Mona Motakef: Prekarisierung
Rezensiert von ao. Univ.Prof. Dr. Gerhard Jost, 25.06.2015

Mona Motakef: Prekarisierung. transcript (Bielefeld) 2015. 184 Seiten. ISBN 978-3-8376-2566-0. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 21,20 sFr.
Thema
Mit Prekarisierung wird im wissenschaftlichen Diskurs auf die unsicheren und kurzlebigen Erwerbs- und Lebensverhältnissen verwiesen. Das Phänomen hat ihren Ausgangspunkt im erwerbswirtschaftlichen Bereich genommen und entstand durch den Rückgang des Normalarbeitsverhältnisses, welches (noch) eine Schutz- und Integrationsfunktion ausbildete. Die Entwicklung zeigt, dass sich Prekarisierung nicht nur in die Unter-, sondern genauso in die Mittelschicht hineinverlängert hat, dabei auch andere Lebensbereiche als die Arbeitssphäre umfasst. Nicht nur aufgrund der umfassenderen Verbreitung, sondern genauso wegen der unscharfen Konturen erscheint es nicht leicht, in systematischer Weise einen einführenden Überblick über Prekarisierung im sozialwissenschaftlichen Diskurs zu geben. Das vorliegende Buch ist ein (gelungener) Versuch dazu, indem es sowohl verschiedene Ansätze als auch das Zusammenspiel der prekären Erwerbsarbeit mit anderen Lebensbereichen aufgreift.
Aufbau und Inhalt
Die Autorin beginnt ihre Arbeit mit einem einführenden Kapitel, in welchem sie zunächst den Prekarisierungsbegriff diskutiert (S. 4 – 20). Dabei wird auf Definitionen bzw. Konnotationen von wichtigen Autoren dieses Bereichs (z.B. Bourdieu; Castel; Brinkmann/Dörre et.al.) eingegangen, aber auch die kritischen Kommentare der Geschlechterforschung, die das Aufkeimen des Diskurses im Zusammenhang mit der androzentrischen Perspektive eines männlich dominierten Normalarbeitsverhältnisses betrachtet. Gleichfalls befasst sich die Autorin in diesem Kapitel mit dem Hintergrund prekärer Arbeitsverhältnisse, des neoliberalen Umbaus des Sozialstaats, der sich von einem versorgenden zu einem aktivierenden gewandelt hat. Das Postulat ausgleichender Aktivitäten vollzieht sich nun auf der Ebene „sozialer Teilhabemöglichkeiten“, orientiert sich nicht mehr am Ausgleich materieller Lebensverhältnisse. In einem weiteren Abschnitt dieses Kapitels wird die dem Prekariat vorgängige Debatte der Exklusion aufgegriffen und mit Vorstellungen von Prekarisierung verglichen. Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff der Exklusion vor allem dazu verwendet, die mit der Armuts- und Ungleichheitsforschung nicht in der Weise erfassbare Konstitution von Ausgrenzungsprozessen zu beleuchten. Letztlich werden im Eingangskapitel noch poststrukturalistische Ansätze eingebracht (Butler, Foucault).
Nach dieser Einführung wird der Prekarisierungsdiskurs in drei Kapiteln abgehandelt:
- ein erstes Kapitel beschäftigt sich zunächst mit der Prekarisierung in der Arbeitswelt (S.21-69), wobei den Ansätzen von Bourdieu, Castel und Boltanski neben dem Strukturwandel der Arbeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird;
- das nächste Kapitel behandelt die Prekarisierung in der Geschlechterforschung (S. 70-117),
- im letzten Kapitel (vor einem Resümee) erfolgt eine Auseinandersetzung mit postoperaistischen Ansätzen (S. 118-132).
Im ersten Kapitel wird der Ausgangspunkt von Prekarisierung, die Erwerbssphäre, in den Mittelpunkt gestellt. In der Arbeitswelt haben sich Dynamiken etabliert – seien es Entgrenzungs- und Subjektivierungsprozesse, Vermarktlichung oder die Ausbildung eines unternehmerischen Selbst –, in denen sich Prekarisierung als „Motor“ der Entwicklungen erweist. Gleichzeitig bewirken atypische Beschäftigungsverhältnisse und andere Formen von Erwerbstätigkeit (z.B. Selbstständigkeit), dass sich prekäre Lebenslagen ausweiten und verfestigen. In dieser Linie werden viele Einzelbefunde ausgebreitet, wie auch die These, dass nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern genauso prekäre Arbeitsverhältnisse Desintegrationspotenziale darstellen und sich, mit Verweis auf Dörre und Castel, Zonen der Integration und Prekarität entwickeln. Zusammenfassend verweist die Autorin – über die inhaltlichen Ausführungen hinausgehend – auf „theoretische Baustellen“, wie z.B. der Abgrenzung zwischen Prekarisierung und Armut sowie des Verhältnisses zur Sozialstruktur.
Im darauf folgenden zweiten Kapitel werden Thematiken eines geschlechtersoziologischen Zugangs behandelt, wobei die Verortung von Prekarisierung nun nicht mehr ausschließlich in der Erwerbsarbeit erfolgt, sondern genauso Familie und Haushalt als Bereiche prekärer Lebensverhältnisse mitthematisiert werden. In der Prekarisierungsdebatte wird vielfach nur das männlich dominierte Normalarbeitsverhältnis als Ausgangspunkt genommen und die Verabschiedung bemängelt. Nicht gesehen wird, dass schon seit langem prekäre Lebenslagen von Frauen, aber auch MigrantInnen, bestehen. Gleichzeitig wird der Bereich der Reproduktionsarbeit im Prekarisierungsdiskurs eher vernachlässigt. Frauen sind allerdings in vielfacher Hinsicht prekären Verhältnissen ausgesetzt. So sind sie in atypischen Beschäftigungsverhältnissen überproportional vertreten, müssen in Folge gesellschaftlich immer noch gültiger geschlechtsspezifischer Rollen in vielen Fällen Erwerbs- und Reproduktionsarbeit vereinen. Eine ausschließliche Perspektive auf Verhältnisse in der Lohnarbeit greift daher zu kurz, weil eine solche die „private“ Arbeit ausblendet und damit auf prekäre Verhältnisse durch Care- und Haushaltsarbeit nicht eingegangen wird. Prekarität im Lebenszusammenhang geschlechtersoziologisch zu betrachten, bedeutet daher, jene Faktoren und Dimensionen zu inkludieren, welche die familiäre Lebensführung erschweren. Eine solche Perspektive ermöglicht, die Wechselwirkungen zwischen Erwerbs- und Familienleben zu erfassen. In diesem Kapitel werden darüber hinaus die Konsequenzen des zurückgehenden „Ernährermodells“ auf Männlichkeitskonstruktionen reflektiert und auf die „Queer Theory“ bzw. Heteronormativität eingegangen.
Im letzten Kapitel wird Prekarisierung in postoperaistischen Ansätzen behandelt (Virno, Negri). Diese Ansätze betrachten stärker politische Bewegungen und Strategien, wird – wie die Autorin anführt – Prekarisierung aus einer doppelten Perspektive betrachtet, die destruktive als auch emanzipatorische Potenziale aufweist. Ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Ansätze ist, dass sich neue Formen globaler Herrschaft und Produktionsweisen zeigen. Es entwickelt sich mehr an immaterieller Arbeit und der Produktionsort verlagert sich von der Fabrik weg, sodass heute andere Kompetenzen wie Disziplin und Gehorsam notwendig geworden sind: Aktivität, Selbstvermarktung, Kreativität und Eigenverantwortung. Diese Anforderungen werden nun aber nicht mehr nur in der Arbeitssphäre benötigt, sondern weiten sich auf alle Lebensbereiche aus – das gesamte Leben ist folglich als Produktionszone aufzufassen. Nicht mehr die Aneignung fremder Arbeitszeit, sondern immaterielle Produkte (wie Kreativität, soziale Beziehungen) werden erzeugt. Anders als in fordistischen Zusammenhängen macht man sich damit unter diesen Bedingungen selbst zum Subjekt bzw. Objekt der „Ausbeutung“. Wie die Autorin ausführt, besteht die Stärke postoperaistischer Ansätze darin, Ambivalenzen von Prekarisierung sichtbar zu machen. Aufmerksamkeit haben sie vor allem in sozialen Protestbewegungen erhalten (z.B. EuroMayDay-Bewegung).
Das Buch schließt mit zusammenfassenden Erkenntnissen zur Prekarisierungsforschung, in der die Autorin auch nach den Folgerungen für politisches Handeln fragt. In Teilen der Forschung wird eine „Politik der Entprekarisierung“ als implizites Ziel verfolgt, um über Studien noch stärker auf das Phänomen und die Problematiken prekärer Lebenslagen aufmerksam zu machen. Aus geschlechtersoziologischer Perspektive lassen sich aber auch emanzipatorische Impulse für Veränderungen ableiten: mit der Aufweichung des männlichen Ernährermodells entstehen Chancen für Veränderungen von (prekärer) Reproduktions- und Sorgearbeit. Wie die Autorin ausführt, wäre ein Modell einer veränderten politischen Ausrichtung, die Zentralität der Erwerbsarbeit aufzuweichen und „Sorgearbeiten“ zum Ausgangspunkt sozialpolitischer Sicherungen zu machen. Der Diskussion über mögliche politische Handlungsweisen der Entprekarisierung fügt die Autorin noch weiterführende Reflexionen über den Stand und die Entwicklungsoptionen der Prekarisierungsforschung abschließend hinzu.
Fazit
Das Buch bietet eine gut nachvollziehbare Einführung bzw. einen Überblick über die Prekarisierungs- bzw. Prekaritätsforschung. Ein besonderes Anliegen erscheint, der geschlechtersoziologischen Forschung in diesem Diskurs einen adäquaten Stellenwert zu geben. Marchart verweist in einer seiner drei fundamentalen Achsen der Prekarisierungsgesellschaft darauf, dass die prekären Verhältnisse auf sämtliche Lebensverhältnisse zu zentrieren sind, sich Produktion und Reproduktion nicht trennen lassen. Nicht nur in diesem Punkt, sondern in den Ausführungen insgesamt liegt ein interessantes Buch vor, das über die Darstellung des Diskurses hinaus weiterführende Reflexionen zum Stand der Prekarisierungsforschung wie zum Feld politischer Folgerungen aus diesem Forschungsbereich anbietet.
Rezension von
ao. Univ.Prof. Dr. Gerhard Jost
Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, WU, Wirtschaftsuniversität Wien, Department für Sozioökonomie.
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Es gibt 21 Rezensionen von Gerhard Jost.
Zitiervorschlag
Gerhard Jost. Rezension vom 25.06.2015 zu:
Mona Motakef: Prekarisierung. transcript
(Bielefeld) 2015.
ISBN 978-3-8376-2566-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18698.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
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