Ramona Bruhn, Benjamin Straßer (Hrsg.): Palliative Care für Menschen mit geistiger Behinderung
Rezensiert von Gisela Stoll, 28.02.2017

Ramona Bruhn, Benjamin Straßer (Hrsg.): Palliative Care für Menschen mit geistiger Behinderung. Interdisziplinäre Perspektiven für die Begleitung am Lebensende. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2014. 364 Seiten. ISBN 978-3-17-023453-6. 59,90 EUR.
Herausgeberin und Herausgeber
Ramona Bruhn ist Diplom-Rehabilitations-Pädagogin, MAS Palliative Care, Trauerbegleiterin sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Ausbildung. Sie leitet einen ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst und ist stellvertretende Gesamtleitung des Malteser Hospiz-Zentrums Hamburg.
Benjamin Straßer ist Diplom-Sozialpädagoge (FH), MAS Palliative Care und Ethikberater im Sozial- und Gesundheitswesen. Er arbeitet als Fachreferent für Hospizarbeit und Geschäftsführer des Ethilrates beim Caritasverband der Erzdiözese München und Freising.
Themen und Entstehungshintergrund
In den letzten Jahren hat
sich die „Palliative-Care-Szene“ erweitert und zählt inzwischen
auch Menschen mit Behinderung und deren Angehörige zu ihrer
Zielgruppe.
Die Idee zu diesem Fachbuch entstand, während die
beiden Herausgeber ihre Abschlussarbeiten im Rahmen des
Masterstudiums Palliative Care verfasst haben. Sie hatten sich beide
den Menschen mit geistigen Behinderungen verschrieben, aus
unterschiedlichen Perspektiven, aber mit demselben Ziel: Diese
Menschen sollen – genauso wie alle Mitglieder unserer Gesellschaft
– dort bestmöglich begleitet und entsprechend ihrer individuellen
Bedürfnisse sterben können, wo sie leben und zu Hause sind. Dabei
haben sie mit den vielen Autoren dieses Buches leidenschaftliche
Mitstreiter für die gemeinsame Sache gefunden. Mit ihren Einblicken
und Visionen, ihrer Praxiserfahrung und theoretischen Fundierung
gelang es, ein interdisziplinäres und multiprofessionelles, breit
angelegtes und praxisorientiertes Fachbuch zusammenzustellen.
Aufbau und Inhalt
Die facettenreiche
Gliederung bedeutet im Gegenzug eine Komprimierung der Beiträge auf
engem Raum. In ihrem Vorwort
schildern die Herausgeber ihr Anliegen so: Sie wollen einen breiten
Einblick geben in den aktuellen Stand der Praxis von und Reflexion
über Palliative Care für Menschen mit geistiger Behinderung. Sie
wollen Entwicklung anregen und befördern und den Akteuren aus
Behindertenhilfe und Palliative Care Grundlagen anbieten für die
Integration von Menschen mit geistiger Behinderung in
hospizlich-palliative Arrangements. Außerdem möchten sie mit den
vielfältigen Beiträgen Anreize geben, Palliativ Care als Haltung
und Konzept in Einrichtungen der Behindertenhilfe umzusetzen und zu
leben. Das bedeutet, das Sterben als einen natürlichen Teil des
Lebens zu verstehen. Dazu gehören positive Wertvorstellungen dem
Leben und den Menschen gegenüber.
Palliative Care überschreitet
Organisationsgrenzen, daher sind Vernetzung und Kooperation für eine
gelungene Umsetzung erforderlich. Das bedeutet eine interdisziplinäre
Zusammenarbeit zwischen Behindertenhilfe und Palliativ Care.
Menschen
mit kognitiven Einschränkungen können ein sehr unterschiedliches
Verständnis von Sterben und Tod haben. Das hängt individuell vom
Schweregrad der Behinderung, vom Alter und der Sozialisation des
einzelnen ab. Die Bandbreite reicht dabei von einer kaum vorhandenen
Vorstellung von dem, was Tod und Sterben bedeuten, bis hin zu sehr
konkretem Wissen darüber. Es hat sich gezeigt, dass Menschen mit
geistiger Behinderung teilweise sehr offen über Tod und Sterben und
ihre diesbezüglichen Wünsche reden. Sie wollen die Wahrheit wissen
und über Behandlungsmaßnahmen oder Krankenhauseinweisung
mitentscheiden.
Heller, einer
der Buchautoren
spricht von „radikaler Betroffenenorientierung“. So kann auf den
Betroffenen, seine Bedürfnisse und Wünsche, sein körperliches und
seelisches Leiden eingegangen werden.
Die Kapitel enthalten meist zwischen sechs und acht Beiträge von mehreren Autoren.
1. Die Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung
2. Gesundheit, Alter und Erkrankung im Leben von Menschen mit geistiger Behinderung. Zwei der Beiträge befassen sich mit Schmerzerkennung und Umgang mit Schmerzen.
3. Psychosoziale und spirituelle Begleitung. Hier geht es u.a. um das Sterbe- und Todesverständnis von Menschen mit geistiger Behinderung, von gelingender Kommunikation bis hin zu heilenden Ritualen.
4. Begleitung im Sterben und in der Trauer
5. Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Das Kapitel enthält ethische Perspektiven, rechtliche Grundlagen, eine partizipativ-ethische Besprechungs- und Entscheidungskultur.
6. Einzelne Zielgruppen im Blick. Dieses Kapitel befasst sich mit Angehörigen Nachbarn, Freunden Mitarbeitern, mit Menschen mit psychischen Störungen und dem Thema „Geistige Behinderung und Demenz“.
7. Etablierung einer Hospiz- und Palliativkultur. Hier geht es u.a. um Basisschulung, um Konzepte und um hospizliche Begleitung im Netzwerk. Im Fokus stehen dabei die medizinisch-pflegerische Betreuung, die psychosoziale und seelsorgerliche Begleitung und der Umgang mit schwerer Krankheit, Sterben, Tod und Trauer. Ethische Betrachtungen und Hinweise zur Integration einer Palliativ- und Hospizkultur in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie Projektbeispiele und Forschungsergebnisse runden das Werk ab.
Nachwort. Hier schreibt Reimer Gronemeyer: „Wir brauchen unerschrockene Begleiter, die hellhörig sind, die sensibel sind. Sie müssen die Fähigkeit haben, sich hineinzuversetzen, sie sollten auch Wissen und Erfahrung haben – und sie sollten wohl einen Sinn für das Einfache haben. … Was wir nicht brauchen: Eine neue Spezialistenriege, die sich auf Diagnosen stürzt und stützt.“
Fazit
Wieder einmal ein Buch aus der Praxis für die Praxis, von einer Reihe von engagierten, wie die Herausgeber betonen, leidenschaftlichen Mitstreitern verfasst. Man kann es Kapitel für Kapitel lesen, sich aber auch einzelne Beiträge herauspicken, je nach Interesse. Wegen der übersichtlichen Gliederung und der verständlichen Sprache liest es sich gut.
Zu empfehlen ist es allen Mitarbeitern aus der Behindertenhilfe, der Psychiatrie, der Pflege, Angehörigen und allen, die im Bereich Hospiz und Palliative Care arbeiten.
Rezension von
Gisela Stoll
Fachkrankenschwester für Psychiatrie, Validationsanwenderin (VTI)
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