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Sven Lewandowski, Cornelia Koppetsch (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 20.04.2015

Cover Sven Lewandowski, Cornelia Koppetsch (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter ISBN 978-3-8376-3017-6

Sven Lewandowski, Cornelia Koppetsch (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter. Beiträge zur Soziologie der Sexualität. transcript (Bielefeld) 2015. 310 Seiten. ISBN 978-3-8376-3017-6. D: 32,99 EUR, A: 34,00 EUR, CH: 43,70 sFr.

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Die aus der Nische tretende Sexualwissenschaft und ihr Thema: Heterosexualität

Seitdem Sexualität aus dem Verborgenen heraustritt und auch in Gesellschaft offen und öffentlich verhandelt wird, ändern sich auch die sexualwissenschaftlichen Diskussionen. Einerseits wurden durch die breitere Thematisierung des Sexuellen Veränderungen erreicht, die dazu führen, dass sexualisierte Gewalt nun aufgedeckt werden kann – und nicht unter der Tabu-Decke bleibt. Andererseits wird es nötig, vielfältige geschlechtliche und sexuelle Identitäten anzuerkennen – Öffentlichkeit und Sichtbarkeit als Voraussetzung für selbstbestimmtes geschlechtliches und sexuelles Leben (aber möglicherweise auch als Basis für die Einhegung der Vielfalt in Kategorie, Sicherheit und Hegemonie).

Mit der Sexualität tritt auch Sexualwissenschaft zunehmend aus dem Nischendasein. Wies die Schließung der Frankfurter Sexualwissenschaft zunächst in eine andere Richtung, so zeigt sich mit aktuellen Förderprogrammen, dass ein gesellschaftlicher Wandel dahingehend stattfindet, sexualisierte Gewalt auch mit Blick auf die strukturellen Bedingungen über institutionelle Förderprogramme zu thematisieren und Akzeptanzförderung gegenüber lesbischen, bisexuellen und schwulen Begehrensweisen sowie trans*- und inter*geschlechtlichen Identitäten zu betreiben. Das geschieht sicherlich auch, um die eklatanten Diskriminierungen gegen und hohen Suizidversuchsraten unter LGBTTI-Jugendlichen zu verringern.

Interessanter Effekt der breiteren Debatte ist einerseits die stärkere Entrüstung einiger – erzkonservativer und rechtspopulistischer – gesellschaftlicher Kreise über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Rüdiger Lautmann stellt prägnant fest: „Was für akademisch-subkulturelle Kreise noch geduldet worden war, ja als schick galt, erhitzte nun die Gemüter, als es in den Kernbereich konservativen Selbstverständnisses vordrang: in Familie, Schule und Kirche.“ (S. 29) Hintergrund der Entrüstung ist dabei aber möglicherweise weniger die thematisierte Vielfalt, als vielmehr, dass nun Sexualität auch in den sexuellen Bereichen gesehen wird, wo sie zuvor kaum Thema war: Sexualwissenschaft schwenkt zunehmend auf Heterosexualität, die dort gelebten sexuellen Praktiken, das Zusammenleben in langjährigen Paarbeziehungen, dortige sexuelle Aktivität oder in anderen Fällen eintretende sexuelle Zurückhaltung sowie zwischen festen Paaren gelebte Beziehungskonstellationen.

Sexuelle Vielfalt und kategoriale Vereindeutigung

Mit der Auswahl der Aufsätze widmet sich der vorliegende Sammelband „Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter“ diesem sexualwissenschaftlichen Schwenk auf Heterosexualität. Rüdiger Lautmann konnte für den Beitrag, der den soziologischen Rahmen für die Betrachtungen zur Sexualität spannt, gewonnen werden. Lautmann hat mit seinen Arbeiten zur Soziologie der Sexualität Maßstäbe gesetzt und macht das auch hier. Er konstatiert eine gesellschaftliche geschlechtliche und sexuelle Pluralisierung, die in den „politischen Programmen und subkulturellen Diskursen“ aber weniger eine „Individualisierung und auch nicht die 43 Millionen [geschlechtlich-sexuellen, Anm. HV] Hirschfeld-Typen“ (S. 32) meine. „Vielmehr werden einige wenige Sexual- und Geschlechtsformen zusammengestellt: lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, transsexuell, intersexuell […].“ (Ebd.) Es ist also wichtig, das Schlagwort ‚sexuelle Vielfalt‘ zu füllen, um nicht einer Einhegung und Einengung geschlechtlicher und sexueller Spielräume auf den Leim zu gehen, die sich aus der kategorialen Fassung politischer Programme und aktueller gesellschaftlicher Diskurse ergeben können. Und hier sieht Lautmann eine Herausforderung für die Soziologie: „Antiklassifikatorisches Denken fällt der Soziologie schwer. Wissenschaft will ordnen, einordnen […].“ (S. 50) Insofern werden andere Formen von Wissenschaft nötig, um eingefahrene Spuren verlassen zu können und damit Soziologie (und so gilt es auch für die übrigen Disziplinen) im eigentlichen Sinn Wissenschaft bleiben kann: nicht in Denkschablonen und Dogmen gefangen. Als wahrscheinliche Prognose sieht Lautmann die Fortsetzung des Pluralisierungstrends. Die (kategorial gefasste) Vielfalt werde allmählich alltäglich. Zugleich konstatiert er, dass „die Moralisierung in die vormals libertären Sexualformen eindringen“ werde (S. 60).

Fokus Heterosexualität

Auch die folgenden Beiträge sind analytisch angelegt. Und auch in ihnen wird der sexualwissenschaftliche Schwenk auf Heterosexualität sichtbar. Heterosexualität wird von banaler Nicht-Thematisierung befreit. Vielmehr stellt sich die Frage, was denn eigentlich Heterosexualität ist. Während sich bei Homosexualität durchaus populär Assoziationen zu etwaigen sexuellen Akten aufdrängen (auch sie sind im realen Tun durchaus anders und vielfältiger), so sind Fragen zu konkreten sexuellen Praktiken von Heterosexuellen in größerem Maße unterbelichtet. Mit der Frage „Was ist Heterosexualität?“ haben sich die Wissenschaften kaum befasst. Lediglich bestimmte Altersbereiche wurden hier – zudem problematisiert – verhandelt: Jugendsexualität, Alterssexualität. Eine positive und auf Wohlbefinden orientierte Sexualität, zudem im gesamten Lebensverlauf, wurde hingegen kaum untersucht. Ein bemerkenswerter und das weitere Buch prägender Beitrag ist der von Sven Lewandowski: „Das Geschlecht der Heterosexualität oder: Wie heterosexuell ist Heterosexualität?“. Hier spannt er das zu beackernde Themenfeld auf und stellt etwa die Frage, ob auf Grund der weitgehenden Dethematisierung von Sexualität in Bezug auf Heterosexualität „Geschlecht“ und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen das eigentliche diese Form des sexuellen Begehrens Prägende sind. Mit Bezug auf Sheila Jeffrey diskutiert Lewandowski, ob es sich bei „Heterosexualität folglich [um] eine machtförmige, nicht in erster Linie sexuelle Praxis“ handele (S. 156).

Im Weiteren thematisieren Silja Matthiesen, Jasmin Mainka und Urszula Martyniuk „Beziehungen und Sexualität und Jugendalter“. Wie es sexualwissenschaftlich Standard ist, stellen sie entgegen der populären Problematisierung von Jugendsexualität fest, dass diese wertschätzend, verantwortlich und in der Regel in Beziehungen stattfindet: „Für die meisten der von uns befragten Jugendlichen gehört Sex in eine Liebesbeziehung […]. Die Beziehungen sind eng, personenzentriert und romantisch, sie werden von den Eltern positiv bewertet und unterstützt und meist bruchlos in den familiären Alltag integriert. […] Maßgeblich werden Beziehungen durch die Ideale ‚Liebe‘ und ‚Treue‘ geprägt […]. Dabei sind Jugendliche in der Regel tatsächlich monogam, wenn auch oft in kurzen Partnerschaften, seriell monogam.“ (S. 244f). Cornelia Koppetsch, Sarah Speck und Alice Jockel machen in ihrem Beitrag „Karrierefrau und Märchenprinz? Geschlechterverhältnisse und sexuelle Praxis“ Paarsexualität zum Gegenstand der Untersuchung – und fordern weitere Forschungen zu diesem von ihnen als vernachlässigt eingeordnetem Feld ein. Miriam Venn gibt einen Einblick in die „Lebenswelt der Swingerpaare“. Sie zeigt auf, „dass Swinger und Swingerinnen in der Regel emotional monogam leben. Damit unterscheidet sich Swinging von Polygamie und Polyamory. […] Individuelle – hier vor allem sexuelle – Selbstverwirklichung stellt keinen Widerspruch zur Dauerhaftigkeit von Liebe und Treue innerhalb der Paarbeziehung dar. Swinger/-innen leben ihre individuelle sexuelle Lust aus, was in Swinger-Beziehungen zum Imperativ des ‚Gönnen-Könnens‘ führt […].“ (S. 257f)

Mit Forschungen zu Heterosexualität gilt es fortzufahren, unter anderem weil „Heterosexualität sexuell einerseits als eigentümlich leer erscheint, aber andererseits aufgrund dieser Leere offen für paradoxe und nicht eindeutig heterosexuelle Sexualformen ist“ (Lewandowski, S. 151). Es zeigt sich offenbar ein interessantes Themenfeld. Ebenfalls wenig beleuchtet ist Bisexualität – ihr wendet sich im Band eingängig der Beitrag von Eva Kemler, Martina Löw und Kim Ritter zu.

Fazit

Es handelt sich bei „Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter“ um einen inspirierenden Band. Er überrascht und ist innovativ gerade für den Fokus: Heterosexualität. Ihn werden wir nun sexualwissenschaftlich häufiger finden.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 65 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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ISSN 2190-9245