Ruedi Epple, Eva Schär: Spuren einer anderen Sozialen Arbeit (Schweiz)
Rezensiert von Dr. Christine Matter, 05.10.2015

Ruedi Epple, Eva Schär: Spuren einer anderen Sozialen Arbeit. Zur Geschichte der kritischen und politischen Sozialarbeit in der Schweiz 1900–2000. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2014. 300 Seiten. ISBN 978-3-03777-146-4. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR, CH: 44,00 sFr.
Thema
Die Studie folgt anhand verschiedener Beispiele den Spuren einer „anderen“ Sozialen Arbeit in der Schweiz von der Zeit des Ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Unter einer „anderen“ Sozialen Arbeit verstehen die Autoren eine kritische und politische, in Theorie und Praxis auf Gesellschaftskritik aufbauende Soziale Arbeit. Damit rücken die strukturellen Ursachen sozialer Probleme und deren Lösung ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Autor und Autorin
Ruedi Epple studierte Politologie, Soziologie sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Er ist seit 2006 Lektor im Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit der Universität Freiburg (Schweiz).
Eva Schär studierte Altphilologie und Germanistik. Sie ist freiberuflich im Kommunikations- und Bildungsbereich tätig.
Entstehungshintergrund
Die Studie setzt gemäss der Aussage von Epple und Schär deren eigene Tradition fort. So standen die Autorin und der Autor immer wieder in Kontakt mit sozialen Bewegungen und mit der Sozialen Arbeit. Ihr gemeinsames Buch von 2010 „Stifter, Städte, Staaten. Zur Geschichte der Armut, Selbsthilfe und Unterstützung in der Schweiz 1200-1900“ (Zürich: Seismo) hatte bereits Entwicklungen jenseits des Mainstreams zum Thema.
Aufbau
Gerahmt von einer Einleitung, in welcher auch die regulationstheoretischen Grundlagen der Studie dargelegt werden, und einer Zusammenfassung gliedert sich das Buch von Ruedi Epple und Eva Schär in vier Hauptteile, welche je einer unterschiedlichen Spur einer „anderen“ Sozialen Arbeit in der Schweiz folgen.
- Der erste Teil behandelt die Settlement-Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg,
- der zweite Teil die „gebundene“ Hilfe vor und nach dem Zweiten Weltkrieg,
- der dritte Teil die Formen einer „solidarischen Professionalität“ an der Schule für Sozialarbeit Solothurn Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre und
- der vierte Teil die Sans-Papiers-Bewegung nach 2001.
Alle Teile werden durch überblicksartige Abschnitte zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung und zum Stand von Armut und Unterstützung in der jeweiligen Zeit eröffnet und jeweils in den Kontext der Biographie einer beteiligten Exponentin oder eines Exponenten gestellt. Am Ende von jedem Teil finden sich erläuternde Originalquellentexte von wichtigen Exponentinnen und Exponenten im Umfeld der jeweils beschriebenen Geschehnisse und Entwicklungen.
Inhalt
Das erste Kapitel behandelt die Settlement-Bewegung in der Schweiz und damit eine Form der Unterstützung als „Brückenbau“. Die für Settlements typische Niederlassung von Gebildeten in armen Arbeiterquartieren hat in der Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg als Folge der Erfahrung von Not und Elend Fuss gefasst. Damit wurde hier vergleichsweise spät eine internationale Entwicklung nachvollzogen. Die Gründe für diese Verspätung sehen Epple und Schär darin, dass sowohl Armenpflege wie Philanthropie dieser neuen Form der Unterstützung ablehnend gegenüber standen. Im Zentrum der Settlement-Bewegung stand die Idee, Klassenschranken zu überwinden und Bildungs- und Unterstützungsarbeit direkt vor Ort in den Quartieren zu leisten. Entscheidend dafür, dass der Settlement-Gedanke in der Schweiz auf Anklang stiess, war die Verbindung zum religiös-sozialen Milieu. Die Autoren besprechen die Entstehung des Settlements in Verbindung mit der Biographie einer ihrer wichtigen Akteurinnen, Christine Brugger, die in der Basler „Ulme“ Ende der 1920er Jahre aktiv wurde. Mit dem Konzept des Settlements verfolgen die Autoren die Spur einer anderen Sozialen Arbeit insofern, als Settlements einerseits eine Alternative zur gängigen Philanthropie und Armenpflege boten und andererseits auf religiös-soziale Netzwerke zurückgriffen. Letzteres stellte jedoch gleichsam auch eine besondere Hypothek dar, denn die von den Akteurinnen und Akteuren erwartete religiöse Opferbereitschaft und Selbstaufgabe und die diesen darin sich offenbarende Bestätigung, in der „Nachfolge Christi“ zu stehen, standen einer kritischen Wahrnehmung der eigenen Arbeit und entsprechender möglicher Kurs-Korrekturen und Änderungen im Weg und verhinderten eine dauerhafte Etablierung dieser Form der Sozialen Arbeit in der Schweiz. – Der erste Teil wird ergänzt durch Quellentexte von Jane Addams, einer Pionierin der Settlement-Bewegung in den USA, und von Mentona Moser, die der Idee des Settlements teilweise kritisch gegenüber stand.
Während der erste Teil mit der Settlement-Bewegung eine frühe Spur einer anderen Sozialen Arbeit in der Schweiz verfolgt, beschäftigt sich der zweite Teil zur „gebundenen“ Hilfe mit einer bereits etwas später einsetzenden Phase. Unter dem Stichwort der „gebundenen“ Sozialarbeit werden Organisationen, Verbände und Gemeinschaften beschrieben, die Hilfe für ihre Anhänger und Anhängerinnen, für ihre eigenen Mitglieder und für Sympathisierende leisten. Die „gebundene“ Hilfe unterscheidet sich somit von der „neutralen“ Hilfe durch den spezifischen Adressatenkreis. Die Autoren verfolgen in erster Linie die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der 1931 gegründeten Konferenz für sozialistische Wohlfahrtspflege (KSW) und des aus dieser 1936 hervorgegangenen Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH). Beispielhaft zeigen sie an der Aktivistin Emma Steiger, wie diese sich einem allgemeineren Trend folgend nach dem Zweiten Weltkrieg von einer anderen Sozialen Arbeit zunehmend abwandte. Prägnant arbeiten die Autoren heraus, wie sich die vom revolutionären Gedanken ausgehende sozialistische Soziale Arbeit im Rahmen der politischen Integration der 1930er Jahre und der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges in der Tendenz zu einer das System grundsätzlich bejahenden Reformkraft wandelt. Dass jedoch auch – wie schon in der direkten Nachkriegszeit mit Bezug auf die Schweizer Spende als „ungebundener“ Hilfe und ihrer Exponentin Verena Conzetti dargelegt – weiterhin ein Spannungsfeld zwischen neutraler bzw. „ungebundener“ und politischer bzw. „gebundener“ Sozialarbeit bestehen blieb, zeigt sich daran, dass die Landeskonferenz für Sozialarbeit an ihrer Jahrestagung 1950 genau dieses Problem zum Thema machte. Während die Settlements gemäss den Autoren Ausdruck einer politisch und sozial stark polarisierten Gesellschaft waren, lässt sich im Zusammenhang mit der „gebundenen“ Sozialarbeit eine Entschärfung der Konfrontation feststellen, die der politisch-sozialen Situation in der Schweiz der dreissiger, vierziger und fünfziger Jahre entspricht. Das Bemühen um eine pragmatische Linderung der Not wurde nun den Hoffnungen auf einen bevor stehenden revolutionären Umbruch vorgeordnet. Verantwortlich für die Auflösung der entsprechenden – nicht nur linken – Milieus, auf welche sich eine „gebundene“ Sozialarbeit vor dem Zweiten Weltkrieg noch richtete, machen die Autoren den zunehmenden Wohlstand und die Individualisierung der Nachkriegszeit. – Dem zweiten Teil sind Quellentexte von Emma Steiger und Bertha Capen Reynolds, einer Vertreterin der kritischen und politischen Sozialen Arbeit in den USA, angefügt.
Der dritte Teil der Studie beschäftigt sich mit der Schule für Sozialarbeit Solothurn (SSAS). Die Spur einer anderen Sozialen Arbeit wird hier unter dem von Tim Kunstreich entlehnten Begriff der „solidarischen Professionalität“ und am Beispiel der engagierten Studentin Therese Frösch verfolgt. Die SSAS ging 1969 aus dem Fürsorgerinnen-Seminar des katholischen Seraphischen Liebeswerks Solothurn (SLS) hervor. Unter dem Eindruck des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Ereignisse um 1968 bildete sich an der SSAS unter Beteiligung von Dozierenden und Studierenden eine neue ‚Tradition‘ (Feyerabend) heraus, die der Spiritualität des SLS eine an Wissenschaftlichkeit und Solidarität orientierte Professionalität entgegenstellte und auf dieser Grundlage eine moderne Schule für Soziale Arbeit hervorbringen wollte. Das SLS, das durch die Entwicklungen an der SSAS unter Druck kam und zum Gegenangriff überging, blieb jedoch schliesslich Siegerin in diesem Konflikt und setzte seine konservative Tradition am Ende durch. Im Solothurner Streit ging es – wie Epple und Schär schreiben – um den Kampf zwischen einem paternalistischen und einem solidarischen Verständnis von Sozialer Arbeit ebenso wie um eine Auseinandersetzung entlang der Geschlechterlinien, indem das weiblich geprägte, kirchlich streng hierarchische SLS dem männlich beeinflussten Reformprojekt der SSAS gegenüber stand. Die Solothurner Erneuerungsbestrebungen (zum Beispiel das einige Wellen in der Öffentlichkeit werfende ‚Projekt 73‘ zur Gemeinwesenarbeit im Zusammenhang mit Kinderspielplätzen) hatten keinen nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Sozialen Arbeit in der Schweiz, was insbesondere auch an der fehlenden personellen Kontinuität lag. Gemäss Epple und Schär haben die Ereignisse in Solothurn jedoch eine Eigendynamik erreicht, die sich in diesem Ausmass nirgends sonst in der Schweiz fand. – Dem dritten Teil sind Quellentexte angefügt von Anton Hunziker, der am Freiburger Heilpädagogischen Institut tätig war und im Auftrag des SLS den „Planungskommentar der Schule für Sozialarbeit Solothurn“ verfasste, und von Walter Hollstein, Mitverfasser des 1973 erschienen Bandes „Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen“, einem Schlüsselwerk der kritischen und politischen Sozialen Arbeit der Zeit.
Im vierten und letzten Teil behandeln Epple und Schär mit der Sans-Papiers-Bewegung eine Sozialarbeit "am Rand". "Papierlose", also Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung, gab es auch in der Schweiz schon früher, doch waren sie in der Öffentlichkeit kaum je ein Thema. Dies änderte sich 2001 als Folge verschiedener Aktionen zugunsten der Sans-Papiers, wie etwa Kirchenbesetzungen. Erst jetzt wurden auch die Verbindungen zur Wirtschaft deutlich, so die Abhängigkeit regionaler Landwirtschaften und Industrien von den billigen Arbeitskräften, welche die Sans-Papiers stellten. Entscheidend für den nicht völlig ausbleibenden Erfolg der Bewegung war das Engagement der Sans-Papiers selbst. Sans-Papiers wurden nun im Unterschied zu früher selbst aktiv und damit erst zu politischen Subjekten. Die Mobilisierung im Jahr 2001 und die entstandene Solidaritätsbewegung bewirkten die Sensibilisierung einer breiten Öffentlichkeit, ein teilprofessionalisiertes Solidaritätsnetzwerk mit Anlaufstellen – mit dem Leiter der Basler Anlaufstelle Pierre-Alain Niklaus portraitieren die Autoren einen wichtigen Exponenten der Sans-Papiers-Bewegung – und die pragmatische Zusammenarbeit mit verschiedenen Verwaltungs- und Dienstleistungsstellen. Damit ist in der einzelnen Fallarbeit viel Unterstützung möglich geworden, für die zuvor die strukturellen Rahmenbedingungen fehlten. Während frühere Formen der Hilfe für Sans-Papiers im Rahmen von Sozialarbeit und Sozialpolitik die Ursachen illegaler Migration und die gesellschaftlichen Verhältnisse, welche die Sans-Papiers zur Wanderung trieben, weitgehend ausblendeten, befasst sich die "andere" Sozialarbeit der jüngeren Vergangenheit explizit mit den auch transnationalen strukturellen Ursachen im Rahmen weltweiter wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten (Stichwort "imperiale Lebensweise" in den Ländern des globalen Nordens). Politisches Engagement und das Empowerment der Betroffenen sind in der Sans-Papiers-Bewegung eine Verbindung eingegangen, die es erlaubt, hier eine weitere Spur einer anderen Sozialen Arbeit zu identifizieren. Der vierte Teil wird durch Quellentexte von Marc-Henry Soulet, Soziologe an der Universität Freiburg (Schweiz), vom französischen Soziologen Robert Castel und vom kanadischen Sozialwissenschafter Bob Mullaly abgeschlossen.
Diskussion
Ruedi Epple und Eva Schär verfolgen in einer ausführlichen und detailreichen Darstellung anhand der ausgewählten vier Beispiele die Spuren einer anderen Sozialen Arbeit in der Schweiz. Es gelingt ihnen, die Besonderheiten des „Anderen“ dieser Arbeit im Unterschied zum Mainstream herauszuarbeiten und auf das kritische Potential dieser Entwicklungen zu verweisen. Besonders aufschlussreich sind die dargelegten unterschiedlichen Gründe, die in jedem der vier besprochenen Beispiele dazu führten, dass sich die Form einer anderen Sozialen Arbeit nicht oder nur teilweise durchsetzen konnte.
Epple und Schär halten für die von ihnen untersuchte Periode des vergangenen Jahrhunderts fest, dass sich die Geschichte alternativer Formen von Sozialer Arbeit in der Schweiz nicht grundsätzlich unterschiedlich präsentiert als in vergleichbaren anderen Ländern und dass die Schweiz durch entsprechende internationale Strömungen beeinflusst worden ist. Allerdings fehlt nach wie vor eine systematische und umfassende Darstellung dieser Entwicklungen für die Schweiz, was letztlich auch die Bewertung im internationalen Vergleich erschwert. Heute, so die Autoren, lassen sich wieder vermehrt Prozesse des Austauschs und der Auseinandersetzung zwischen Mainstream und alternativen Zugängen in der Sozialen Arbeit in der Schweiz feststellen. Die Wirkungen der in der Studie thematisierten Beispiele einer anderen Sozialen Arbeit auf den Mainstream konnten im Rahmen der vorgelegten Untersuchung nicht beleuchtet werden – dies zu leisten, ist jedoch auch nicht der Anspruch der Autoren.
Fazit
Ruedi Epple und Eva Schär beleuchten mit ihrer Studie zu einer anderen Sozialen Arbeit in der Schweiz einen wichtigen, bisher wenig beachteten Ausschnitt aus der Geschichte der Sozialen Arbeit. Die beispielhafte Darstellung von alternativen Entwicklungen sozialer Arbeit leistet somit einen wesentlichen Beitrag zu einer disziplinären und professionsbezogenen Geschichtsschreibung – einer Geschichtsschreibung, die sich bisher mit wenigen Ausnahmen auf die Geschichte der Professionalisierung konzentrierte und insbesondere professionskritische Aspekte kaum berücksichtigte. Mehr als nur eine Erörterung gleichsam „alternativ-abweichender“ Formen der Sozialen Arbeit stellt die Studie von Epple und Schär einen aufschlussreichen Beitrag zu einer ganzheitlicheren Geschichte von Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit in der Schweiz dar.
Rezension von
Dr. Christine Matter
Fachhochschule Nordwestschweiz
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