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Sabine Aydt: An den Grenzen der interkulturellen Bildung

Rezensiert von Tatjana van de Kamp, 23.09.2015

Cover Sabine Aydt: An den Grenzen der interkulturellen Bildung ISBN 978-3-8376-2872-2

Sabine Aydt: An den Grenzen der interkulturellen Bildung. Eine Auseinandersetzung mit Scheitern im Kontext von Fremdheit. transcript (Bielefeld) 2015. 253 Seiten. ISBN 978-3-8376-2872-2. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 40,10 sFr.

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Thema

Führt interkulturelle Bildung und Kulturwissen zwangsläufig zu weniger Fremdheit und einem leichteren Zusammenleben? Diese Frage stellt sich Sabine Aydt in ihrem Essay und untersucht, woran wir auf diesem Weg scheitern und inwieweit die Erfahrung des Scheiterns das interkulturelle Lernen bereichern kann.

Autor

Mag. iur. Dr. phil. Sabine Aydt arbeitet an kulturwissenschaftlichen Themen, lehrt und berät zu Interkulturellen Kompetenzen und Migrationsgesellschaft und ist Mitbegründerin des Bildungsnetzwerks NIC-Networking Inter Cultures.

Entstehungshintergrund

Nach ihren eigenen Erfahrungen von Fremdheit als Entwicklungshelferin in Westafrika, nahm Sabine Aydt die Herausforderung an, interkulturelle Bildungsangebote zu entwerfen, die vorbeugend vor unangenehmen Erfahrungen schützen sollten. Doch je mehr sie den Horizont der Interkulturalität (Begegnung, Synergie, Offenheit, Akzeptanz) anstrebte, desto mehr schien sich dieser zu entfernen und unlösbare Widersprüche offenzulegen. Daraufhin machte sie sich auf die Suche nach anderen Zugängen, indem sie ihre Erfahrungen des Scheiterns reflektierte. So entstand ihre Dissertation „Woran scheitert interkulturelle Bildung?“, die Grundlage dieses Buches geworden ist.

Aufbau und Inhalt

Der Essay enthält nach Vorwort und Einleitung sechs Kapitel und endet mit einem Literaturverzeichnis und einer Danksagung.

1. Interkulturelle Bildung als Praxisfeld und Problem

Im ersten Kapitel bespricht Aydt Gegenstand, Ziel, Inhalt, Methode, Wirkungen und ethische Voraussetzungen des interkulturellen Lernens. Dabei reflektiert sie konzeptionelle Herausforderungen und Widersprüche der interkulturellen Bildung sowie positive und negative Wirkungen interkultureller Erfahrungen.

So scheitern beispielsweise Homogenitätsansprüche an der Heterogenität (Erfahrungen, Bildung, Sprachkenntnisse) der Zielgesellschaft. Der Kulturbegriff ist problematisch: Folgt die Interkulturalität auf die Existenz von Kulturen oder geht die Interkulturalität der Kultur voraus, indem die zu untersuchenden Differenzen vorab entschieden werden (Definitionsmacht)?

Die Prämissen der Interkulturalität sind ihrerseits kulturabhängig. Ist Interkulturalität damit normativ oder kann sie neutral sein? Kann Kultur von außen beschrieben werden oder ist sie nur von innen heraus verstehbar? Öffnung für Neues führt zum Aufbrechen von Widersprüchen und zum Verlust von Vertrautheit, damit auch zur Verunsicherung über das eigenen Selbst-und Weltbild.

Die Forderung nach einem bewussten Anpassungsprozess an neue, unvertraute Gesetzmäßigkeiten hat zunächst eine Einschränkung der eigenen Autonomie und Gestaltungsfähigkeit zufolge. Wie motiviert man Lernende, sich auf Kulturschockerfahrungen einzulassen? Ein Glücksversprechen erzeugt einen Anspruch auf Gelingen, mit der Kehrseite von Selbstzweifel oder Neid.

Für die Didaktik werden in einem deduktiven und kognitiven Prozess erfahrungsfernes theoretisches Wissen erst in Bildungswissen (Kulturstandards) und dann in erfahrbares Verhaltenswissen (interkulturelle Kompetenz) übersetzt, wobei die Umsetzung in ganzheitliches, also auch Gefühle, Körpererfahrung und Verhalten ansprechendes Erfahrungslernen vernachlässigt bleibt. Lerninhalte werden durch etablierte Personen bestimmt, was Manipulationsvorwürfen und Machtdiskursen Platz macht. Schließlich besteht der Anspruch, dass interkulturelles Lernen „freiwillig“ erfolgen möge: „Du sollst freiwillig wollen“ ist aber in sich paradox. Außerdem gibt es keinen Konsens darüber, was genau interkulturelle Kompetenz ausmacht.

Für die folgende Untersuchung fragt Aydt unter anderem nach Bedeutung, Grundannahmen und Veränderung von Denken und Kultur. Zentral steht dabei die Selbstreflexivität, angestoßen durch die Beschäftigung mit dem Scheitern.

2. Ansatz: Interkulturelle Bildung als Spiel der Heilung und des Scheiterns

Aydt überlegt, ob wir uns ähnlich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus der Rückbezüglichkeit unseres eigenen Denkens befreien und so einen Ort des Denkens und Sprechens außerhalb von Kultur finden können. Dafür wendet sie den Trick an, sich ausgehend von ihrer Erfahrung des Scheiterns eine spielerische „Als-ob-Wirklichkeit“ zu erschaffen, die es ihr erlaubt, sich von den eigenen Praktiken zu entfremden. Dafür stellt sie zwei Spielarten vor:

  • Das Spiel der Heilung oder Erlösung, in dem durch Aufklärung und Motivation für die richtigen Ziele zukünftiges Leiden vermieden werden soll. Damit ist die Überzeugung verbunden, dass sich Menschen rational und moralisch steuern lassen, und so ein schrittweiser Fortschritt für die ganze Menschheit erzielt werden kann.
  • Das Spiel des Scheiterns, in dem durch Leiden an Widersprüchen zwischen äußerer und innerer Realität sowie durch Hoffnung in einem kreativen Prozess immer wieder neue Veränderung herbeigeführt wird. Dieser Ansatz geht davon aus, dass das Neue nicht ohne Leiden zu haben ist, sich das Scheitern aber vorher gedanklich durchspielen und erfahren lässt.

3. Wissenschaftliche Wege: Erkenntnis und Lernen aus Erfahrung

Aydt schlägt vor, „die Erfahrung des Scheiterns als Referenz zu einer Philosophie der Kultur zu nehmen, weil Störungen wichtige Daten über Kultur als lebendiges, menschliches Phänomen enthalten“ (S. 98). Hierzu wählt sie den Essay (=Versuch) als spielerische Form und die Konzepte der Autoren Georges Devereux (Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften), Wilfred Bion (Lernen durch Erfahrung) sowie Otto F. Bollnow (Philosophie der Erkenntnis) als Bühne. Das Publikum ist der das Spiel beobachtende Leser.

4. Das Spiel mit der Kultur des Scheiterns

Die Autorin reflektiert ihre Erfahrungen der Begegnung und Entfremdung in Afrika und untersucht ihr Textmaterial auf darin enthaltene Modelle, wie beispielsweise der „Vorhang, der Welten trennt“ oder „Kitt, der Teile der Welt zusammenhält“ als Erfahrungen von Trennung und Verbindung. Sie interpretiert ihre kulturelle Erfahrung als „wiederkehrende Versagung des Wissens und Verstehens, die mit einem Mangelgefühl verbunden ist“ (S.138). Es geht nun darum, diesen Erfahrungen eine Bedeutung zu verleihen oder aber deren Sinnlosigkeit zu bewältigen. Dazu wählt sie die spielerische Auseinandersetzung mit dem Scheitern, gleich der „schmerzhaften Erfahrung der dauerhaften Unmöglichkeit, ein subjektiv oder sozial bedeutsames Ziel […] zu erreichen“ (S. 139). Die Geschichte des Scheiterns kann mit Vernichtung enden oder zu einer Wiederauferstehung führen. Schwierig ist dabei, dass unsere Erfolgsorientierung ein Scheitern gleich einem gesellschaftlichen Tabu eigentlich nicht zulässt.

Aydt spielt das Scheitern in verschiedenen Metaphern und Denkmodellen durch: dem Schiffbruch, der Tragödie nach Georg Simmel, dem Paradies und Freuds Urhorder, der griechischen Tragödie, der Geburt der Tragödie nach Friedrich Nietzsche, dem Übergangsobjekt und Übergangsraum nach Donald W. Winnicot, den Wegen der Kreativität nach Heinrich Popitz, sowie der katastrofischen Veränderung nach Wilfred Bion. Dabei erkennt sie, dass nicht sie, sondern ihr Modell eines getrennten oder trennbaren Ichs gescheitert ist, und beginnt, ein Beziehungs-Ich zu denken und die Beziehung ins Zentrum ihrer Überlegungen zu stellen.

5. Von den Modellen zum Modellieren: Lernen durch Erfahrung in Übergangsräumen

Aydt bildet aus den Spielerfahrungen und Metaphern Modelle, mit deren sie weiter denken kann. Besonders bedeutsam erscheinen ihr die Bilder „Kitt“ und „Kartenhaus“ mit der Kultur als verbindendem Stoff sowie „Vorhang“ und Schleier“ mit dem Modell der Veränderbarkeit und des Wechselns zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Diese Modelle füllen „die Kluft zwischen einzigartigen Erfahrungen und generalisierten theoretischen Aussagen“ (S.215). Sie zeigt an ihren eigenen Erfahrungen, wie die Modelle ihr helfen, einen „Behälter für das eigene kulturelle Ich“ und „die Widersprüchlichkeit der eigenen Existenz“ zu schaffen. Das Scheitern hatte die Bedeutung, den Weg zum Spiel zu weisen, welches sie nun beendet. „Der Vorhang hat sich gehoben und die Bühne geöffnet für die tragische Erkenntnis des lebendigen und widersprüchlichen Seins als kulturelles Wesen“ (S. 216).

6. Ein Modell für kulturelles Lernen durch Erfahrung: Ausblick

Aydt versteht ihre Modelle nicht als Theorien, sondern als Werkzeuge, um neues Denken unter verschiedenen Blickwinkeln („Vertices“) zu ermöglichen, von denen jeder zugleich relevant und begrenzt ist.

Didaktisch orientiert sie sich am österreichischen Grundschullehrplan für „Soziales Lernen“ und den „Umgang mit Differenzen“. Ihr Konzept des Kulturellen Lernens geht von geteilten Erfahrungen aus, aus denen sich ein „Ich“ herausdifferenzieren lässt. Sie sieht das Ich und die Gemeinschaft als komplementär und Homogenitätsgrade als kontextabhängig an. Durch die gemeinsame Arbeit aller Beteiligten wird deren Beziehungsfähigkeit weiterentwickelt, so dass individuelle und gemeinsame Ziele in Wechselwirkung entstehen können. Das individuelle Ziel, sich als Ich in der Welt verhalten zu können, kann nicht individuell gelöst werden. Der Lernprozess ist dabei nicht immer harmonisch.

Für Aydt ist kulturelles Lernen nicht normativ. Sie grenzt es von anderen Blickwinkeln (politisch, psychologisch, sozialwissenschaftlich, etc.) ab, für die soziale Normen und Ordnung relevant sind und warnt, dass die Vereinnahmung all dieser Blickwinkel zum Oberbegriff „Kultur“ zu unlösbaren Problemen führt. Sie sieht beispielsweise Rassismus als politisches und Fremdenhass als psychologisches Problem, und beides sei nicht durch Bildung aus der Welt zu schaffen. Sie hält es auch nicht für angebracht, unter dem Vertex des kulturellen Ichs, inhaltliche Ziele für kulturelles Lernen abzuleiten. Stattdessen orientiert sie sich an Methoden des Theaters, um Übergangsräume und Schwellenzustände („Liminalität“) kreativ zu erfahren und der Wahrnehmung zugänglich zu machen. Die Modelle dienen ihr dabei als Verkehrsmittel, die sie von einem Punkt zum nächsten bringen, um dort in ein anderes umzusteigen, denn das spielerische Verändern von Modellen eröffnet Übergänge zu neuen Erfahrungen.

Diskussion

In ihrem philosophischen Essay über interkulturelle Bildung schildert Sabine Aydt die Veränderung ihres Denkens und ihrer Einstellung zu Kultur und Fremdheit. Am Ende bietet sie für das kulturelle Lernen Methoden des darstellenden Spiels und das Denken in Modellen an. Dabei wird sie nicht sehr konkret bezüglich des Ablaufs der Bildungsmaßnahmen. Aber sie nimmt den Leser auf eine spielerische Denkreise mit, auf der sie sich kritisch mit gegenwärtigen Denkmustern über interkulturelle Bildung, Kultur und Erfahrung sowie der Überwindung von Fremdheit auseinandersetzt. Sie ermutigt uns, nicht vor dem Scheitern zu kapitulieren, sondern dieses konstruktiv und spielerisch zu neuen Denkmodellen verarbeiten. Spannend wäre nun die Fortsetzung, nämlich wie dieser anspruchsvolle Ansatz in die Bildungspraxis umgesetzt wurde und welche neuen Erkenntnisse aus diesen Erfahrungen gewonnen werden können.

Fazit

Sabine Aydt unternimmt in ihrem Essay über die Grenzen der interkulturellen Bildung das Experiment, Fremdheit auf einem spielerischen Weg des kulturellen Lernens durch Erfahrung zu überwinden, indem sie ihr Scheitern mit verschiedenen Denkmodellen und Elementen des Dramas simuliert. Am Ende des Weges warten nicht Heilung oder Erlösung, sondern die Entdeckung und Entwicklung eines kulturellen Ichs und seiner Beziehungsfähigkeit, welches Fremdheit und Scheitern konstruktiv erfahren und „sich als Ich in der Welt verhalten kann“.

Rezension von
Tatjana van de Kamp
Dipl. Kauffr., MA (Arbeits- und Organisationspsychologie)
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Es gibt 71 Rezensionen von Tatjana van de Kamp.

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Zitiervorschlag
Tatjana van de Kamp. Rezension vom 23.09.2015 zu: Sabine Aydt: An den Grenzen der interkulturellen Bildung. Eine Auseinandersetzung mit Scheitern im Kontext von Fremdheit. transcript (Bielefeld) 2015. ISBN 978-3-8376-2872-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18699.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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