Andreas Thimmel, Yasmine Chehata (Hrsg.): Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft
Rezensiert von Dr. Siegmund Pisarczyk, 10.08.2015
Andreas Thimmel, Yasmine Chehata (Hrsg.): Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft. Praxisforschung zur Interkulturellen Öffnung in kritisch-reflexiver Perspektive. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2015. 256 Seiten. ISBN 978-3-7344-0068-1. 29,80 EUR.
Thema
Jugendarbeit im 21. Jahrhundert muss ihre Prioritäten neu ausrichten. Nicht die Frage, wofür die Gesellschaft die Jugendarbeit braucht, sondern welche Art der Jugendarbeit, dem Zeitgeist entsprechend, notwendig bzw. wünschenswert ist. Es steht außer jeder Diskussion, dass Jugendarbeit ein Teil der Jugendpolitik ist. Heutige Jugendarbeit muss komplex agieren; sie soll besonders junge Menschen mit Migrationshintergrund dialogisch und integrativ für sich gewinnen. Migranten, die in Deutschland leben, müssen zum Wohle der Gesellschaft ihren eigenen Beitrag leisten (Geiger 2012).
Herausgeber und Herausgeberin
Der Herausgeber Andreas Thimmel lehrt Wissenschaft der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Fachhochschule Köln und ist Autor zahlreicher Bücher.
Die Herausgeberin Yasmine Chehata arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Köln mit dem Forschungsschwerpunkt Nonformale Bildung und ist Autorin zahlreicher Veröffentlichungen.
Den beiden Herausgebern und den Autoren gebührt Dank für diese sozial engagierte und wissenschaftlich fundierte Studie. Alle Autoren samt Beiträge ausführlich zu würdigen, würde den Rahmen dieser Rezension sprengen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch befasst sich mit folgenden Fragen:
- Was ist unter Jugendarbeit und Migration zu verstehen?
- Wie beeinflusst Migration die Sichtweise der Jugendarbeit?
- Was bedeutet der Begriff Interkulturelle Öffnung?
- Warum sind Diskurse zur Interkulturellen Öffnung wichtiger denn je?
- Welche Chancen bietet Migration?
- Wo liegen die besonderen Herausforderungen der Jugendarbeit und Praxisforschung in der Migrationsgesellschaft?
Die Studie besteht aus drei Teilen und einer ausführlichen Einleitung der Herausgeber. Das Verbindende zwischen Jugendarbeit und Interkultureller Öffnung ist „… Anteil und Einflussnahme der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Teilbereichen der non-formalen Bildung, nämlich Jugendverbandsarbeit, politische Jugendbildung, kulturelle Bildung,internationale Jugendarbeit und Freiwilligendienst zu erhöhen…“(S. 15).
Im ersten Teil werden Interkulturalität und Migration analysiert. Franz Hamburger reflektiert mit seinem Aufsatz „Das pädagogische Prinzip Interkulturalität“ die Entstehung und Gegenwart der Ausländerpädagogik und der Interkulturellen Pädagogik als wesentliche Erfahrung, um der gegenwärtigen Jugendarbeit pädagogisch optimal zu begegnen.
Markus Ottersbach weist in seinem denkwürdigen Beitrag über „Migration und soziale Ungleichheit: Die Diskriminierung Jugendlicher mit Migrationshintergrund“ darauf hin, dass Deutschland faktisch längst ein Einwanderungsland ist. Was bedeutet diese Entwicklung in Deutschland für die Jugendarbeit und für die Migranten selbst?
Der zweite Teil reflektiert bildungspolitische und sozialpädagogische Aspekte der Praxisforschung mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Öffnung der Jugendarbeit.
Yasmine Chehata und Andreas Thimmel greifen mit ihrem Aufsatz „Internationale Jugendarbeit in Zeiten interkultureller Öffnung. Grundstrukturen, Erkenntnisse und aktuelle Aufforderungen“ die Entwicklung seit den 50er Jahren bis in die Gegenwart auf und betonen zugleich die Relevanz der Mobilitätsaufforderungen für junge Menschen (S. 135 ff.).
Peter Nick liefert bereits mit dem Titel seines Aufsatzes „Interkulturelle Öffnung als Programmatik und Herausforderung in der Jugendarbeit“ wichtige Überlegungen. Zu Recht weist er darauf hin, dass Deutschland sowohl als Migrationsgesellschaft als auch als multikulturelle Gesellschaft definiert werden kann.
Schließlich werden im letzten Teil die Haupterkenntnisse zur Interkulturellen Öffnung sowohl der Jugendverbandsarbeit als auch der internationalen Jugendarbeit beschreiben. Andreas Thimmel stellt in seinem Aufsatz „Zwischen top-down und bottom-up. Zur Gestaltung von Öffnungsprozessen durch die Jugendlichen in ihren Ortsgruppen“ die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Interkulturelle Öffnung in der verbandlichen Jugendarbeit – Stand, Möglichkeiten und Hindernisse der Realisierung“ dar und plädiert dafür, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund sich mehr sozial und gesellschaftlich engagieren sollen. Des Weiteren muss Jugendverbandsarbeit dialogisch gegenüber Migranten vorgehen, um sie für sich selbst und für die Gesellschaft zu gewinnen.
Stefanie Bonus liefert mit ihrem Beitrag „Verborgene Mechanismen. Ein – und Ausschluss in Organisationen am Beispiel des Europäischen Freiwilligendienstes“ wichtige Impulse zum Thema, wie man junge Menschen mit Migrationshintergrund als Chance für Freiwilligendienste gewinnen kann.
Diskussion
Jugendarbeit und Migration ist ein hochaktuelles Thema. Thimmels / Chehatas Werk belebt konstruktiv die Fachdebatte. Zu empfehlen ist diese Studie Politikern, Pädagogen, Soziologen und Interessierten, die sich im Bereich der Jugendarbeit für Migranten in Deutschland ehrenamtlich einsetzten möchten. Die Klassiker zum Thema, Pierre Bourdieu, Stephan Bundschuh, Ulrich Deiner, Ingrid Gogolin, Jürgen Habermas und Thomas Rauschenbach, wurden in der Arbeit berücksichtigt.
Jugendarbeit hat in Deutschland eine lange Tradition; sie wird gegenwärtig definiert u.a. als „Bühne mit einem Repertoire an Inszenierungselementen, die den Jugendlichen ermöglicht zu erproben…“ (S.15). Jugendarbeit ermöglicht z. B. vielseitige Freizeitkontakte und nonverbale Bildung. Diese zeitgemäße Definition bedarf der Spezifizierung, z. B. je nach Zielgruppe, Jugendarbeit und Geschlecht sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande, in der Schule oder im Jugendhaus, mit gutbürgerlichen Jugendlichen oder mit solchen aus sozialen Brennpunkten. Diese Struktur der Jugendarbeit unterstreicht, dass alle Jugendlichen Teil der Jugendarbeit sein sollen. Diese hängt von der Entwicklung der Gesellschaft ab (Müller, Kentler, Mollenhauer, Giesecke 1964).
Jugendarbeit befasste sich in Deutschland bereits in der Nachkriegszeit mit der Integration der Jugendlichen (Böhnisch, Münchmeier 1989). Tatsächlich ist Jugendarbeit ein soziales und kulturpolitisches Barometer, das zeigt, wie die Gesellschaft mit der jungen Generation von heute umgeht. Jugend und Jugendarbeit von heute verdienen mehr politische Aufmerksamkeit, als man denkt. Chehata und Thimmel betonen bereits in der Einführung ihres Buches, dass Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft weiterentwickelt werden muss. Sie weisen darauf hin, dass Jugendarbeit ein Teil der Kinder- und Jugendhilfe ist und ihre gesetzliche Regelung in § 11 des KJHG/SBG VIII finden. Gegenwärtig ist in den Medien von immensen Problemen bei der Integration von Migranten zu lesen bzw. zu hören. Was ist zu tun? In Deutschland leben ca. 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, Tendenz steigend: So werden 2015 schätzungsweise über 400. 000 Flüchtlinge in Deutschland erwartet. Bereits diese Zahlen signalisieren, mit welchen Dimensionen und Aufgaben die Gesellschaft konfrontiert wird. Integration aller Migranten ist zwar das Ziel; in der Realität kann aber nicht alles reibungslos gelingen. Franz Hamburger plädiert für eine neue Willkommenskultur gegenüber den Migranten und den Einsatz einer reflexiven interkulturellen Pädagogik, um das Leben gemeinsam und vorurteilsfrei zu gestalten (S.27).
Eine Jugendarbeit-Konzeption basiert auf folgenden Punkten: Sie muss ihren Zielgruppen verantwortliches Handeln beibringen; dazu gehören Selbstständigkeit und kommunikative Konfliktlösung. In der Migrationsgesellschaft kann dies gelingen, wenn in der Jugendarbeit die Bedürfnisse der Migranten bekannt sind. Ein Reflexion-Modell einer interkulturellen Öffnung kann ein wichtiger Teil dieser Jugendarbeit-Konzeption werden. Es steht fest, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund mit diversen Benachteiligungen konfrontiert werden, z. B. Schicht, Geschlecht und Regionalzugehörigkeit (S. 78). Jugendarbeit muss gezielt gegen alle Diskriminierungen vorgehen und besonders Jugendliche mit Migrationshintergrund im Rahmen des Grundgesetzes unterstützen. Schließlich meint die Bezeichnung der Interkulturellen Öffnung die Beteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an den sozialen Aktivitäten der Jugendarbeit.
Interkulturelle Öffnung in der Jugendarbeit bedeutet, die Jugendlichen mit Migrationshintergrund in die Arbeit und Strukturen der Jugendverbände, Bundesjugendring, Jugendfeuerwehr, Pfadfinder und Umweltschutzverbände u.a. zu integrieren. Zu den wertvollen Alternativen lässt sich z. B. der Europäische Freiwilligendienst zählen (S. 235). Diese Plattform des freiwilligen Engagements bietet den Jugendlichen mit Migrationshintergrund viele Chancen, z. B. Persönlichkeitsentwicklung, Selbstfindung, interkulturelles Toleranz- Lernen, Weiterbildung und demokratisches bzw. solidarisches Handeln für Bedürftige.
Fazit
Thimmels und Chehatas gelungene wissenschaftliche Studie bereichert kritisch, reflexiv und strategisch-strukturell die Praxisforschung der Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft. Jugendarbeit und Jugendverbände müssen parallel zu ihrer inhaltlichen und langfristigen Arbeit auch neue Finanzierungsalternativen, u.a. Fundraising, Spenden für Projektfinanzierung oder Sponsoring (Pisarczyk 2007), berücksichtigen. Die Praxisforschung zur Interkulturellen Öffnung der Jugendarbeit bietet der Migrationsgesellschaft viele Chancen; die Herausforderungen werden künftig jedoch noch intensiver sein.
Rezension von
Dr. Siegmund Pisarczyk
Diplompädagoge & Nonprofit Manager
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Es gibt 18 Rezensionen von Siegmund Pisarczyk.
Zitiervorschlag
Siegmund Pisarczyk. Rezension vom 10.08.2015 zu:
Andreas Thimmel, Yasmine Chehata (Hrsg.): Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft. Praxisforschung zur Interkulturellen Öffnung in kritisch-reflexiver Perspektive. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2015.
ISBN 978-3-7344-0068-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18714.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.
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