Helen Sanderson, Gill Bailey: Praxishandbuch person–zentrierte Pflege
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 11.09.2015
Helen Sanderson, Gill Bailey: Praxishandbuch person–zentrierte Pflege. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2015. 248 Seiten. ISBN 978-3-456-85514-1. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 39,90 sFr.
Thema
Demenzpflege im Pflegeheim ist ein weites Feld. Es umfasst eine demenzspezifische Grund- und Behandlungspflege mit ihren eigenen Regeln, es bedeutet aber zugleich auch die Betreuung, die Milieugestaltung, das soziale Zusammensein und auch Aspekte der Raumgestaltung. Gegenwärtig befindet sich die Demenzpflege noch im Stadium einer Orientierung hinsichtlich der Vorgehensweisen. Es braucht noch viel Zeit und Mühe, um das bisherige Wissen aus Theorie und Praxis zu einem verbindlichen Rahmengefüge zusammenzufassen. Die vorliegende Veröffentlichung zeigt Wege der Demenzversorgung aus England.
Autorinnen
Helen Sanderson ist Geschäftsführerin der Helen Sanderson Associates und emeritierte Direktorin der International Community for Person-Centred Practices in Großbritannien (www.helensandersonassociates.co.uk und www.hsapress.co.uk). Gill Bailey hat eine Krankenpflegeausbildung absolviert und war dann über 25 Jahre in verschiedenen Pflegeeinrichtungen und Planungskommissionen für Gesundheitsdienstleistungen und für die soziale Arbeit tätig. Sie hat ein Diplom in Demenzstudien und arbeitet augenblicklich an ihrer Masterarbeit. Gegenwärtig ist sie mit der Einführung Persönlicher Budgets für Demenzkranke im ambulanten und stationären Bereich beschäftigt. Beide Autorinnen arbeiten ehrenamtlich in einem Pflegeheim für Demenzkranke.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation ist in elf Kapitel und einen Anhang unterteilt.
In Kapitel 1 (Über dieses Buch: Und Arthur – Seite 13-19) wird zu Beginn anhand einer knappen Falldarstellung – „Arthur“, ein 80jähriger alleinlebender Demenzkranker, der hauswirtschaftlich und pflegerisch von einer Sozialstation versorgt wird und u. a. Schwierigkeiten bei der Mahlzeiteneinnahme aufweist – die Vorgehensweise der Autorinnen knapp skizziert. Es folgen Hinweise auf die Inhalte des Buches. Es geht vor allem um die Lebensgeschichten von Demenzkranken mit früh einsetzender Demenz, die ambulant im häuslichen Bereich und auch stationär u. a. auch von den Autorinnen in den letzten fünf Jahren betreut wurden.
Kapitel 2 (Personalisierung und Menschen mit Demenz – Seite 21-30) enthält die Darstellung des versorgungsrechtlichen Rahmens der Dienstleistungen der Autorinnen, der im Wesentlichen aus individuellen Pflegekonten ähnlich dem Verfahren des Case-Managements besteht. In diesem Kontext wird ein persönliches Budget für die Betroffenen z. B. in einem Pflegeheim als Kooperationsleistung zwischen dem kommunalen Dienstleister, dem verantwortlichen Träger und den Helen Sanderson Associates erstellt. Konkret bedeutet dies, dass den demenzkranken Bewohnern des Heimes Bruce Lodge, einem Pflegeheim in Stockport, jeden Monat zwei Stunden individuelle Unterstützung gewährt werden. Die zusätzlichen Unterstützungsstunden werden von den Bewohnern unterschiedlich gestaltet: u. a. Marktbesuch und Cafébesuch in der Ortschaft, Bootsfahrt, Gottesdienst in der Pfarrkirche oder die Erstellung eines Albums mit lebensgeschichtlich bedeutsamen Inhalten.
In Kapitel 3 (Die Person kennen – Seite 31-57) werden einführende Informationen über die „person-zentrierten Denkwerkzeuge“ und weitere Praktiken der Autorinnen u. a. anhand von Beispielen und graphischen Darstellungen gegeben:
- Das Modell „Gute Tage, schlechte Tage“ erfasst die wiederkehrende Alltagsgestaltung mit den wiederholt auftretenden positiven und auch negativen Erlebnissen.
- Das „Kurzporträt“ enthält die bedeutsamen Lebensaspekte der Demenzkranken und die erforderlichen Hilfeleistungen seitens der Betreuer.
- Bei der „Kommunikationsanleitung“ handelt es sich um Vorgehensweisen, um die Absichten und Wünsche des Demenzkranken aus den teils unverständlichen Vokaläußerungen und Verhaltensweisen erschließen zu können.
- Die „person-zentrierte Fallbesprechung“ bietet den Demenzkranken und ihren Angehörigen die Möglichkeit zur Überarbeitung des gegebenen Dienstleistungsangebotes gemäß den Interessen und Bedürfnissen der Betroffenen.
- Die „Beziehungskreise“ enthalten das Soziogramm der Demenzkranken und Strategien, wie man bei der Aufrechterhaltung dieser Beziehungen Hilfestellung geben kann.
- Die „Entscheidungsfindungsvereinbarung“ besteht aus dem Entscheidungsrahmen der Demenzkranken und dem korrespondierenden Unterstützungsangebot.
- Im „gemeinsamen Veränderungsmanagement“ werden u. a. die Pflegeleistungen gemäß den Fallbesprechungen aufgeführt.
- Der „Ortsplan“ besteht aus einem Lageplan der Orte in der Gemeinde, die der Demenzkranke aufsucht.
In Kapitel 4 (Wahl- und Entscheidungsfreiheit in der Praxis - Seite 59-77) werden detailliert mittels mehrerer Fallbeispiele die Vorgehensweisen „Kommunikationsanleitung“ und „Entscheidungsfindungsvereinbarung“ teils mit Abbildungen veranschaulicht.
Kapitel 5 (Passende Pflegekräfte auswählen (Matching) und Verantwortungsbereiche klären – Seite 79 -87) beschreibt anhand von Falldarstellungen das praktische Vorgehen bei der Zuordnung und Erbringung der verschiedenen Pflege- und Betreuungsleistungen.
Kapitel 6 (Die positiven und negativen Aspekte der Pflegesituation ermitteln und richtig reagieren – Seite 89 – 114) enthält ein ausführliches Beispiel für die Vorgehensweise der „person-zentrierten Fallbesprechung“.
Kapitel 7 (Nachdenken, lernen und handeln – Seite 115 – 123) beschreibt die „Denkwerkzeuge“ „Vier-plus-Eins-Fragen“ und „Lerntagebuch“, bei denen es sich um Evaluation- und Reflexionsinstrumente im Rahmen der Optimierung der Pflege- und Betreuungsleistungen handelt.
Kapitel 8 (Vergangenheit und Zukunft: Lebensgeschichten und Wünsche für die Zukunft – Seite 125 – 144) erläutert die verschiedenen Aspekte der Biografieorientierung bei der Pflege und Betreuung Demenzkranker, wobei u. a. anhand eines Fallbeispiels Elemente eines Biografiebogens dargestellt werden.
Kapitel 9 (Teil der Gemeinschaft sein – Seite 145 – 155) enthält die Vorgehensweisen „Community-Mapping-Methode“ (u. a. Auflistung der Örtlichkeiten im räumlichen Umfeld, die von den Demenzkranken genutzt werden können), das Modell „beteiligte Präsenz“ (Möglichkeiten der Einbindung der Demenzkranken in Gruppierungen des Nahbereiches wie Kirchengemeinde oder Vereine) und die Erfassung des soziales Umfeldes der Erkrankten (Beziehungs- und Unterstützungskreise).
In Kapitel 10 (Alle Erkenntnisse und Methoden bündeln – Seite 157 – 166) werden alle Strategien anhand eines Fallbeispiels noch einmal zusammengefasst.
Kapitel 11 (Den Anfang machen und Angebote verbessern – Progress for Providers – Seite 167 – 174) enthält ein Bündel an Qualitätsmerkmalen zur Verbesserung der Pflege und Betreuung der Demenzkranken in den Pflegeheimen und Empfehlungen, wie diese Konzepte in der Praxis umgesetzt werden können.
Der Anhang („Progress for Providers“ – Angebote verbessern – Seite 175 – 208) enthält ein fünfstufiges „Selbstassessment-Instrument“ zur Beurteilung des Qualitätsstandes in der Demenzpflege in einem Altenpflegeheim mit den Rubriken „Person“ (15 Aussagen), „Angehörige“ (4 Aussagen) und „Pflegepersonal und Management“ (14 Aussagen).
Christian Müller-Hergl hebt in seinem Nachwort (Seite 243 – 245) die vielen Vorgehensweisen der Demenzbetreuung und -begleitung ähnlich einem „Werkzeugkasten“ hervor. Zugleich bemängelt er u. a. das „auffällige Fehlen des Psychiatrischen“ in der Veröffentlichung und kommt zu dem Schluss: „Viele drängende Praxisprobleme finden allerdings wenig Beachtung; einiges erscheint eher selbstverständlich und altbekannt; manche Praxisbeispiele überzeugen nicht wirklich. Es ist ein typisch britisches Demenzbuch mit den erwartbaren Euphemismen und Auslassungen – dennoch habe ich es gern gelesen.“ (Seite 245).
Diskussion und Fazit
Die vorliegende Veröffentlichung thematisiert vorwiegend die Betreuung, Begleitung und das Alltagsmanagement von Demenzkranken vorwiegend im frühen Stadium der Erkrankung. Von der Pflege im engeren Sinne wird eher nur am Rande berichtet. Daher ist der Titel des Buches recht unglücklich gewählt, lautet doch der englische Originaltitel „Personalisation and Dementia“.
Das Lektorat hätte ein Einführungskapitel oder ein ausführliches Glossar über die Spezifitäten der englischen Altenhilfe und Demenzversorgung einschließlich der rechtlichen Rahmenbedingungen und Finanzierungsmodalitäten erstellen sollen. So fehlt das erforderliche Hintergrundwissen zwecks Einordnung der vielfältigen Vorgehensweisen in der Demenzbetreuung. Es wird z. B. nicht erklärt, ob das „Persönliche Budget“, der finanzielle Rahmen der angeführten Leistungen, eine Regelleistung oder ein innovativer Ansatz ähnlich einem Projektvorhaben darstellt. Man erfährt auch nichts Näheres über die „Helen Sanderson Associates“ als Organisation all dieser Handlungsweisen. Handelt es sich um eine privatgewerbliche oder um eine gemeinnützige Einrichtung? Auch über Helen Sanderson selbst werden keine beruflichen Informationen bekannt gegeben.
Anhand der teils ausführlichen Falldarstellungen gewinnt man einen ersten Einblick über die gegenwärtige Praxis in der ambulanten und stationären Altenpflege mit dem Schwerpunkt Demenzpflege und Demenzbetreuung in England. Der Rezensent kommt aufgrund der Darstellung der Leistungserbringung in England zu der Einschätzung, dass in Deutschland viele der angeführten Konzepte und Strategien schon Regelleistungen und damit beruflicher Alltag sind, die in England noch als Innovationen zu gelten scheinen. Somit sind der Veröffentlichung keine neuen Anregungen für die Pflege und Betreuung zu entnehmen.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 11.09.2015 zu:
Helen Sanderson, Gill Bailey: Praxishandbuch person–zentrierte Pflege. Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2015.
ISBN 978-3-456-85514-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18689.php, Datum des Zugriffs 09.11.2024.
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