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Tanja Hoff, Renate Zwicker-Pelzer (Hrsg.): Kompendium Beratung und Beratungs­wissenschaft

Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 15.01.2016

Cover Tanja Hoff, Renate Zwicker-Pelzer (Hrsg.): Kompendium Beratung und Beratungs­wissenschaft ISBN 978-3-8487-1422-3

Tanja Hoff, Renate Zwicker-Pelzer (Hrsg.): Kompendium Beratung und Beratungswissenschaft. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2015. 247 Seiten. ISBN 978-3-8487-1422-3. D: 29,90 EUR, A: 40,10 EUR, CH: 55,90 sFr.

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Herausgeberinnen

  • Tanja Hoffist Professorin für Psychosoziale Prävention, Intervention und Beratung an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Köln und akademische Studiengangsleiterin des „Master of Counseling – Ehe-, Familien- und Lebensberatung“, Studienort Köln.
  • Renate Zwicker-Pelzer ist Professorin für Erziehungswissenschaft und Beratung an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Köln. und akademische Studiengangsleiterin des Masterstudiengangs „Master of Counseling – Ehe-, Familien- und Lebensberatung“, Studienort Hildesheim/Hannover.

Autorin/Autoren

  • Jörg Bauerist Professor für Klinische Psychologie und Supervision an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen.
  • Isabel Gonsior, M.A., ist Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin mit den Schwerpunkten Schwangerschaftskonflikt und Schwangerschaftskonfliktberatung und arbeitet in Beratungsfeldern der Sozialen Arbeit.
  • Rolf Joxist Professor für Recht an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Köln und ehemaliger Richter am Amtsgericht.
  • Rainer Krockauerist Professor für Theologie und Ethik an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen.
  • Andreas Reinersist Professor für Soziologie und Sozialpolitik an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen.
  • Franz-Christian Schubertist emeritierter Professor der Hochschule Niederrhein, FB Sozialwesen und dort als Dozent im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung und Mediation“ tätig.
  • Armin G. Wildfeuer ist Professor für Philosophie (insbes. Anthropologie, Ethik und Sozialphilosophie) an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Köln.

Aufbau

Das Buch ist in sechs inhaltliche Kapitel gegliedert und enthält einen Serviceteil und Angaben zu den Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren. Die einzelnen Kapitel enthalten z.T. Beiträge verschiedener Autoren.

  1. Einführung.
  2. Grundlagen: Entwicklungen in Profession und Wissenschaft von Beratung (Hoff und Zwicker-Pelzer) und Historie von Beratung (Schubert).
  3. Erklärungsmuster zum Verständnis von Counseling – mit Beiträgen zur soziologischen Perspektive (Reiners), zu Philosophie und Ethik (Wildfeuer), zur theologischen Perspektive von Beratung (Krockauer), psychologische Beiträge zur Beratung (Hoff), Beiträge zu erziehungswissenschaftlichen Perspektiven von Beratung (Zwicker-Pelzer) und zu neurowissenschaftlichen Perspektiven (Bauer) sowie zu juristischen Grundlagen (Jox).
  4. Formate und Orte von Beratung (Zwicker-Pelzer): Formelle, halbformelle und informelle Beratung; akute vs. präventive Beratung; freiwillige vs. Pflichtberatung; aufsuchende vs. zugehende Beratung; Beratungsformate in Pflegekontexten.
  5. Konzepte in der Beratung (Hoff): Psychotherapeutische Konzepte in der Beratung; schulenübergreifende Rahmenkonzepte; Tiefenpsychologische, personzentrierte, verhaltensorientierte und (von Schubert) systemische Beratung.
  6. Exemplarische Arbeitsfelder der lebensweltorientierten Beratung (Zwicker-Pelzer): Beratung mit Familien, Frühe Hilfen: Wie aus dem Paar ein Eltern-Paar wird; Alleinerziehende und Stieffamilien; Interkulturalität; Schwangerschaftskonfliktberatung (von Gonsior und Zwicker-Pelzer); Beratung in hochstrittigen Kontexten.

Der Serviceteil enthält Links und Adressen von Fach- und Berufsverbänden sowie eine tabellarische Auflistung von Weiterbildungsstudiengängen mit Schwerpunkt lebensweltorientierte Beratung.

Inhalt

Das Buch beginnt (Kap. 2) mit einer Diskussion von Beratungsdefinitionen – mit dem Ziel der Fundierung einer eigenständigen Identität von Beratung, die sich auf drei Rollenverständnisse stützt: die präventive, die entwicklungs- und wachstumsfördernde und die kurative Rolle. Dieses Verständnis entspricht dem amerikanisch orientierten Counseling, in gewissem Gegensatz zum englischen therapienahen Counselling (mit „Doppel-l“).

Als wesentliche Ziele von Beratung nennen Hoff und Zwicker-Pelzer Verstehens-, Orientierungs- und Entscheidungshilfen, um über den aktuellen Anlass hinaus dem Ratsuchenden mehr persönliche Freiheit zu ermöglichen. Damit – so die Autorinnen (im Anschluss an die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung) – leistet Beratung auch einen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft. Die Person-Umweltbezüge von Beratung sind am besten abbildbar auf dem Hintergrund des ökosystemischen Ansatzes von Bronfenbrenner; dadurch wird ein Blick auf Umwelt- und Kontextbedingungen eröffnet.

Im Zusammenhang mit Professionalisierung stellt sich natürlich die Frage nach den fachlichen Standards. Dazu konstatieren Hoff und Zwicker-Pelzer, dass Beratung nur multidisziplinär und multiprofessionell verstehbar ist. Im Kern sei sie als reflexiv zu verstehen, d.h. es geht im wissenschaftlichen Diskurs um „die vertiefende, verstehende und zu untersuchende Dimension des Beratungsgeschehens selbst, der Rolle der Berater/der Beraterin, des Anliegens, der Schwierigkeit des Ratsuchenden sowie des Erlebens von Beratenden und Beratenen bezüglich gesellschaftlich-politischer Widersprüche“ (S. 20). Reflexive Beratung ist zu unterscheiden von transitiver Beratung, bei welcher es um fachliche Expertise, um Rat-geben im Sinne des Alltagsverständnisses geht. Die angesprochene Multidisziplinarität und -professionalität von Beratungswissenschaft – wenngleich z.Zt. nur eingeschränkt leistbar – wird übersichtlich in einer Tabelle dargelegt.

Für ein tiefes Verständnis von (reflexiver) Beratung und ihrem komplexen Selbstverständnis ist die Betrachtung ihrer historischen Wurzeln und ihrer Entwicklung unerläßlich. Franz-Christian Schubert leistet dies ausführlich anhand dreier Entwicklungslinien: die psychologisch-therapeutische, die empirisch orientierte psychologisch-pädagogische und die lebensweltliche und systemische Ausrichtung.

Der Blick auf das Interdisziplinaritätsverständnis von Counseling wird vertieft durch eine Aufstellung einbezogener Disziplinen (Kap. 3). Die Häufung spezifischer Krisen verweist darauf, dass oft nicht der Einzelne, sondern weitreichende soziale Wandlungen Ort und Ursache des Problems sind; deren gesellschaftlicher Hintergrund ist in die Theoriebildung aufzunehmen. Reiners skizziert einschlägige Gegenwartsanalysen (3.1) aus soziologischer Sicht und zeigt die Notwendigkeit auf, solche Reflexionspraxis als Bestandteil von Beratung zu institutionalisieren.

Wildfeuer (3.2) begreift Ethik als Typ methodisch gesicherter Beratung, „insofern sie als wissenschaftlich fundierte Reflexion sittlicher Abwägungsprozesse“ eine generelle Antwort auf die Frage gibt: „‚Was soll ich tun?‘…“. Nach einer ausführlichen historischen Behandlung des Begriffes „Rat“ in Philosophie und Ethik geht er auf Beratung als dialogischen Kommunikationsprozess in seiner Form von – einer Handlung vorausgehendem – Abwägungsprozess ein. Wenngleich die Rede von reflexiver Beratung eine gewisse Ebenbürtigkeit der Dialogpartner andeutet, sind diese jedoch ungleich im Hinblick auf ihre Kompetenzen und ihre Erfahrungshintergründe; diese Asymmetrie ist gerade der Anlass für Beratung. Autonomiefeindlich ist diese dann, wenn der Beratende in eine Attitüde des Paternalismus verfällt. Abschließend zitiert Wildfeuer eine – sehr optimistische – Aussage von Maurer (2000, S. 238), nach dem sich Beratung „wie kaum eine andere Beziehungsform … an der Realisation von Freiheit und an dem Leitbild gewalt- und herrschaftsfreier Beziehung“ orientiert [1].

Krockauer (3.3) thematisiert „die Rolle der Praktischen Theologie als profilierendes Element“ von Beratung (S. 79). Anschlussstellen sind zum einen das Menschenbild (Mensch als Einheit von Leib und Seele, Geschöpf und Ebenbild Gottes), zum anderen ein ganzheitliches Gesellschaftsbild mit einem präventiven und gesellschaftsverändernden Engagement. Eine in Beratung angewandte Theologie ist – so Krockauer – durch vier Entwicklungsprozesse gekennzeichnet: Kontextualisierung (inhaltliche Konzentration, z.B. auf Ehe-, Familien- und Lebensberatung), Elementarisierung (Erschließung der im Beratungskontext gesuchten theologischen Essentials), Diakonisierung (Selbstverständnis als beratende und begleitende Disziplin) und Plausibilisierung (von Glaubensauffassungen im profanen und sozial engagierten Wirken).

Tanja Hoff (3.4) nennt als grundlegenden Beiträge der Psychologie zur Beratung die psychologische Diagnostik und Persönlichkeitsmessung sowie klinisch-psychologische und psychotherapeutische Erklärungs-und Interventionsmodelle. Weitere relevante Wissensbestände entstammen z.B. der Gemeindepsychologie, psychologisch fundierter Prävention, der kognitiven Psychologie u.a.m. Wird Beratung verstanden als professionelle Unterstützungsleistung zur Lebensbewältigung, sind weiter Beiträge der Copingforschung relevant; Hoff beschreibt kurz das transaktionale Stresskonzept von Lazarus, das salutogenetische Modell von Antonovsky sowie die Theorie der Ressourcenerhaltung von Hobfoll.

Insofern es der Erziehungswissenschaft um Lernen und Umlernen geht, leistet sie – so Zwicker-Pelzer (3.5) – einen bedeutsamen Beitrag zur Profilentwicklung von Beratung. Nach einer historischen Betrachtung des Beratungsbegriffes in der Pädagogik weist die Autorin auf den Widerspruch in den Ansprüchen von (herkömmlicher) Pädagogik und (psychosozialer) Beratung hin. Wenn allerdings die Orientierung an den Lösungsräumen statt an den Defiziten, die gemeinsame Suchbewegung als prozessgeleitetes Geschehen im Vordergrund steht, dann gerät Pädagogik eher in den Zusammenhang mit Beratungswissenschaften. Zwicker-Pelzer spricht jedoch auch eine deutliche Grenzziehung und Warnung aus: „… die Vertraulichkeit, die Freiheit des lernenden Subjekts und andere ethische Marker sind schnell gefährdet, wenn Leistungsmessung und Leistungsbewertung erfolgt“ (S. 108).

Mit einer leichten Andeutung von Skepsis gegenüber der Hype um die Neurowissenschaft als „Leitwissenschaft“ behandelt Baur Perspektiven der Hirnforschung (3.6): Informationsverarbeitung, neuronale Netzwerke, Plastizität des Gehirns und neuronale Veränderungen durch Beziehungserfahrungen. Stichwortartig benennt der Autor dann „gehirngerechte“ Lern- und Veränderungsbedingungen in der Beratung: vertrauensstiftende Beziehungsorientierung, Motivationsorientierung, Ressourcenorientierung, Lösungs-, Bewältigungs-, Klärungsorientierung, Erlebnis-, Emotions- und Körperorientierung, Übungsorientierung, Partizipations- und Selbstwirksamkeitsorientierung sowie Gemeinschafts- und Kooperationsorientierung, die seit langem – auch schon vor der neurowissenschaftlichen Hype – Merkmale erfolgreicher Beratungsprozesse sind. Ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Argumentationslinien erschloss sich mir nicht.

Rechtliche Fragen, die im Zusammenhang mit psychosozialer Beratung entstehen können – etwa wenn diese auch Rechtsdienstleistungen (z.B. Sozialrecht) enthält, oder Frage der Haftung bei fehlerhafter Beratung – werden von Jox (3.7) erörtert.

Im 4. Kapitel geht es um Formaten und Orte von Beratung. Zwicker-Pelzer behandelt formelle, informelle und halbformelle Formen, mit besonderer Betonung der letzteren, akute vs. präventive Beratung, Freiwilligkeit oder Pflicht bei der Inanspruchnahme und aufsuchende vs. zugehende Beratung. Kurz werden Beratungsformate und -typen am Beispiel von Pflegekontexten besprochen.

Relativ ausführlich dargestellt werden Beratungskonzepte, die den therapeutischen Schulen der Tiefenpsychologie, der Gesprächspsychotherapie, der Verhaltenstherapie und der Systemischen Therapie entstammen, weiter auch schulenübergreifende Rahmenkonzepte (Hoff, Kap. 5). Dabei geht es ausdrücklich nicht um die Methoden und Techniken der Verfahren, sondern um – die Verfahren kennzeichnende und sinnstiftende – Grundannahmen.

Kapitel 6 (Zwicker-Pelzer und Gonsior) behandelt schließlich eine Auswahl von zugespitzten Lebenslagen, in denen Beratung aufgesucht oder angetragen wird, wobei die problem- und klientenspezifischen Verstehenshintergründe deutlich werden, die für das Gelingen von Beratung im jeweiligen Kontext entscheidend sind.

Diskussion und Fazit

Ein Buch über (psychosoziale) Beratung mit einer Diskussion des Beratungsbegriffes zu beginnen ist schon fast so etwas wie eine Pflichtübung. Das liegt natürlich an der unglücklichen Nähe des Begriffes zur Alltagsvorstellung von Rat geben und an seiner Wort-, wenn auch nicht Bedeutungsgleichheit mit den entsprechenden Bestandteilen in Fachbegriffen wie Rechtsberatung, Energieberatung, Steuerberatung usw. Dem soll hier durch die Einführung der Zusätze reflexiv und transitiv abgeholfen werden. Nun ist dem entsprechenden Fachpublikum das Eigenverständnis psychosozialer Beratung ohnedies vertraut; ob durch diese Adjektive einem besseren Verständnis interessierter Laien oder potentieller Klienten gedient wird, kann man bezweifeln. Aber ich gebe zu, dass ich auch nichts Besseres weiß.

Hilfreich für das Verständnis der Selbstdefiniton psychosozialer Beratung ist aber der Nachvollzug der historischen Wurzeln und der Entwicklungslinien.

Der Band behandelt weiter zumeist gut rezipierbare Beiträge zu verschiedenen Aspekten psychosozialer Beratung und ihrer Konzepte und Konstellationen, die – vielleicht mit Ausnahme der neurowissenschaftlichen Perspektive – ein differenziertes Bild einer insgesamt noch unübersichtlichen Profession ergeben.


[1] Maurer, A. (2000). Ethik in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung. In Merks, K.-W. (Hrsg). Verantwortung – Ende oder Wandlung einer Vorstellung? Orte und Funktionen der Ethik in unserer Gesellschaft. Münster. S. 221-239.

Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische Psychotherapie.
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ISSN 2190-9245