Arndt Büssing, Janusz Surzykiewicz et al. (Hrsg.): Dem Gutes tun, der leidet
Rezensiert von Prof.Dr. Charlotte Uzarewicz, 22.09.2015

Arndt Büssing, Janusz Surzykiewicz, Zygmunt Zimowski (Hrsg.): Dem Gutes tun, der leidet. Spiritualität in der Behandlung und Begleitung kranker Menschen. Springer (Berlin) 2014. 220 Seiten. ISBN 978-3-662-44278-4. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 50,00 sFr.
Entstehungshintergrund
In dem Band sind die Beiträge der internationalen Tagung zum Welttag der Kranken versammelt, der 2013 in Eichstätt stattgefunden hat.
Thema
Auf 240 Seiten wird das Thema der Religiosität und Spiritualität im Kontext von Krankheit und Leid aus theologischer, medizinischer, pflegerischer und wirtschaftlicher Perspektive beleuchtet. Das Leitmotiv ist hierbei das Bild des barmherzigen Samariters.
Aufbau
Neben 26 anderen Autoren haben auch die Herausgeber einzelne Aufsätze verfasst. Das Buch gliedert sich in sieben große Abschnitte, wobei der dritte der umfangreichste ist. An den Überschriften ist ein deduktiver Aufbau erkennbar:
- Der Leidende und seine Bedürfnisse
- Auf dem Lebensweg angesichts von Leid und Glaube
- Der Samariter und sein Auftrag
- Der Wirt in seiner institutionellen und ökonomischen Herausforderung
- Der Gasthof und die Seelsorgekultur
- Professionelle Gesprächskultur in der klinischen Sozialarbeit an Hand einer Fallstudie
- Die Familie und ihre Kranken
Insgesamt finden sich 27 Einzelbeiträge unterschiedlicher Länge mit jeweils ausführlichen Literaturlisten am Ende jedes Kapitels.
Inhalt
Grundsätzlich wird der Frage nach der Wahrnehmung von und dem Umgang mit Leid im Kontext der realen Gegebenheiten unserer gesundheitlichen Versorgungssysteme nachgegangen.
Der erste Abschnitt beinhaltet zwei Artikel. Zunächst thematisieren Büssing und Frick die spirituellen Bedürfnisse von Menschen mit chronischen Krankheiten. Zugrunde liegt eine empirische Studie, in der der Spiritual Needs-Fragebogen zur Anwendung kam und in dem 25 verschiedene psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse quantitativ erfasst worden sind. Es gibt unterschiedliche spirituelle Bedürfnisse, für die aber nicht mehr die Theologie alleine zuständig und verantwortlich ist. Vielmehr ist „Spiritualität (…) sowohl innerkirchlich und innertheologisch als auch gesamtgesellschaftlich ein Zeichen der Zeit“ (Frick). Daraus wird die Notwendigkeit der interdisziplinären Begleitung von kranken Menschen abgeleitet.
Sodann stellt Zwingmann die Frage nach dem Zusammengang zwischen Religiosität bzw. Spiritualität (RS) und Psychotherapie. Unter Bezug auf us-amerikanische und deutsche Studien wird begründet, dass dies kein Gegensatz mehr ist, wie in früheren Zeiten konstatiert. Vielmehr gibt es vielseitige Einflüsse von RS auf die psychische Gesundheit. An Hand eines heuristischen Rahmenmodells zeigt Zwingmann auf, wie sich RS auf das Gesundheitsverhalten und mögliche Bewältigungsstrategien auswirkt. Neuere empirische Studien zeigen, „dass Psychotherapeuten im Durchschnitt genau so religiös/spirituell wie die Allgemeinbevölkerung sind“. Es kristallisieren sich vier typische Bezüge zwischen RS und Psychotherapie heraus. So ist es nur logisch, dass im Fazit Psychotherapeuten aufgefordert werden, spirituelle Bedürfnisse bei Klienten zu erkennen (z.B. durch die spirituelle Anamnese), oder an spirituelle Ressourcen im Rahmen der Psychotherapie anzuknüpfen, nicht aber „RS zu verordnen“.
Der zweite Abschnitt besteht aus drei Aufsätzen. Schockenhoff analysiert das alte und neue Testament in Hinblick auf mögliche Deutungen von Krankheit und Heilung und fasst religiöse Deutungsmuster von Krankheit zusammen: Als „göttliche Strafe für zurückliegende Schuld“ und/oder als „undurchschaubares Schicksal, als Weg der Reifung und Läuterung oder als Ort intensiver Christusgemeinschaft“. Er kommt zu dem Schluss, dass die zentrale biblische Botschaft nicht „die Situation des Krankseins ist“, sondern „die Überwindung des Todes durch die Liebe und das neue Leben der Auferstehung.“ Schlussfolgernd kann es im Kranksein immer nur um eine „individuelle Sinnfindung im Leiden“ gehen, es kann „aber keine Aussagen über die immanente Sinnhaftigkeit der Krankheit“ gemacht werden.
Riedner beschreibt aus ihrer Beratungspraxis die psychoonkologische Dimension als einen dynamischen Prozess der Heilung, wobei Krankheit als Krise und als Chance erfahren werden kann. An einem Beispiel wird deutlich, wie auch in aussichtslosen Situationen Hoffnung als Entscheidungshilfe bei Therapieänderung wirkt.
Wertgen befasst sich mit „Sichtweisen zu Leid und Kranksein“. Er stellt grobe Linien des medizinischen, soziologischen und religiösen Denkens über Krankheit zusammen.
Im dritten Abschnitt mit insgesamt 15 Aufsätzen wird das zentrale Thema „Der Samariter und sein Auftrag“ abgehandelt. Montgomery setzt die Barmherzigkeit in Bezug zum ärztlichen Selbstverständnis in der modernen Gesellschaft. Die unterschiedlichen Arztbilder (vom „Engel“ über „Dr. Notnagel“ bis hin zu „Chefarztboni“) verdeutlichen das Dilemma in der heutigen Gesundheitsversorgung: „Die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens sowie die Merkantilisierung des Arztberufes müssen an der Tatsache scheitern, dass es keine Nachfrage für Krankheiten gibt, sondern eine unabdingbare Notwendigkeit, Kranke zu behandeln.“ Angesichts der großen und zu erwartenden gesellschaftlichen Veränderungen kann der Arzt als „Schlüsselfigur für den sozialen Frieden“ fungieren.
Meier thematisiert in seiner „Kleinen Polemik über die Verantwortung ärztlichen Tuns“ die Medizinkrise als Macht- und Vertrauenskrise. Seine interdisziplinären Ausführungen führen von der Stoa über die Verantwortungs- und die Gesinnungsethik bei Max Weber sowie den Utilitarismus und begründen ein Basisverständnis von Ethik als „Wirklichkeitsaufmerksamkeit“. Hieraus folgen zentrale und kritische Fragen für das Wesen der ärztlichen Ethik.
Niederschlag führt die Geschichte des Barmherzigen Samariters aus und stellt Verbindungen zu Situationen im Gesundheitswesen her. Der Fremde, der Nächste, die Feindesliebe und die Nächstenliebe zeigen, dass wir zwar alle Individuen sind, aber doch zusammen gehören. „Was also nottut, ist das miteinander und füreinander Einstehen, der Blick für die Not der anderen und der entschiedene Wille, diese Not zu wenden.“
Brandt stellt in seinem Aufsatz Überlegungen zur Bedarfsplanung des Samariters an. An vielen Beispielen zeigt er auf, dass sich der Bedarf an Hilfe verändert ebenso wie sich die Bedürfnisse der Hilfebedürftigen wandeln. Was bleibt – früher wie heute – ist der Anspruch: „unplanbar, aber möglichst professionell“, und das ist auch das Programm und die Anforderungen an karitative und diakonische Organisationen.
Kardinal Marx versteht die „Wahrnehmung von Leid“ als Lebens- und Wesensäußerung der Kirche. Zentrale Aufgabe der Seelsorge ist es daher, die Leidenden darin zu unterstützen, das eigene Gottesbild zu klären. Dabei darf die Wahrnehmung von Leid nicht bei den Symptomen stehen bleiben, sondern soll Ursachen und Verursachendes erkennen, um „Leidschaffendes zu verändern“. Voraussetzung hierfür ist die Veränderung der paternalistischen Haltung hin zu einer Begegnung auf Augenhöhe – eine große Herausforderung in den Strukturen unseres Gesundheitssystems. Der Schlüssel hierfür liegt gleichermaßen in Barmherzigkeit und Liebe einerseits sowie Wissenschaft und Praxis andererseits.
Rademacher stellt das Projekt „Kirche unterwegs“ kurz vor und erläutert praktische Seelsorge am Beispiel der Nachbarschaftshilfe und den besonderen Fähigkeiten der Ehrenamtlichen.
Jacobs setzt das Konzept der Salutogenese in Beziehung zu dem des Samariters und stellt Überlegungen an, wie das eigene Leben als „beruflicher Samariter“ gelingen kann.
Surzykiewicz erforscht die „religiös-spirituelle Begleitung von Demenzkranken aus Sicht der Pflegekräfte“. Die Ergebnisse seiner Studie decken sich weitgehend mit denen aus internationalen Studien. Pflegende haben eine grundsätzlich positive Grundhaltung hinsichtlich der „religiös-spirituellen Betreuung. So muss nicht etwa an der Motivationsbasis der Handelnden angesetzt werden, sondern vielmehr an der praktischen Vermittlung während ihrer Ausbildung sowie einer aktiven Förderung im Zuge der Unternehmenskultur.“
Heese setzt sich mit dem zentralen Thema des Samariters auseinander und fragt nach der Tauglichkeit als „Identifikationsfigur für Pflegeberufe“ zwischen Helfersyndrom und positiver Psychologie.
Bihr rundet mit einem sehr anschaulichen Praxisbericht den dritten Abschnitt ab, indem die Geschichte des barmherzigen Samariters lebendig wird: „Erbarmen – Barmherzigkeit heißt lateinisch MISERICORDIA = MISERI – COR – DARE = Dem Elend sein Herz geben.“
Der vierte Abschnitt widmet sich in vier Kapiteln dem Thema aus ökonomischen Perspektive. Zu Beginn gibt Mang einen historischen und systematischen Überblick über die Entwicklung des Gesundheitswesens und des Ärztestandes sowie der Krankenversicherung.
Fonk thematisiert „die kirchliche Sorge um den kranken Menschen im Spannungsfeld aktueller Herausforderungen“ und kommt zu dem Schluss, dass Ökonomie und christliche Ethik keine Gegensätze sein müssen. „Sie stehen vielmehr in einem dynamischen Korrelationsverhältnis. Betriebswirtschaftlich unverantwortliche Entscheidungen gefährden nicht nur den Bestand und die Zukunftschancen einer Einrichtung, sondern auch die Existenz der Mitarbeiter und ihrer Familien.“
Roser stellt Überlegungen zum „Wirt in seiner institutionellen und ökonomischen Herausforderung“ an und erläutert die „besondere Funktion“ der Spiritualität auf der Mikroebene (Individuum), der Mesoebene (Behandlungs- und Betreuungskontext) und der Makroebene (Prägung der Trägereinrichtungen).
Krakoviak gibt einen Einblick in die „Seelsorge in einer sich verändernden polnischen Gesellschaft“ vor dem Hintergrund der politischen Geschichte des Landes.
Im fünften Abschnitt wird der „Gasthof und die Seelsorgekultur“ in vier Aufsätzen behandelt. Baumann stellt Überlegungen an, wie es gelingen kann, dass kirchliche Einrichtungen „caritas“ systemisch verstehen lernen.
Bopp öffnet “Erfahrungsräume der göttlichen Barmherzigkeit“ zwischen Krankenseelsorge als biografie- und differenzsensible Pastoral und dem spezifisch kirchlichen Kompetenzprofil.
Günther stellt das Projekt Catholic Identity Matrix (CIM) vor, ein in den USA entwickelter Ansatz, mit dem das christliche Profil in Krankenhäusern geschärft werden soll. Es basiert auf sechs Prinzipien, die aus der heiligen Schrift abgeleitet sind und die das Alleinstellungsmerkmal christlicher Häuser hervorheben sollen. In Deutschland findet das Konzept als German-CIM seit 2012 in ausgewählten Einrichtungen Anwendung.
Friehe schließt den fünften Abschnitt mit der Vorstellung des Projektes „Gesundheitsnetzwerk Leben“ ab, das 2012 im Raum Ingolstadt von der Audi BKK ins Leben gerufen worden ist. Zusammen mit verschiedenen Partnern nimmt das Netzwerk die gesamte Region in den Blick und zielt auf die stetige Optimierung der Versorgungsstrukturen im Sinne einer umfassenden ganzheitlichen Prävention und Kuration.
Im sechsten Abschnitt geht es in einem einzelnen Aufsatz um die „Professionelle Gesprächskultur in der klinischen Sozialarbeit an Hand einer Fallstsudie“. An vier Fallbeispielen wird mittels der Methoden der reflektierten Kasuistik und der fallverstehenden Hilfepraxis aufgezeigt, wie Praxis mit Forschung verbunden werden kann.
Der siebte und letzte Abschnitt befasst sich in drei Aufsätzen mit dem Thema Familie. Prat zeigt die Zusammenhänge zwischen Familie und Pflegebedürftigkeit auf und konstatiert: „Je weniger Familie und je weniger Spiritualität, umso ineffizienter und teurer werden die Gesundheitsversorgung und die Langzeitpflege.“
Najda erläutert das Konzept der Familienassistenz am Beispiel Polen, ein seit 2011 neues Berufsbild zwischen Sozialarbeit, Erziehung und Gesundheitsmanagement.
Loichen schließt den Band ab mit „Gedanken zum Menschsein in der Begleitung von Eltern bei Fehl- und Totgeburten“. Zwischen Bürokratie und Trauer rückt das Konzept des Personseins in den Vordergrund als Voraussetzung dafür, Orte schaffen zu können, damit Eltern ihre Trauer leben und damit die Verlusterfahrung verarbeiten zu können.
Diskussion und Fazit
Insgesamt haben die Herausgeber einen interessanten Band vorgelegt mit vielen Artikeln, Themen und Denkanstößen von unterschiedlichem Niveau. Sehr anschauliche Erfahrungsberichte, neuere Forschungsprojekte, erkenntnistheoretische Diskussionen sowie theologisches Wissen und Denken sind hier versammelt und bieten für jeden etwas. Die Analysen des alten und neuen Testaments machen deutlich, woher die Wurzeln unseres heutigen Denkens und Verhaltens gegenüber solchen Phänomenen wie Krankheit und Leid kommen – auch in den Wissenschaften. Der interdisziplinäre Ansatz entspricht der Heterogenität der Zielgruppe. Aus diesem Buch können die multidisziplinären Teams auf jeden Fall etwas lernen. Allerdings ist es wohl auch dieser Interdisziplinarität geschuldet, dass letztlich doch nicht deutlich wird, was der Unterschied zwischen Religiosität und Spiritualität ist und wie spirituelle Dimensionen des Menschseins von psychosozialen unterschieden werden können.
Rezension von
Prof.Dr. Charlotte Uzarewicz
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