Friedrich Voßkühler: Begehren - Lieben - Denken
Rezensiert von Dr. Thomas Damberger, 01.04.2015
Friedrich Voßkühler: Begehren - Lieben - Denken. Ein philosophisch-literarischer Näherungsversuch an das Weibliche anhand von Bildern. Mit einer Kritik von Judith Butler zum Schluss. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2014. 598 Seiten. ISBN 978-3-8260-5597-3. D: 49,80 EUR, A: 51,20 EUR, CH: 66,90 sFr.
Thema
Das vorliegende Buch macht das Weibliche zum Thema. Das Weibliche ist dabei nicht mit der Frau gleichzusetzen, sondern meint vielmehr das genaue Gegenteil: das Nicht-Sein der Frau als Mensch. Es handelt sich beim Weiblichen um Bilder, die im Zuge des Zivilisationsprozesses entstehen. Die Bilder vom Weiblichen sind im wahrsten Sinne des Wortes notwendig, denn unsere Zivilisation konnte nur entstehen, indem wir Subjekte wurden und im Zuge dessen die Macht ergriffen haben, unsere Welt nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Subjekt konnten wir aber nur dadurch werden, dass wir etwas von uns abspalteten, das nicht Subjekt ist. Das Gegenteil des Subjekts ist das Selbstlose, und dieses Selbstlose erscheint als das Bild vom Weiblichen. Das Weibliche begegnet dabei in zweifacher Weise, einerseits als metaphysisch erhöht und andererseits als eine bis zum Äußersten gehende Erniedrigung. Es erscheint als Objekt des Begehrens und ist doch eigentlich Ausdruck einer Sehnsucht nach Liebe, wobei die Liebe das Andere der Vernunft darstellt. Dies zu verstehen und dabei zugleich das Weibliche als Ausdruck der Opferung der Frau als Mensch zu begreifen, macht es erforderlich, dem Weiblichen denkend auf den Grund zu gehen. Begehren, Lieben und Denken in dieser Weise verknüpft eröffnet die Chance, der Frau wieder zum Menschsein und damit Mann und Frau wieder zur Würde zu verhelfen.
Autor
Friedrich Voßkühler, Prof. Dr., war über dreißig Jahre lang Gymnasiallehrer in den Fächern Deutsch, Biologie, Ethik und Philosophie. Er lehrt als außerplanmäßiger Professor Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt.
Aufbau
Begehren – Lieben – Denkenumfasst 597 Seiten und ist in 17 Kapitel gegliedert. Voßkühler stellt insgesamt 17 Bilder vom Weiblichen vor, die er zum größten Teil – aber nicht ausschließlich – der Belletristik entnimmt. Die aus den Bildern gewonnen Erkenntnisse werden dann im Rahmen von 5 „philosophischen Dornenstücken“ anhand und mithilfe philosophischer Konzepte detailliert analysiert. Mit den Ergebnissen der Analyse formuliert der Autor anschließend eine Kritik an Judith Butlers Überlegungen zu Macht, Diskurs und Geschlecht und fasst zuletzt sehr ausführlich die hauptsächlichen Überlegungen und Ergebnisse zusammen.
Ausgewählte Inhalte
Da es nicht möglich ist, die Tiefe und Weite des Buches im Rahmen dieser Rezension angemessen zusammenzufassen, konzentriere ich mich auf wenige Ausschnitte, die ich so zu skizzieren versuche, dass sie einen Eindruck vom Inhalt hervorrufen können.
In Kapitel 1 („Orientierende Einblicke“) zeigt Voßkühler Weiblichkeitsbilder auf, die das Nicht-Sein der Frau als Mensch verdeutlichen. Dies geschieht u.a. am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“. Der Protagonist Nathanael verliebt sich in Olimpia, die eine Frau zu sein scheint, tatsächlich aber ein Automat ist. Ganz im Gegenteil zu Nathanaels Verlobten Clara widerspricht Olimpia ihm nicht, hört seinen Überlegungen ungestört zu und bringt, weil kein Verständnis vorhanden ist, ein „scheinbar bedingungsloses und grenzenloses Verständnis“ (S. 41) auf. Tatsächlich ist Olimpia für Nathanael das vollendete Bild von Weiblichkeit, sie spiegelt ihm das eigene Begehren wider, weil sie kein eigenes Sein hat, das sie ausdrücken könnte und das in der Lage wäre, das zu Spiegelnde zu verzerren. Aber auch Nathanael kann ohne die Frau als Mensch nicht zu seinem Sein gelangen, sondern erfährt nur sein eigenes Begehren, ein Begehren, das ihn fort von sich führt, nicht aber hin zu einen anderen Menschen. Der Mensch, der hinter dem Begehren steht, wird (sich) selbst niemals fragwürdig. Mit Kant im Blick sieht Voßkühler in diesem Begehren den fehlenden Mut zur Selbstbestimmung (vgl. S. 43).
Im 2. Kapitel („Vertiefende und erweiternde Fortführung: Von Apuleius bis Goethe“) befasst sich Voßkühler mit der metaphysischer Erhöhung des Weiblichen. Am Beispiel von Dantes „Göttliche Komödie“ wird das Weibliche – hier verkörpert durch Beatrice – als das Ganze des Seienden verstanden. Nicht das verstandesmäßige Begreifenwollen führt zur wahren Erkenntnis, denn im Begriff bleibt das Begriffslose als das Andere des Begriffs immerzu erhalten. Das Ganze ohne das Andere wird nicht begriffen, sondern geschaut. Beatrice ist es, die Dante zur Erkenntnis verhilft, und diese Erkenntnis besteht im Sein-lassen (vgl. S. 91ff.). Der Mensch existiert, sein Sein wurde ihm gewährt, diese sein-lassende, wahrende und gewährende Liebe zeigt sich in ihrer höchsten Form in der liebenden Mutter. Dieses Bild vom Weiblichen darf als die andere Seite Gottes verstanden werden, die nicht denkend, sondern allein über die Liebe erfahrbar wird: „Gott wird durch Liebe offenbar. Aber nicht durch das Denken der Liebe, nicht durch Denken. Nicht durch den Logos, nicht durch das Wort. Sondern diejenige, die bei Gott ist, ist von Anfang an die Sophia, die ‚Werkmeisterin aller Dinge‘“ (S. 181).
Mit der Figur der Emma aus Gustave Flaubert „Madame Bovary“ arbeitet Voßkühler im 3. Kapitel die Loslösung des Weiblichen aus seiner metaphysischen Erhöhung heraus (vgl. S. 184ff.). Die unglücklich verheiratete Emma Bovary wird von Rodolphe Boulanger verführt. Rodolphe geht es nicht um Emma, die er schnell wieder loswerden will, sondern um den Akt der Verführung. Emma hingegen geht es ihrerseits nicht um Rodolphe, sondern um die Erlösung aus ihrem langweiligen Leben durch Liebe. Und genau dem, was Emma begehrt, versucht der Verführer so gut es geht zu entsprechen. Darin zeigt sich, so Voßkühler, die per se nicht moralische Seite der Erotik, denn „ohne das Begehren verführt zu werden [,] kann ein Verführer nicht verführen“ (S. 201). Das Begehren erscheint bei Madame Bovary als ein Begehren nach Erlösung, aber dieses Begehren führt Emma nicht zu sich selbst, sondern in den Untergang: „Emma kann nur in dem und durch das Gefühl leben, zu begehren bzw. begehrt zu werden. […] Für diese Momente setzt sie alles aufs Spiel: die bürgerliche Existenz, die Ehe, die Tochter. Und sie muss dies alles auf´s Spiel setzen, da es für sie nicht das Leben ist“ (S. 201). Zum Leben und zu sich selbst zu gelangen, die Menschlichkeit in sich zu entdecken, würde bedeutet, sich schaffend zum Ausdruck zu verhelfen, aber genau diese Möglichkeit bleibt Emma vorenthalten. In einer gesellschaftlichen Schicht, in der die ökonomisch erforderlichen Mittel vorherrschen, um selbst nicht tätig werden zu müssen (und dies auch nicht zu sollen), bleibt Emma auf ihre Gefühlswelt und damit auf ihre Phantasien beschränkt, die sie weder produktiv werden lassen, noch teilen und damit nicht mit der Realität abgleichen kann. Ihr Warten auf den Erlöser führt in die Selbstvernichtung. Das Tragische an Emma Situation: Es kann kein Erlöser sie jemals aus der Situation befreien, sie selbst müsste es tun und nur sie selbst wäre dazu überhaupt im Stande. Die Erlösung ist das, was nicht ist, ist das Abwesende.
Das Abwesende greift Voßkühler in Kapitel 7 („Gott ist eine Prostituierte“) in anderer Weise auf. Am Beispiel von Georges Batailles „Madame Edwarda“ deutet der Autor auf das Ziel allen erotischen Begehrens: das Abwesende der letzten, gänzlichen Erfüllung (vgl. S. 281). Die Nähe zwischen dem Umfassenden des weiblichen Geschlechtsorgans und dem Höhlenartigen christlicher Kathedralen wird dabei pointiert aufgezeigt. Beides verspricht ein Geborgensein, mehr noch: ein Rückgeborgensein „in seinen Anfang, der von vornherein schon alles in sich birgt“ (S. 277). Aber dieser Weg zurück zum Anfang weist tatsächlich auf das, was nicht (mehr) sein kann. Darin liegt allerdings zugleich die große Chance des Menschen, denn „weil an der Stelle dessen, was ich begehre, Nichts ist“ (S. 281), habe ich als Mensch die Chance, dem Leben Sinn zu geben.
Am Beispiel der „Shades of Grey“ widmet sich Voßkühler im 11. Kapitel der „‚masochistischen Prostitution‘ des ‚Weibes‘“ (S. 318). Die Literaturstudentin Anastasia Steele will eine Liebesbeziehung mit dem millionenschweren Unternehmer Christian Grey. Dieser hingegen will ausschließlich die völlige Unterwerfung der jungen Frau, die ihm einzig und allein Vergnügen zu bereiten hat und dieses auch wollen soll. Der finanzielle Reichtum und die „Manneskraft“, die Grey zu bieten hat, stellt – so Voßkühler – das durch und durch Phallische dar. Und dieses Phallische ist für Anastasia höchst anziehend. Aber sie will mehr als das bloß Phallische, sie will die Verbindung zwischen dem Phallischen und der Liebesbeziehung. Sie will „die Kraft und Dynamik des Phallus erleben […], ohne in dem Begehren danach gänzlich aufgelöst und vernichtet zu werden“ (vgl. S. 323). Der große Unterschied zwischen der Erotik, wie sie Bataille darstellt, die eine zutiefst obszöne ist, und die der „Shades of Grey“ liegt in der Profanisierung der Erotik durch die Unterwerfung derselben unter das ökonomische Prinzip. Deutlich wird das dadurch, dass beide, Grey und Anastasia, vertraglich vereinbaren, wer welche Pflichten zu erfüllen hat. Der Vertrag zielt im Kern auf eine ausgeglichene Zahlungsbilanz ab (vgl. S. 326). Anastasias Begehren will mehr als die bloße Unterwerfung, will die Vereinigung des Phallischen mit der Liebe, und bleibt dabei eines, das nicht das Begehren selbst befragt, nicht zur Wurzel des Begehrens, zum eigenen Sein führt, sondern unter „der Bedingung der ‚Dominanz‘ des männlichen Begehrens“ steht. Es ist und bleibt fraglos und masochistisch (vgl. S. 333).
In Kapitel 15 („Über das Zeitalter von Cyborg (Haraway) und Schizo (Deleuze/Guattari)“) untersucht der Autor Möglichkeiten der Auflösung der Dichotomie zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen. Donna Haraways Ausführungen zum Cyborg als Ausdruck einer „Kultur der Hochtechnologie“ (S. 391) weisen auf ein Destruieren des Natürlichen und damit auch auf eine Aufhebung der Gleichsetzung des Weiblichen mit dem Natürlichen hin. Darin liegt, wie Voßkühler zugibt, eine Chance, „denn jetzt könnte die Zeit hereingebrochen sein, da das Weibliche als ein die Frau fesselndes Bild durchstoßen wird“ (S. 391). Ausdruck dieser „Kultur der Hochtechnologie“ ist die transklassische, symbolverarbeitende Maschine. Sie ist nicht nur Ausdruck der Idee der Maschine, sondern zugleich Ausdruck der vollständigen Steuerbarkeit. Die transklassische Maschine kennt kein Außen, und das Innen dieser Maschine ist vollkommen transparent. Sie ist Ausdruck des Traumes des Menschen von der totalen Subjektivität. Der Mensch allein ist das Zugrundeliegende, es gibt nichts mehr, was nicht menschlich im Sinne von menschengemacht ist. Das betrifft auch die Geschlechterkategorien. Die Frage aber bleibt, ob mit der Aufhebung der Dichotomien männlich – weiblich, natürlich -künstlich auch die Wünsche und Begehrlichkeiten aufhören oder ob sie, losgelöst von den physischen Grenzen, (anders) weiterwirken (vgl. S. 398). Für Voßkühler ist die Antwort klar: Wenn das Weibliche tatsächlich etwas ist, das als Bild besteht, dann ist die biologische Grundlage, die freilich technisch überwunden werden kann, nicht entscheidend für die Existenz des Begehrens, welches dieses Bild zum Ziel hat (vgl. 399f.).
In Kapitel 16 („Von der ‚Subjektivation‘ und dem ‚Unbehagen der Geschlechter‘“) greift Voßkühler die Subjektivation in Anlehnung an Judith Butler sowohl als Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht als auch als Prozess der Unterwerfung auf (vgl. S. 420). Um Existieren zu können, muss sich der Mensch der Macht, die ihn am Leben hält, unterwerfen, wodurch der Mensch zugleich von dieser Macht partizipiert und selbst beginnt, Teil dieser Macht zu werden. Die Subjektivation ist auch Bedingung für die Entstehung eines Selbstbewusstseins. An dieser Stelle setzt Voßkühler mit seinen insgesamt 5 „philosophischen Dornenstücken“ an. Beginnend mit „Nietzsches Überwindungsversuch der ‚Verzweiflung‘ des ‚Subjekts‘ an sich selbst“ (S. 422) unterstreicht der Autor, dass mit der Rückwendung des Subjekts auf sich selbst die Fragwürdigkeit und das schlechte Gewissen entstehen. Das schlechte Gewissen „macht mich meiner selbst gewiss, indem es mir alle primäre Gewissheit meiner selbst raubt bzw. in Frage stellt“ (S. 422f.). Der Ursprung des schlechten Gewissens ist im Zivilisationsprozess zu verorten. Dieser Prozess zielt auf die Zähmung des Menschen bspw. durch staatliche Organisation ab. Ursprüngliche Instinkte werden am Ausleben gehindert und richten sich nun gegen das eigene Selbst. Das Subjekt, das in dieser Weise durch den Zivilisationsprozess hervorgebracht wird, erscheint als eine „‚Modalität‘ der ‚Macht‘“ und ist Ausdruck „der Bemächtigung des Menschen durch Selbstbemächtigung“ (S. 424f.). Aufgabe des Menschen ist es, dieses schlechte Gewissen, das den Charakter einer Krankheit hat, zu überwinden, und das kann der Mensch! Eben darin liegt die Chance der Subjektivation. Genauer: Der Mensch kann „nur dadurch, dass der zu großer Härte in der Selbstqual und im Erdulden geschmiedete Wille nun sich selbst will“ (S. 427), zur Gesundung und zu sich selbst gelangen. Das gelingt, indem er zum Übermensch wird, indem er will, ferner „die ganze Schwere der Geschichte der ‚Subjektwerdung‘ abschüttel[t]“ und letztlich sogar mehr als nur will, ja, „er wird sogar mehr als das Wollen wollen, er wird nicht mehr wollen wollen“. (ebd.).
Über Kierkegaard, Hegel und Schelling gelangt Voßkühler in seinem letzten „Dornenstück“ zu Marx. Der Mensch erweist sich hier als das, was er ist, in der tätigen Auseinandersetzung mit der Natur und mithilfe der Kräfte der Natur (S. 490). Indem der Mensch daran arbeitet, alle seine Fähigkeiten zu entfalten, d.h. seinen physischen, sinnlichen, sozialen und intellektuellen Potenzialen zum Ausdruck zu verhelfen, wird er zum „reichen“ Mensch. Reich bedeutet hier freilich nicht reich im ökonomischen, sondern im menschlichen Sinn. Ein solcher Reichtum schließt den Genuss ausdrücklich ein: „Er bedarf des Genusses an der Welt und an sich selbst. […] Und er bedarf des anderen Menschen […] seiner Gemeinschaftlichkeit mit ihm, denn ohne ihn wäre die Welt nicht und auch nicht der Genuss an ihr. Er bedarf – kurz gesagt – des anderen Menschen als seines höchsten ‚Bedürfnisses‘“ (S. 490f.). Verwirklicht nun der Mensch in der Gemeinschaft seine Potenziale, hat er nicht nur die Chance, sich, d.h. seine Menschlichkeit zu erfahren, sondern zugleich einer anderen Subjektivität gewahr zu werden. Im Setzen erfährt der Mensch zugleich, dass das Gesetzte Ausdruck „gegenständlicher Wesenskräfte“ (S. 491) ist. Diese sind zwar auch Ausdruck menschlicher Macht, aber der Mensch macht sie nicht. Wird der Mensch nun in dieser Weise reich, so bedarf er nicht mehr des Bildes vom Weiblichen als Kompensation. Im Gegenteil, er kann hinter dem Bild die Frau als Mensch erkennen, die er um ihr Menschsein und um der Entfaltung seines eigenen Menschseins willen bedarf.
Diskussion und Fazit
Friedrich Voßkühler legt ein im wahrsten Sinne des Wortes gewichtiges Buch vor. Der gedankliche Aufbau des Buches erschließt sich dem Leser nicht auf den ersten Blick. Erst gegen Ende, im 17. Kapitel, also dort, wo der Autor seinen weitläufigen Gedankengang zusammenfasst, fügt sich das Werk zu einem Ganzen. Begehren – Lieben – Denken ist eine spannende philosophische Reise, die sich zum Ziel setzt, das Weibliche zu verstehen. Das Weibliche verstehen heißt, das Bild zu verstehen, das sowohl Mann als auch Frau selbst erschaffen, selbst aufrecht erhalten und an das sie sich selbst verlieren. Das Weibliche erweist sich als Ausdruck einer tiefen Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht, den Mangel zu schließen, den die Vernunft – oder besser: die Metaphysik – aufscheinen lässt. Warum mangelt es uns so sehr an etwas, das wir das Bild vom Weiblichen brauchen, so sehr, dass wir uns in die größte Gefahr begeben und allzu häufig ins Verderben stürzen? Vielleicht, um es mit Voßkühler zu sagen „weil der Gott, den die Metaphysik lehrte, weil die Gewißheit, die sie deduzierte, nicht die Geborgenheit gewährte, durch die erst den Menschen das Leben lebenswert erscheint“ (S. 583). Es ist die Geborgenheit, die Liebe, die das Andere der Vernunft darstellt. Sowohl die metaphysische Erhöhung des Weiblichen als auch die totale Erniedrigung, ja auch der weibliche Masochismus deuten auf den tiefen Wunsch, dieses Andere der Vernunft zu erfahren. Geschieht das aber um den Preis der Aufgabe der Vernunft, sind wir ebenso verloren, wie im Falle einer menschlich armen, funktionsorientierten, durchtechnisierten und verkapitalisierten Welt.
Der Ausweg aus dem Begehren nach Liebe besteht darin, das Begehren zu verstehen. Wenn das gelingt, und das kann nur denkend gelingen, dann kann das Weibliche als Bild verstanden und hinter das Bild geschaut werden. Der Blick dahinter entdeckt die Frau als Mensch. Das denkende Entdecken erweist sich allerdings keineswegs ausschließlich als Aufgabe des Mannes. Im Gegenteil: Mann und Frau stehen ja beide in der Gefahr, sich im Begehren zu verlieren, und so erwächst für sie beide die Aufgabe, die Frau hinter den Vorstellungen vom Weiblichen zu suchen. An der Frau als Mensch erfährt sich der Mann als Mensch (und umgekehrt), hinter den Bilder begegnen sich also Menschen, die sich nicht bloß in ihrem Begehren widerspiegeln und in ihren Vorstellungen (und Verstellungen) dabei doch niemals zueinander finden. Im Gegenteil: Sich am anderen Menschen zu erfahren, heißt Erschütterungen und Brüche zu erfahren, aber nur dieser oft schwierige, steinige Weg eröffnet die Chance, sich selbst und den Anderen als Mensch und in seiner Menschlichkeit zum Ausdruck zu verhelfen. Nur so kann die Welt reich an Menschlichkeit werden.
Voßkühler begleitet den Leser bei dieser Reise, er führt ihn, wie der Pädagoge seinen Schüler führt, er legt seine Fragen offen und er befragt mit dem Leser gemeinsam jeden Gedanken, den er anstellt. Die Reise führt dabei auch in literarische Untiefen, dorthin, wie es weh tut und an manchen Stellen auch kaum zu ertragen ist. Und als Philosoph weiß er mithilfe der Philosophie diesen Schmerz verstehbar zu machen, ihn als das zu enttarnen, was er ist: ein notwendiger Schmerz, der den Weg zum Wesentlichen hinter dem Scheinbaren bedeutet. Das Buch sei jedem empfohlen, der verstehen will, warum uns scheinbar allgegenwärtig eine merkwürdige Form der Erotik begegnet, die nichts Menschliches mehr zu haben scheint. Warum das Gerede von Liebe und Lust uns nicht zum Anderen führt, sondern im Gegenteil uns voneinander trennt. Es richtet sich an philosophisch und literarisch Interessierte, die sich die Zeit nehmen wollen, ein (tieferes) Verständnis der Gründe ihres eigenen Begehrens zu gewinnen.
Rezension von
Dr. Thomas Damberger
Professur für Bildungs- und Erziehungswissenschaften im Kontext der Digitalisierung an der Freien Hochschule Stuttgart
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Es gibt 19 Rezensionen von Thomas Damberger.
Zitiervorschlag
Thomas Damberger. Rezension vom 01.04.2015 zu:
Friedrich Voßkühler: Begehren - Lieben - Denken. Ein philosophisch-literarischer Näherungsversuch an das Weibliche anhand von Bildern. Mit einer Kritik von Judith Butler zum Schluss. Verlag Königshausen & Neumann
(Würzburg) 2014.
ISBN 978-3-8260-5597-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18670.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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