukturentwurf vorlegen. Beim Trend, grundlegende Bildungsfragen nicht mehr alleine den oftmals allzu egoistischen und parteipolitischen Präferenzen der Bildungssouveränität der Bundesländer zu überlassen, wäre durchaus denkbar, ein solches Zentralinstitut als Bundeseinrichtung zu gründen.
Fazit
Technische Bildung ist zivilisatorische Bildung! Dieser Anspruch fällt nicht vom Himmel; vielmehr passt er sich ein in die lokal und global sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Lebenssituationen und -bedingungen der Menschen. Somit kann technische Bildung nicht nur einen Zugang zu einer nachhaltigen Daseinsgestaltung der Menschen ermöglichen und eine Auseinandersetzung mit den positiven und negativen Entwicklungen in unserer (Einen?) Welt anbieten, sondern tatsächlich auch Lebenslehre sein. Denn ist es nicht so, dass die Entwicklung der Technik rasant verläuft und wir darauf achten müssen, dass die neuen Technologien nicht über unser humanes Denken und Handeln Macht übernehmen? In einem Werbespezial des Zeitverlags vom 12.03.2015 über „Zukunft der Technik“ (S. 74), wird festgestellt, dass „ohne Informationstechnologie ( ) der Alltag in den Industrienationen kaum noch vorstellbar (ist)“. Elektronik und Informationstechnik gelte als dritte industrielle Revolution (4.0), und es bestehe zum einen die Gefahr, dass Unternehmen und Produzenten zukünftig immer kompetentere Computer benötigten und einsetzten, anstatt Mitarbeiter aus Fleisch und Blut (Erik Brynjolfsson / Andrew McAfee, Race Against the Machine, 2011); zum anderen herrsche Zuversicht darüber, dass sich Technik für und nicht gegen die Menschen wende: „Die Frage, wohin die Reise in der Technologie geht, müssen wir uns immer wieder stellen. Bei der Antwort sollte nicht allein entscheidend sein, was technisch möglich ist. Es sollte vor allem darum gehen, was die Menschen sich wünschen“ (Berliner IZT-Zukunftsforscher Robert Gaßner).
In dem pädagogischen Konzept Technische Bildung steckt ein Versprechen und eine Verpflichtung zugleich; eine Zuversicht, dass es gelingen möge, eine Bildung für eine technische Zivilisation nicht unter den Gesichtspunkten von Machbarkeit und konsumtivem, materialistischem Denken und Handeln zu gestalten, sondern die Überlebensfragen der Menschheit – Gerechtigkeit, Gleichheit, Nachhaltigkeit – in den Mittelpunkt zu stellen; und eine Herausforderung, lokale und globale Verantwortungsethik zu leben! Dafür kann es keine „höhere“ und „niedrigere“ Auffassung von Bildung geben; auch keine „theoretische“ und „praktische“, sondern eine Allgemeinbildung, an der alle teilhaben und für die alle Kräfte ihren Anteil leisten müssen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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