Ahmet Cavuldak: Gemeinwohl und Seelenheil
Rezensiert von Peter Schreiner, 04.08.2015

Ahmet Cavuldak: Gemeinwohl und Seelenheil. Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie. transcript (Bielefeld) 2015. 629 Seiten. ISBN 978-3-8376-2965-1. D: 49,99 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 64,40 sFr.
Thema
Das
Verhältnis von Religion und Politik ist ein brisantes Thema. Eine
Ursache mag darin liegen, dass Religion aus verschiedensten
politischen Perspektiven immer wieder als Ursache von gewaltsamen
politischen Konflikten diskutiert wird, auch wenn es andere Stimmen
gibt, die davon ausgehen, dass Terror und Gewalt mit den Kernaussagen
von Religionen nicht zu vereinbaren sind (z.B. Andreas
Hasenclever).
Hinzu kommt, dass der Umgang mit religiöser Pluralität in modernen
Gesellschaften anspruchsvoll ist. Es hat sich in unserem westlichen
Kulturkreis erwiesen, dass es für ein friedliches Miteinander
unverzichtbar ist, die Trennung von Staat und Kirche sowie die
Unterscheidung von Religion und Politik zu akzeptieren. Damit sind
Rahmenbedingungen genannt, die kontextuell ausgefüllt werden und die
immer wieder auf ihre Gültigkeit hin zu untersuchen sind. Vielerorts
hat sich ein komplexes religionspolitisches Arrangement entwickelt,
in dem „Gemeinwohl und Seelenheit“ unterschiedlich miteinander
kombiniert werden.
Die vorliegende umfangreiche Studie unterzieht
das Prinzip der Trennung von Religion und Politik einer kritischen
Überprüfung.
Autor
Der Verfasser, Dr. Ahmet Cavuldak (Dr. phil.), ist Politikwissenschaftler und Philosoph und derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Entstehungshintergrund
Die Publikation ist die überarbeitete Fassung der 2010 unter dem Titel „Das Verhältnis von liberaler Demokratie und Religionen in historischer und politiktheoretischer Perspektive: Bedeutung und Legitimität der Trennung von Religion und Politik“ von der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin angenommenen Dissertation.
Aufbau
Die Studie besteht aus vier Teilen.
- Nach einer Einleitung zu Thema und Fragestellung sowie einer Darstellung zum Gang der Untersuchung werden im ersten historischen Teil die Entstehungsgeschichte der religionspolitischen Ordnungen Frankreichs, der USA und Deutschlands entlang der wichtigsten Schwellenepochen und Aushandlungsprozesse rekonstruiert. In Auseinandersetzung mit den Macht- und Deutungskämpfen im religionspolitischen Feld werden die historischen, politischen und religiösen Voraussetzungen der Trennung von Staat und Kirche herausgearbeitet.
- Im zweiten ideengeschichtlichen Teil wird die Frage nach der Legitimität der Trennung von Religion und Politik erörtert. Dazu werden die Perspektiven von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Alexis de Tocqueville (1805-1859) und von Jürgen Habermas (*1929) vorgestellt und diskutiert. Sie bieten unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem rechten Verhältnis von Religion und Politik in der Demokratie und lassen sich mit den vorgestellten nationalen Kontexten in Beziehung setzen. Während es Rousseau und auch Tocqueville darum geht, das Christentum für die Aufklärung zu öffnen, geht es Habermas darum, den „Risiken einer entgleisenden Säkularisierung“ mit Augenmaß zu begegnen, um die demokratischen Errungenschaften der Moderne durch eine Korrektur ihrer einseitigen Folgen retten zu können.
- Die damit verbundene Auseinandersetzung mündet in eine systematische Diskussion der zur Rechtfertigung der Trennung von Religion und Politik genannten Gründe.
- Der letzte Teil beinhaltet eine zusammenfassende Perspektive. Es schließt sich ein ausführliches Literaturverzeichnis an.
Inhalt und Diskussion
Die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der religionspolitischen Ordnungen Frankreichs, der USA und Deutschlands entlang der wichtigsten Schwellenepochen und Aushandlungsprozesse macht deutlich, dass das Verhältnis von Religion und Politik keinesfalls essenziell betrachtet werden kann, sondern kontextuell bestimmt wird.
Frankreich steht dabei für eine strikte Trennung von Religion und Politik, die sich am Grundprinzip der „laïcité“ festmachen lässt. Zu den geschichtlichen Hintergründen: Die französische Republik musste sich von Anfang an gegen eine starke katholische Kirche behaupten und bewähren, was zu einer ideologischen Aufladung ihres Legitimationsdiskurses geführt hat. Die Französische Aufklärung hatte im Unterschied zur deutschen und englischen Aufklärungstradition eine stark antiklerikale und materialistisch-atheistische Stoßrichtung. Im 19. Jahrhundert kam es zum Konflikt zwischen Republikanhängern und katholisch-konservativen Royalisten (S. 75) Die gewaltsame Konfrontation zwischen der Revolution und der katholischen Kirche führte zu schroffen Gegensätzen und weitreichenden Laizisierungsgesetzen der Dritten Republik. So wurde das Schulprogramm laizisiert unter der Maßgabe, dass Glauben (croyances) und Erkenntnisse (connaissances) getrennt werden müssten; der Glaube sei eine Angelegenheit der Kirche und der Familie, die Moral müsse in der Schule gelehrt werden.
Das Trennungsgesetz von 1905 festigte die „laïcité“ und machte sie zu einem zentralen Verfassungsprinzip. Es entstand ein säkularer Humanismus mit einem quasi-religiösem Wahrheitsanspruch gegen den Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche. Die damit verbundene strikte Trennung von Staat und Kirche findet weder in den europäischen Staaten noch in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Analogie.
Bei der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika wurden Demokratie und Religion von Anfang an als allianzfähig und als unbedingt zusammengehörig eingeschätzt. Die Einwanderung nonkonformistischer Calvinisten und anderer christlicher Minderheiten wurde nicht als Flucht, sondern als Pilgerfahrt verstanden („Gods new Israel“); Religion war für die ersten neuenglischen Kolonien von konstitutiver Bedeutung. Bis heute kommt ihr eine große Bedeutung bei der Legitimation und Delegitimation von Politik zu. So nährten sich z.B. die Sklaverei bzw. der Rassismus als auch der Widerstand gegen sie bis hin zur Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre aus religiösen Motiven. Die politische Bedeutung der Religion wird darin gesehen, dass sie als mächtige Motivationsressource Bürgermoral und Gemeinsinn zu begründen vermag.
Auch in Deutschland wurden Politik und Religion traditionell nicht als Gegensätze, sondern als einander ergänzende und stützende Instanzen aufgefasst. Die religionspolitische Ordnung hat sich aus drei historischen Schichten gebildet (vgl. S. 196): der mittelalterlichen Grundschicht, der Verbindung von ‚Kirche und weltlicher Ordnung‘ die sich seit der Christianisierung der europäischen Völker gebildet hat, der Reformation und Gegenreformation mit den von ihnen ausgehenden Gestaltungen: vom Augsburger Religionsfrieden (cuius regio, eius religion) über den Westfälischen Frieden (1648 in Münster und Osnabrück) bis zum Ende des Alten Reiches 1806. Und schließlich als dritte Schicht die des 19. und 20. Jhr., in der sich die modernen politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen des Verhältnisses von Staat und Kirche formen: von 1848 und 1850 an bis zu den heute noch in Geltung stehenden, ins Grundgesetz übernommenen Kirchenartikeln der Weimarer Reichsverfassung von 1919, die zu einem gemäßigten Trennungsmodell („hinkende“ Trennung) führte mit einigen verbleibenden Elementen der Verbindungen von Staat und Religion. Der Autor rekonstruiert detailliert die beiden zuletzt genannten Epochen.
Das gemäßigte Trennungsmodell verbürgt allen Bewohnern des Landes die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit, inbegriffen die ungestörte Religionsausübung. Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten dürfen durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt werden. Explizites Verbot der Staatskirche. Kirchen erhielten den privilegierten Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.
In der Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Hüterin und Interpret der Verfassung im Klage- und Zweifelsfall lässt sich erkennen, dass die bislang erkennbare traditionellen Fixierung auf die beiden großen Kirchen in der religionspolitischen Praxis und im Selbstverständigungsdiskurs der Gesellschaft allmählich abbröckelt „zugunsten einer breiteren Perspektive auf Religionen und Weltanschauungen“ (vgl. S. 243).
Als prägend für das Verhältnis von Staat und Religion gilt die Zuschreibung von Wolfgang Böckenförde: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. (1967 in einem Vortrag geäußert).
Böckenförde unterscheidet vier mögliche Funktionen, die Kirchen in und gegenüber Staat und Gesellschaft erfüllen können: erstens die wertbegründende, zweitens die integrierend-legitimierende, drittens die kritische Funktion und viertens schließlich das so genannte Hüter- und Wächteramt (S. 257)
In einem zweiten Zugriff auf die Thematik werden in einem politiktheoretische Teil der Arbeit exemplarisch drei Denker vorgestellt: Jean Jacques Rousseau, Alexis de Tocqueville und Jürgen Habermas. Sie markieren drei historische Momente oder Epochen in der modernen westlichen Demokratiegeschichte mit unterschiedlichen Rechtfertigungsgründen und Argumenten, die im nächsten Kapitel auf ihre Plausibilität hin untersucht werden.
Rousseau denkt die Religion im Problem der konfessionellen Bürgerkriege, die Europa in der frühen Neuzeit verwüstet haben und er lässt sich dem pragmatischen Friedensargument zuordnen. Für ihn sind wesentlich ein Contrat social, in dem Volksouveränität und Gemeinwille zum Ausdruck kommen, und eine religion civile, eine Zivilreligion als bürgerliches Glaubensbekenntnis,
Tocquevilles Auseinandersetzung ist geprägt vom Konflikt der Französischen Revolution mit der Katholischen Kirche und den positiven Erfahrungen der amerikanischen Demokratie mit der religionsfreundlichen Trennung von Staat und Kirche. Er gilt als erster Theoretiker der modernen Massendemokratie und betont das Selbstinteresse der Religion.
Habermas möchte mit seiner Hinwendung zum Religionsthema das „säkularistisch verhärtete und exklusive Selbstverständnis der Demokratie“ selbstreflexiv überwinden, aber er hält aus guten Gründen in seiner demokratietheoretisch-epistemischen Argumentation an der Trennung von Religion und Staat fest.
Vier zentrale Argumente werden im systematischen vierten Teil vorgestellt und diskutiert: das „philosophisch-epistemische Argument“, in dem zwischen Religion und Vernunft eine Kluft konstatiert wird, auch wenn sich die säkulare Vernunft religiöse Sinngehalte durch Übersetzung aneignen kann, das „pragmatische Friedensargument“ als Antwort auf die Erfahrungen der Religionskriege und das „normativ-menschenrechtliche Argument“, das die Säkularität des demokratischen Staates als eine logische Folge der individuellen Gewissens- und Religionsfreiheit rechtfertigt und schließlich das „religiöse Argument“ mit einer religiösen bzw. theologischen Begründung der ‚säkularen‘ Demokratie. Dabei wird deutlich, dass es nicht unwesentlich darauf ankommt, welche Positionen und Tendenzen sich innerhalb der jeweiligen Religion durchsetzen. Der Autor markiert Positionen des Christentums, des Judentums und des Islam. Es bleibt festzuhalten, dass die übergroße Mehrheit demokratischer Staaten dem lateinchristlichen Erfahrungsraum entstammt (S. 505). Auch wenn Menschenrechte, Religionsfreiheit und staatliche Säkularität im Westen in langwierigen Auseinandersetzungen durchgesetzt werden mussten, gibt es doch eine Reihe von normativen Sinngehalten, Bewusstseinsdispositionen und institutionellen Elementen der christlichen Tradition, die als „Erbgut und Funktionsvoraussetzungen“ (S. 506) des demokratischen Verfassungsstaates verstanden werden. Genannt werden u.a. die Volkssouveränität und die in der Gottesebenbildlichkeit gründende Menschenwürde, Universalismus und Individualismus, das Gebot der christlichen Nächstenliebe als Quelle von Solidaritäts- und Gerechtigkeitsvorstellungen und die Rechenschaftspflicht politischer Herrschaft aus Verantwortung vor Gott und den Menschen.
Fazit
Die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der religionspolitischen Ordnung in Frankreich, Deutschland und den USA zeigt, dass sich hinter der metaphorischen Rede von der Trennung vielschichtige und bewegliche Realitäten verbergen. Das Religiöse und das Politische bilden vielerorts ein komplexes religionspolitisches Arrangement, das Säkularisierung und Konfessionalisierung in unterschiedlichen „Dosierungen“ miteinander kombiniert (S. 463). Beide Begriffe bezeichnen im Grunde keine fixierten Gegenstände und Bereiche der menschlichen Erfahrungswelt. Sie markieren Prozesse, in denen bestimmte Akteure im Spannungsfeld von Macht, Recht und Wahrheit durch Praktiken sozialer und symbolischer Grenzziehung die Eigenbereiche des Religiösen und des Säkularen bzw. Politischen überhaupt erst konstitutieren. Die Länderbeispiele sind profund in dieser Richtung. Die Grenzziehung zwischen (säkularer) Politik und Religion in den liberalen Demokratien ist bis heute ein heikles Unternehmen geblieben; sie wird vor allem anhand konkreter Konfliktmaterien im Medium des Rechts vorgenommen. Gleichwohl wäre die Aufgabe der Grenzziehung in einer weltanschaulich-religiös pluralistischen Gesellschaft auf Dauer kaum zu lösen, wenn das Religiöse und das Politische nicht einen Kernbereich der Zuständigkeit herausgebildet hätten.
Auch wenn der vorliegende Text an einigen Stellen redundant verfasst ist und es zu zahlreichen Wiederholungen kommt (bis hin zu langen Zitaten z.B. S. 423f. und S. 584), liegt mit dem Band eine wichtige Abhandlung vor, die einen differenzierten Blick auf Religion und Politik, Gemeinwohl und Seelenheil ermöglicht.
Rezension von
Peter Schreiner
Wiss. Mitarbeiter
Comenius-Institut. Evangelische Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft e.V., Münster. Arbeitsbereich: Bildung in der Schule.
Aufgaben: Aufgabenbereich Evangelische Bildungsverantwortung in Europa
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