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Christa Pfafferott: Der panoptische Blick

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 18.11.2015

Cover Christa Pfafferott: Der panoptische Blick ISBN 978-3-8376-2984-2

Christa Pfafferott: Der panoptische Blick. Macht und Ohnmacht in der forensischen Psychiatrie. Künstlerische Forschung in einer anderen Welt. transcript (Bielefeld) 2015. 364 Seiten. ISBN 978-3-8376-2984-2. D: 36,99 EUR, A: 38,10 EUR, CH: 48,10 sFr.

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Thema

In den Kliniken der forensischen Psychiatrie sind psychisch kranke Straftäter nach den Bestimmungen des § 63 StGB auf unbestimmte Zeit untergebracht, die aufgrund ihrer Erkrankung und einer damit in Zusammenhang stehenden Straftat als für die Allgemeinheit gefährlich eingeschätzt werden. Die Entlassung aus dieser Unterbringung erfolgt, „wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrige Taten mehr begehen wird“. Christa Pfafferott untersuchte zunächst anhand des von ihr produzierten Dokumentarfilms „Andere Welt“ die wechselseitigen Verflechtungen von Macht und Ohnmacht in einer solchen Klinik. Diese Analysen hat Pfafferott 2014 in einer künstlerisch-wissenschaftlichen Promotion vertieft. Ihre Analyse im Kontext von Michel Foucaults Überlegungen zum Modell des „Panopticons“ beleuchten, wie Machtphänomene im Kosmos der hochgesicherten Kliniken symptomatisch auch für die gesellschaftlichen Verhältnisse außerhalb dieser Institutionen stehen, in dem Individuen durch Überwachung und Kontrolle zunehmend diszipliniert werden. Die Arbeit wurde als Dissertation an der Hochschule für bildende Künste Hamburg vorgelegt.

Autorin

Christa Pfafferott absolvierte die Henri-Nannen-Schule/Hamburger Journalistenschule und arbeitet seitdem als Autorin für DIE ZEIT und das SZ-Magazin, studierte Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg. Arbeit als Regisseurin und Filmproduzentin. Promotion an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg mit der vorliegenden Arbeit.

Aufbau und Inhalt

In acht Abschnitten führt Christa Pfafferott

  1. in die Thematik und die Herangehensweise ihrer Untersuchung ein;
  2. beschreibt die konkreten Kontroll- und Machtverhältnisse in der untersuchten Institution;
  3. setzt sich mit den Bedingungen filmischer Arbeit in einer geschlossenen forensischen Klinik auseinander;
  4. stellt drei forensisch-psychiatrische Fallgeschichten vor;
  5. analysiert verschiedene Machtaspekte der Beschäftigten und Patientinnen;
  6. führt ihre Analysen in einem Fazit zusammen;
  7. öffnet den Blick aus der geschlossenen Klinik hinaus auf Aspekte der Kontrollgesellschaft und
  8. dokumentiert die verwendeten Literatur- und Filmquellen in einem Verzeichnis.

Weg ins Panopticon. Das Panopticon ist ein von Foucault eingeführter Begriff, der die gesellschaftliche Tendenz zunehmender Überwachung und Kontrolle und die daraus resultierenden Aspekte sozialer Konformität des Individuums beschreibt und begrifflich fasst. Das Wort lehnt sich an die architektonischen Gegebenheiten eines „idealen Gefängnisses“ an, in dem von einem Punkt aus alle Insassen überwacht werden können. Pfafferott nähert sich in diesem Einleitungskapitel den Aspekten der Gewalt und der Macht und speziell im Kontext von Gewalt und Macht von Frauen. Sie beschreibt dazu ihren eigenen Weg zu einer gründlichen Beschäftigung mit dem Phänomen des Maßregelvollzugs als Institution der Forensischen Psychiatrie als konkreter Ort der Überwachung und Kontrolle und gibt im Weiteren einen Überblick zur Struktur ihrer 360 Seiten starken Dissertation. Als Methode, die zwischen künstlerischer Arbeit (Film) und wissenschaftlicher Analyse konstruiert wird, beschreibt die Autorin eine mehrperspektivische Herangehensweise, indem die Realität des Kosmos Klinik bildlich festgehalten wird und das künstlerische Ergebnis inklusive der darin enthaltenen sozialen Phänomene analysiert werden, also ein zweistufiges Vorgehen von Feldarbeit und (späterer) Analyse. Um den Gegenstand der Untersuchung (Macht und Ohnmacht in der Forensischen Psychiatrie) begrifflich zu fassen, definiert die Autorin Macht als grundlegenden (produktiven) Handlungsantrieb individueller Existenz und Gewalt als eng an physische Merkmale (Verletzung, Zwang, Einsperren) geknüpftes Handeln von Individuen und Gesellschaften. Diese Überlegungen werden mit besonderem Fokus auf Machtaspekte unter Gendergesichtspunkten weiter ausgeführt (ungleiche Machtverhältnisse, kulturelle Rahmung individuellen Verhaltens, Ausagieren aggressiver Elemente, Rollenzuschreibungen, Geschlecht als soziale Konstruktion etc.). Ein abschließendes Unterkapitel beschreibt ausführlich die Rahmenbedingungen der Maßregeln der Besserung und Sicherung nach § 63 StGB, deren rechtssystematische und gesellschaftliche Positionierung, auch unter Berücksichtigung historischer Aspekte und aktueller Diskussionsstränge um den Maßregelvollzug (z. B. anhand des Falles Gustl Mollath).

Im Panopticon. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit der Struktur des Panopticons, mit der Beschaffenheit der konkreten Maßregelvollzugseinheit, dessen Konstruktion durch Raum und Zeit. Als zentrale Determinanten beschreibt Pfafferott die Achsen Raum-Bestimmtheit (die abgeschlossene Station, der eingeschlossene Raum und die damit eingeschlossenen, ohnmächtigen Patientinnen) und Zeit-Unbestimmtheit (unbestimmte Unterbringungszeit, fehlende zeitliche Befristung). Das Zusammenwirken dieser beiden Aspekte konstruiert die besondere Machtsituation einer forensischen Klinik, indem die Patientinnen unfrei sind und hinsichtlich der Dauer dieses Zustandes von der Einschätzung des Personals abhängig sind. Das Personal ist sich dieser Konstellation in jedem Moment bewusst und erklärt dieses Machtgefüge als Behandlungsauftrag. Pfafferott beschreibt die Mechanismen innerhalb des Kosmos Maßregelvollzugsklinik, die Stück für Stück Freizügigkeiten ermöglichen, gewähren und die zur spezifischen Dynamik dieses Institutionstyps gehören. Die Gewährung von Vollzugslockerungen steht immer im Zusammenhang mit einer kriminalprognostischen Einschätzung, also einer Zuschreibung an den Zustand „Gefährlichkeit“. Entsprechend sind Vollzugslockerungen nicht (nur) therapeutisches Mittel, Belohnungsmaßnahme, Experiment zur Erprobung, sondern immer auch Symbol der zugeschriebenen Gefahrenprognose. An diesem (Macht)mechanismus lässt sich exemplarisch die Verknüpfung der realen Klinikwelt mit den theoretischen Analysen Foucaults nachvollziehen, die Pfafferott immer wieder vornimmt: „Das Instrument der Lockerungsstufen steigert die Macht des Personals. Passend könnte man in diesem Zusammenhang mit Foucaults Worten sprechen -es erhöht die ‚wissende Souveränität des Wächters‘ (66) … Das größte Machtinstrument, dem die PatientInnen ausgesetzt sind, ist also die andauernde, einer Bewertung unterstellte Betrachtung. Ihr Handeln ist meist gut oder schlecht, ‚zwischen einem positiven und einem negativen Pol‘ aufgeteilt und mit einer Konsequenz verbunden“ (67). Die Örtlichkeiten, an denen diese Form der Kontrolle und Macht vollzogen werden, sind ebenfalls durch spezifische Strukturen bedingt, die Machtausübung gründet letztlich in den Strukturen des (abgeschlossenen) Raums. „Macht durch Raum“ (68) ist eines der Unterkapitel überschrieben in dem die forensische Klinik als „anderer Raum“, außerhalb der gesellschaftlichen Realität geschaffen und betrieben wird. Foucault hat für derartige Raumkonzeptionen den Terminus der „Heterotopie“ geschaffen, auf dessen Konzeption (eigene stoffliche Beschaffenheit, Raumgröße, Ort, Lage in der Umgebung, in der Gesellschaft, Mechanismen der Öffnung und Schließung des Raums etc.) die Autorin Bezug nimmt. Im Weiteren erfolgt die Darstellung der von der Autorin mittels eines 79-minütigen Dokumentarfilms (Pfafferott 2014) durchgeführten Feldforschung, die verschieden Stationen der film-künstlerischen Annäherung an die konkrete Einrichtung einer forensischen Frauenstation, die Darstellung der Patientinnenmerkmale, des Personals und die konkrete Ausgestaltung dieser Station, welche die Autorin neben dem filmischen Zugang bereits vorher für eine Fotoserie für das „Süddeutsche Zeitung Magazin“ verwendet hatte und das zur Illustrierung der raum-zeitlichen Analysen in diesem Buch erneut verwendet wurden. Als gestalteter, sichtbarer Raum, als architektonische Manifestation der Überwachung, Kontrolle und Sicherung gerät der Bau der hier untersuchten Klinik in das Blickfeld der Autorin. Sie nimmt dabei Bezug auf die Konstruktion von Gefängnissen ab dem 19. Jahrhundert welche durch eine sternförmige Bauweise mit zentraler Überwachungskuppel (Turm) gekennzeichnet sind und durch unterschiedliche zusätzliche Überwachungsmaßnahmen (Videoüberwachung, verglaste Stationszimmer, einsehbare Isolierzellen etc.) ergänzt werden. Pfafferott beschreibt diesen „Baustil“ ausführlich und illustriert die Ausführungen durch Fotomaterial typischer architektonischer Beispiele aus dem In- und Ausland. Diese Frühform des Panopticons erfährt in der modernen forensischen Psychiatrie eine Weiterentwicklung durch technische Apparate; der „technische Disziplinarblick“ als moderne Form der panoptischen Struktur. Pfafferott führt hier tief in Alltagssituationen einer forensischen Klinik ein, Standardsituationen (z. B. videogestützte Zugangskontrollen) werden detailliert beschrieben und die damit verbundenen Disziplinierungseffekte (Normverhalten, Anpassung an die Mensch-Maschine-Interaktion, Dauerüberwachung) ausführlich beschrieben. Gegenstand der mannigfaltigen Überwachungsarbeit ist die gefährliche, straffällig gewordene, psychisch kranke Frau. Deren Schicksal wird, qua Zuschreibung (in forensisch-psychiatrischen Gutachten) ausschließlich in deren Person als Persönlichkeitsmerkmal, psychiatrische Diagnose und spezifischer Delinquenz verortet. Pfafferott bezieht sich hier auf die entsprechenden Analysen Foucaults in dessen zentralem Werk „Überwachen und Strafen“ (Foucault 1994), der dort beschriebenen Zuschreibungspraxis der Delinquenz in einer Person, unabhängig von den äußeren Rahmenfaktoren, welche Grundlegend für die Bestrafungspraxis, Disziplinierung und Ausgrenzung sind.

Das filmische Panopticon. Der drei Kapitel umfassende Abschnitt thematisiert filmische Gestaltungsaspekte des Genre Dokumentarfilm, dessen Möglichkeiten und Grenzen, künstlerische Aspekte, Fragen der Interaktion und der Verantwortung bzgl. Szenenauswahl und -gestaltung, sowie ethische Fragestellungen. Die Ausführungen beziehen sich auf den von der Autorin verantworteten Dokumentarfilm „Andere Welt“ der am 26.11.2014 im SWR erstausgestrahlt wurde. Pfafferott setzt sich hier u. a. (selbst)kritisch mit der Rolle als Dokumentarin auseinander, die zwischen der Außenwelt (der Gesellschaft) und der Innenwelt (der „anderen Welt“ der geschlossenen Klinik) positioniert ist und an diesem Übergang die Funktion der „Türhüterin“ erfüllt, die einen exklusiven Einblick in eine ansonsten geschlossene und „geheime“ Welt erhält und diese Erfahrung und Erkenntnis für das Publikum draußen gestalten und übersetzen muss. Die Ausführungen beziehen sich auf die Macht der Medien, die politische Relevanz, die gesellschaftliche Verantwortung und die in diesem Zusammenhang auftretenden gestalterischen Fragen.

Gewalttaten. Im folgenden Abschnitt setzt sich Christa Pfafferott mit den Lebens- und Deliktgeschichten von drei Patientinnen auseinander. Die hier dargestellten realen Kasuistiken beziehen sich auf die im Film behandelten Personen, wobei die Schwerpunkte einerseits auf der Lebens- und Leidensgeschichte, andererseits auf den Tataspekten liegen. Film und Buch fokussieren damit nicht ausschließlich auf die Opfererfahrungen, auf den Leidens- und Krankheitsweg der portraitierten Frauen, sondern bezieht bewusst auch deren gewalttätiges Verhalten das in den Straftaten zum Ausdruck kam mit ein. Die Falldarstellungen erfolgen z. T. in protokollartigen Auszügen aus dem Filmmaterial, z. T. in transkribierten Interviewpassagen mit den Patientinnen. Für den Leser ergibt sich so ein detaillierter Einblick in die Lebens-, Kranken und Deliktgeschichte der untergebrachten Frauen, deren Selbstbeschreibung und der Einschätzung durch das Klinikpersonal.

Machtverhältnisse. Der Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregeln ist den Zielen Besserung und Sicherung verpflichtet. Aus diesem Doppelauftrag ergibt sich ein besonderes Machtgefüge, ein Machtgefälle, das die Einen (Personal) mit einem „Machtplus“, die Anderen (Patientinnen) mit einem „Machtminus“ belegt. Christa Pfafferott spürt in diesem Abschnitt dem speziellen Machtgefüge nach, analysiert das Erleben von Macht und Ohnmacht durch Gesprächs- und Interviewsequenzen, die in ihrer Tiefe bis hin zu sprachanalytischen Überlegungen führen. Besonders deutlich wird das Machtgefüge in der Ausübung unmittelbaren Zwangs, z. B. bei Isolier- oder Fixierungsmaßnahmen, welche die Autorin zunächst in ihrer Struktur beschreibt und dann durch Gesprächstranskripte aus dem Film illustriert. Macht und Ohnmacht erscheinen demnach vordergründig klar verteilt, besitzen darüber hinaus eine eigene Dynamik, welche diese „Ordnung“ immer wieder in Frage stellt, oder an ihre Grenzen führt.

Erkenntnis. Als „vorläufiges Fazit“ wird im folgenden Abschnitt der Themenkomplex der Gewalt- und Machtanalyse aufgegriffen und die Stellung der psychischen Erkrankung im Klinikkontext und dessen Darstellung im Dokumentarfilm hinterfragt. Der Anlass für eine Unterbringung im geschlossenen Maßregelvollzug, Gewalthandlungen als Ausdruck von Macht, ist im Rahmen der Feldforschung und des in diesem Zusammenhang produzierten Films kaum auszumachen und entsprechend schwer darstellbar. „Aufgrund der herausgestellten und erweiterten panoptischen Machtstrukturen wurde während der Dreharbeiten deutlich, dass bestimmte Gewaltdarstellungen nicht möglich waren, zumindest nicht im Rahmen des persönlichen künstlerischen Anspruchs. Dies demonstriert zwar die Übermacht des Systems, zeigt jedoch auch, wie groß die Herausforderung ist, sich als System-Fremdkörper in intrainstitutionelle Machtfunktionen einzugliedern (303)“. Ähnliches resümiert Christa Pfafferott für das Phänomen der psychischen Erkrankungen der Protagonistinnen, welche weder im Film noch im Buch näher erwähnt oder erläutert werden, als wirksames Hintergrundphänomen jedoch mitschwingen und die Alltagsstrukturen in der Klinik beherrschen. Schließlich wird im Auftrag des Maßregelvollzugs, Besserung und Sicherung, der Normierungsanspruch der Gesellschaft umgesetzt, die Forensische Psychiatrie erscheint hier, i. S. Foucaults, als „Normierungsmacht“. Durch die Ausschließung der „Abnormen“ an einem „anderen Ort“ wird die Deutungshoheit der Gesellschaft einer „Norm“ behauptet. Diese „Mechanismen destillieren sich in extremer Form in einem abgeschlossenen System wie dem der Klinik, in dem Individuen nach meist festgesetzten ‚Objektivierungs‘-Kategorien zu einem bestimmten ‚Norm‘-Vorstellungen entsprechendem Subjekt gebessert werden sollen“ (313). Normalisierung als zentrale Aufgabe ist, so die Kurzzusammenfassung der Analysen, eines der großen Machtinstrumente, wobei sich diese sowohl auf das Geschehen in der Klinik, als auch in der sie umgebenden Außenwelt (Gesellschaft) bezieht.

Weg aus dem Panopticon. Die Macht des Staates, die Macht des Systems, der Kontroll- und Disziplinierungsanspruch der Gesellschaft erfährt seine Verwirklichung in Ordnungsinstitutionen (Kaserne, Gefängnis, Schule, Klinik etc.). Das Wesen dieses Machtgefüges ist in Veränderung begriffen, die Bedeutung dieser Institutionen für die Aufrechterhaltung des Machtanspruchs ist im Wandel begriffen. Längst erfolgen Kontroll-und Disziplinierungsmaßnahmen außerhalb dieser Institutionen, sind Teil des öffentlichen Lebens, sind integraler Bestandteil „der Gesellschaft“. Christa Pfafferott belegt diese These (die mit Bezug auf G. Deleuze und M. Foucault formuliert wird) durch die umfangreiche Ambulantisierung im Sozial- und Gesundheitswesen und die Vermischung von Kontroll- und Disziplinierungsmaßnahmen mit lebensweltlichen Bezügen. Die Institutionen selbst hätten sich demnach überlebt, wären Auslaufmodelle, an deren Stelle Überwachungs- und Ordnungsmaßnahmen getreten wären, die direkt in der Lebenswelt der Individuen stattfänden.

Christa Pfafferott beschreibt Macht als „ständigen Prozess“ (340) der nicht immer klar auf einer Seite auszumachen ist. „Es gibt niemanden, der die Macht hat. Macht ereignet sich“ (339). Entsprechend ist die Machtverteilung, auch nicht in der totalen Institution einer Maßregelvollzugsklinik, eindeutig und starr verteilt. Nicht nur das Personal ist mächtig, auch die Patientinnen haben Macht, selbst die Produktion eines Dokumentarfilms zu dieser Thematik weist Machtaspekte auf. Als besonders wirksamer Machtfaktor wird die „Unbestimmte Zeit“ (341) benannt, also der Umstand, dass die fehlende eindeutige zeitliche Begrenzung der Unterbringung nach § 63 StGB in besonderem Maße Macht und Ohnmacht generiert, die auf vielfältige Weise in den Institutionen, in den vielfältigen Maßnahmen, Begegnungen, letztlich in der gesamten Kommunikation der Insassen sichtbar wird.

Zielgruppe des Buches

Von den genauen Analysen der Machtverhältnisse in der Forensischen Psychiatrie werden alle profitieren, die in diesen Institutionen arbeiten. Darüber hinaus Interessierte, die von „außen“ einen differenzierten Blick auf das Geschehen „drinnen“ werfen möchten.

Diskussion

Wie aktuell sind Foucaults Ansätze und Theorien über 40 Jahre nach Veröffentlichung? Wie treffend seine Beschreibungen von Macht, Ausgrenzung, seine Analysen zum Verhältnis von Wahnsinn und Gesellschaft, die Identifikation von Normierungsinstitutionen, welche die Ordnung konstituieren? Christa Pfafferott nähert sich diesen Fragen mit den Mitteln einer künstlerischen Forschung, die als Feldforschung fast alle Merkmale lebendiger Sozialforschung aufweist. Kann das funktionieren: Sozialforschung als Kunst, als künstlerisches Vorgehen? Die Absturzkanten sind scharf: eine rein ästhetische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der „Anderen Welt“ der Forensischen Klinik würde zu kurz greifen, die bloße Beschäftigung mit den ritualisierten Handlungen in den Kliniken wäre, losgelöst vom Machtdiskurs sicher noch interessant. Mehr aber auch nicht. Die analysierende Darstellung der architektonisch geschaffenen Welt der Absonderung würde einen, sicher wichtigen, Aspekt aufgreifen. Dieser bliebe allerdings losgelöst, von den Handlungen der dort lebenden und arbeitenden Individuen. Christa Pfafferott führt diese losen Enden mit den Mitteln des Dokumentarfilms zusammen, verbindet die Einzelaspekte miteinander und illustriert sie durch Interviewpassagen mit den Insassen, also dem Personal und den Patientinnen. Soweit der Dokumentarfilm, der diesem Buch zugrunde liegt. Im Buch ergänzt die Filmemacherin und Journalistin, die jetzt Autorin ist, ihre Beobachtungen mit dem machtanalytischen und -kritischen Werk Michel Foucaults, wodurch eine zusätzliche Tiefe der (filmischen) Analysen gelingt.

Nebenbei belegt Pfafferott die Aktualität des Foucaultschen Werks, dessen weiterhin bestehende Gültigkeit, indem die konkreten Zustände in der untersuchten Klinik dazu in Verbindung gebracht werden, verknüpft werden. Christa Pfafferott stellt dabei nicht bloß, sie lässt den AkteurInnen in Film und Buch ihre Würde, ihren Eigensinn, indem sie die wechselnden Positionen innerhalb des Machtgefüges Klinik aufzeigt und hinterfragt. Dadurch wird ein wichtiger Ausgangspunkt für weitergehende Überlegungen geschaffen, z. B. wenn die Machtstrukturen in der Institution Maßregelvollzugsklinik als Entsprechung der gesellschaftlichen Strukturen interpretiert werden, die durch eine stete Sicherheitspolitik, deren dynamische Anpassung und Ausgestaltung und durch die damit ermöglichte Reglementierung der Individuen im Sinn einer normierten Massengesellschaft gekennzeichnet wird.

Die im Buch thematisierten Reformen des Maßregelrechts (53), die eventuelle Einführung einer zeitlichen Befristung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und die damit verbundene Hoffnung auf eine qualitative Verbesserung mag der Rezensent indes nicht teilen. Das System Maßregelvollzug erfüllt nach wie vor eine zu wichtige Funktion im gesellschaftlichen Machtgefüge, als dass auf diese Form der Machtausübung verzichtet werden könnte.

Fazit

Eine überzeugende Analyse der Machtverhältnisse in einer Forensischen Klinik und zu den Machtverhältnissen in der Gesellschaft. Ein Einblick in eine „andere Welt“ die vielen Menschen außerhalb meist verborgen bleibt. Entsprechend ist dem Buch (und dem zugrunde liegenden Film) eine breite Öffentlichkeit zu wünschen.

Quellen

  • Michel Foucault (1994). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt
  • Christa Pfafferott (2014). Andere Welt. Erstausstrahlung 26.11.2014, SWR

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 180 Rezensionen von Gernot Hahn.

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ISSN 2190-9245