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Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.03.2015

Cover Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt ISBN 978-3-03734-250-3

Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt. Diaphanes (Zürich) 2015. 320 Seiten. ISBN 978-3-03734-250-3. 24,95 EUR. CH: 32,50 sFr.

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Die vierte Gewalt im Staat

Nach Joseph Vogl von der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University in den USA, ist als „vierte Gewalt“ im Regelsystem der demokratischen Gewaltenteilung von Exekutive, Legislative und Judikative nicht die vielgenannte Medienlandschaft zu bezeichnen, sondern lokal und global das kapitalistische System und der Finanzkapitalismus zu benennen. Im Zusammenspiel von Staat und Markt hat sich durch die Übernahme von scheinbar naturgegebenen und „logischen“ Herrschaftsverhältnissen durch die moderne Finanzökonomie eine „Ökonomisierung des Regierens“ ergeben, und zwar nicht erst im Zeichen der Globalisierung und Hegemonie der weltweiten Finanzmärkte, sondern als schleichende, wabernde und manipulierende Macht, die sich immer mehr ausweitet und längst die Weltherrschaft übernommen hat. Bereits in seinem 2010 erschienenem Buch mit dem provozierenden Titel „Das Gespenst des Kapitals“ weist Vogl darauf hin, „dass das ökonomische Wissen der letzten dreihundert Jahre die wirtschaftlichen Tatsachen geschaffen hat, mit deren Entzifferung es sich selbst konfrontiert“ (Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10929.php).

Diese Argumentation nimmt Joseph Vogl in seinem neuen, „historisch-spekulativem Versuch“ auf mit der These, „dass sich im modernen Finanzwesen eine politische Entscheidungsmacht konzentriert (hat), die abseits von Volkssouveränitäten und unter Umgehung demokratischer Prozeduren agiert“. Mit der Dominanz des Finanzregimes auf allen Ebenen des individuellen und gesellschafts-politischen Lebens der Menschen habe sich eine Machtverschiebung weg vom Volkssouverän und hin zu Expertenkomitees, Fachgremien und „Troikas“ vollzogen, die sich der demokratischen Kontrolle entzögen und „informelle“ Souveränitätsmacht für sich in Anspruch nähmen und diese auch machtvoll ausübten. Mit seiner historisch-aktuellen Analyse zeigt Vogl die neuen (alten) Souveränitätseffekte auf, die sich dadurch ergeben, dass die im Ideal der demokratischen Gewaltenteilung postulierte Balance von Staat und Kapital aufgehoben wird: „Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert“. Diese Entwicklung führt zwangsläufig zu einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung und „Entethisierung der Politik“ (Hermann Glaser), was sich ja nicht zuletzt in den Effekten zeigt, dass lokal und global die bereits Wohlhabenden immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden und sich ihre Lebenssituation immer prekärer entwickelt.

Aufbau und Inhalt

Mit seiner gewohnt engagierten Fähigkeit, Wirklichkeiten zu benennen und die Wirkungen menschlichen Handelns ungeschönt auf den Tisch zu legen, und seinem bekannten Plädoyer für eine macht- und wirkungsvolle Kapitalismuskritik, zeigt Vogl die Gründe und Entwicklungen auf, wie die Finanz- und Kapitalmacht zu einer „parademokratische(n) Ausnahmemacht“ geworden ist und die Ohnmacht der Ohnmächtigen hervorgebracht hat (vgl. dazu auch: Joseph Nye, Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13126.php).

Joseph Vogl gliedert das Buch in sechs Kapitel.

Im ersten Kapitel entlarvt er mit dem Begriff der „funktionale(n) Entdifferenzierung“ die ökonomischen und Finanzstrategien, die zu den globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen und mit dem im Diskurs darüber bezeichneten „Staatsstreich“ der ökonomisch Mächtigen zur Aushebelung der staatlichen Ordnungsmacht geführt und die Regierenden in die Ecke der „Notstandspolitiker“ gestellt haben.

Das zweite Kapitel überschreibt der Autor mit „Ökonomie und Regierung“. Er verweist darauf, dass die (klassische) Unterscheidung von Ökonomie und Politik nicht ausreiche, um die Machtstrukturen im aktuellen finanzökonomischen Regime und Machtpoker zu verstehen. Mit einem historischen Rückgriff zeigt er auf, wie sich seit Ende des siebzehnten Jahrhunderts eine „Umordnung des Regierungswissens“ vollzogen und sich das Bewusstsein entwickelt hat, dass gutes Regieren ökonomisches Regieren sei. Aus diesem „liberalem Selbstverständnis“ heraus war es nicht schwer, die „ehernen“ und „objektiven“ Marktgesetze ganz selbstverständlich auf weitere Bereiche des menschlichen Lebens zu übertragen und zu einer „Verallgemeinerung der Marktfunktion“ zu machen: „Der moderne Liberalismus ist aus einem Konglomerat aus Morallehre, theologischen Ordnungsideen, politischer Theorie, Marktideologie und Sozialtechnik hervorgegangen“.

Im dritten Kapitel wird die historische Nachschau mit dem Titel „Die seigniorale Macht“ weiter geführt. Es sind die gönnerhaften, feudalen, standesbezogenen, absolutistischen und bevorzugten Machtpositionen, die sich etablierten und gewissermaßen als „gerechte“, ja in den wohlfeilen Begründungszusammenhängen bis heute und selbstverständlich als „ein Souveränitätsreservat eigener Ordnung“ funktioniert.

Als „Apotheose der Finanz“ benennt der Autor das vierte Kapitel. Am Beispiel der Etablierung der „kapitalistischen Musternation“ des siebzehnten Jahrhunderts, den Vereinigten Niederlanden, verdeutlicht Vogl die Entstehung des Marktkapitalismus und seine Ausweitung auf seigniorale Machtformen weltweit, bis hin zu „Marktmetropolen“ und „Finanzplätzen“, wie etwa London und andere Finanzmarktzentren, sowie der Macht von Zentralbanken.

Mit dem fünften Kapitel führt der Autor den Begriff „Vierte Gewalt“ ein, mit dem er die Notwendigkeiten und (gemachten) Entwicklungen bei den Problemen der Staatsfinanzierung, der öffentlichen Kreditannahme und Schuldendienst verweist, die sich zu einer „Allianz zwischen öffentlichen Ansprüchen und privaten Interessen“ entwickelten. Die Ziellinien, die sich heute mit dem Begriff der „Bankenrettung“ und der kaum kritisierten Konsequenz darstellen, dass Gewinne kapitalisiert und Verluste sozialisiert werden, zeichnet Vogl, beginnend mit der Bank of England, dem Federal Reserve Act in den USA, der Bank Deutscher Länder (Deutsche Bundesbank), der Europäischen Zentralbank und den privaten Bankmächten, wie die Deutsche Bank, ein Muster der real existierenden, globalen Kapitalmacht. Unter dem Deckmantel einer „Fixierung auf Geld- und Preisstabilität“ wird ein Verteilungsprogramm gefahren, „das die Profitinteressen von Banken, Finanzinstituten, Investmentgesellschaften, Portfolio-Finanz, Gläubigerkartellen und großer Kapitalvermögen strukturell und dauerhaft privilegiert“.

Im sechsten und letzten Kapitel diskutiert Vogl mit dem Begriff „Souveränitätsreserven“ die Bedingungen, „auf welche konkrete Weise sich die Korrelationen zwischen Zentralbank und Marktdynamiken organisieren“. Es geht um die Entwicklung, wie sich – von der Gründung der Bank of England bis zur Etablierung der Europäischen Zentralbank – das Bankensystem als „Separatmacht“ etablieren konnte; und (als Konsequenz daraus?) die umfassende Perspektive für ökonomisches Regieren das Konzept „global gouvernance“ entstand, mit der globalen Finanzarchitektur von internationalen Organisationen, wie der OECD, dem Internationalen Währungsfonds, der Welthandelsorganisation und von internationalen Vertragswerken und Vereinbarungen, wie GATT, NAFTA, TTIP… Die Reserven werden zur Macht, und der Souverän zum Schuldner. „Das prägt die Souveränitätseffekte des Finanzregimes. Es positioniert sich als parademokratische Ausnahmemacht. Es bindet durch Schulden und Schuldigkeit. Es passt soziale und politische Ordnungen an finanzökonomische Risikolagen an“.

Fazit

Mit dieser Philippika formuliert Joseph Vogl „politisch Unbequemes“; vor allem für die Finanz- und Kapital-Mächtigen. Und er liefert für die Ohnmächtigen Argumente, ihre Souveränitätsrechte als demokratische, gleichberechtigte Staatsbürger endlich wahr zu nehmen. Mit seinem „historisch-spekulativem Versuch“ liefert der Autor natürlich keine Rezepte, wie den Machtverschiebungen und -übernahmen begegnet werden kann; vielmehr folgt er mit seinen Analysen und Argumentationen der alten pädagogischen Weisheit, dass Einsicht und Lernen als Verhaltensänderung nicht gelernt und gelehrt, sondern lediglich durch Information und Aufklärung dazu beigetragen werden kann, selbst zu lernen und sich selbst zu verändern. Er lässt bei seinen Ausführungen jedoch keinen Zweifel daran, dass eine Änderung der ungerechten ökonomischen Verhältnisse und der daraus entstehenden Souveränitätsdefizite nur dadurch möglich werden, politisch zu denken und zu handeln!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1683 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 26.03.2015 zu: Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt. Diaphanes (Zürich) 2015. ISBN 978-3-03734-250-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18630.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.


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