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Zülfukar Çetin, Savaş Taş (Hrsg.): Gespräche über Rassismus – Perspektiven und Widerstände

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 17.04.2015

Cover Zülfukar Çetin, Savaş Taş (Hrsg.): Gespräche über Rassismus – Perspektiven und Widerstände ISBN 978-3-9817227-1-0

Zülfukar Çetin, Savaş Taş (Hrsg.): Gespräche über Rassismus – Perspektiven und Widerstände. Verlag Yılmaz-Günay (Berlin) 2015. 224 Seiten. ISBN 978-3-9817227-1-0. 15,00 EUR.
Bestellmöglichkeit: http://verlag.Yılmaz-Günay.de.

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Eine Halitstraße für Kassel. Rassismuserfahrene Menschen teilen ihr Wissen – gegen Rassismus.

„Hat ‚unsere‘ Gesellschaft eine Zukunft ohne Anti-Rassismus? Meine Antwort dazu ist ganz klar: Nein. Wir PoC [People of Color, Anm. HV] sind hier, in Deutschland, in Europa, und wir werden immer mehr. Sicherlich gibt es Versuche, Deutschland und Europa durch ein brutales Grenzregime so weiß wie möglich zu halten, aber wie lange dies wirklich möglich sein wird, ist eine andere Sache. Wenn wir es nicht schaffen, uns als Gesellschaft ganz wesentlichen Fragen unseres Zusammenlebens zu stellen, dann werden wir scheitern. Wie dieses Scheitern aussehen mag, möchte ich mir nicht vorstellen.“ (S. 143, Mutlu Ergün-Hamaz)

Halitstraße statt Holländische Straße

Halit Yozgat ist eines der Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Bereits im Jahr 2006 hatte in Kassel eine Massendemonstration mit 4000 Teilnehmer_innen stattgefunden. Es war ein Trauerzug unter dem Motto „Kein 10. Opfer“. Der Trauerzug wurde von den Familien organisiert, deren Angehörige ermordet worden waren. „Zu einer Zeit, als alle Behörden die Täter und die Mordmotive noch im familiären Umkreis der Angehörigen suchten, hatten die Angehörigen der Opfer bereits ein anderes Wissen, eine andere Erklärung und Analyse für die Mordserie. Sie gingen auf die Straße, um gemeinsam darauf aufmerksam zu machen.“ (S. 196) Aber weder in den Institutionen noch in linken, antirassistischen Kreisen der Dominanzkultur wurde die Demonstration zur Kenntnis genommen. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 ging ein Aufschrei auch durch die Mehrheitsgesellschaft, ein kurzer Aufschrei.

Ayşe Güleç arbeitet die Geschichte in einem exzellenten Beitrag auf. Sie problematisiert die Selbstverständlichkeiten bei Menschen der Dominanzkultur, die offenbar so massiv sind, dass eine Massendemonstration mit 4000 (migrantischen) Teilnehmer_innen ohne Widerhall bleibt. Wer wird gesehen? Von wem? Güleç betrachtet die aktuellen gesellschaftlichen Verhandlungen um den NSU aus der Perspektive der „Bild- und Raumpolitik(en)“. Sie zeigt auf, was es bedeutet, dass ein zuvor namenloser Platz als Halitplatz benannt wird – in Gedenken an den vom NSU ermordeten Kasseler Halit Yozgat. Offenbar benötigte der Platz zuvor keinen Namen. Ismail Yozgat, der Vater von Halit, und die Initiative 6. April fordern hingegen die Umbenennung der Holländischen Straße, die den Stadtteil Nord-Holland durchzieht. Es handelt sich um einen durch Arbeitsmigration geprägten Arbeiter_innen-Stadtteil, einen wichtigen „Ort des Ankommens, des Sich-Niederlassens und der Transformation“ (S. 194). Die Halitstraße würde ihn wie „eine Narbe“ (S. 212) durchziehen – „als Gedenken an alle Opfer“ des NSU (ebd.).

Begriffe und Handeln

Wird aus dem Beitrag von Ayşe Güleç ganz plastisch deutlich, wie wichtig die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus ist, so ist der Band in seiner Gesamtheit bemerkenswert. Versammelt sind Beiträge von rassismuserfahrenen Wissenschaftler_innen, Aktivist_innen und Künstler_innen, die theoretisch und praktisch fundierte, klare Analysen vorlegen und Anregungen für weitere theoretische und aktivistische Auseinandersetzungen mit und Kämpfe gegen Rassismus geben. Für People of Color könnte der Band eine Art Positionsbestimmung sein, für Personen der weißen Mehrheitsgesellschaft sollte es ein Band sein, eigene Vorannahmen zu reflektieren und die im Band eröffneten Zugänge aufzunehmen, zu lesen und zuzuhören. Neben der Thematisierung des aktuellen Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland, der sich aus einer langen, gerade auch kolonial geprägten Vergangenheit seit dem 16. Jahrhundert speist, zielen die Beiträge auf eine Verständigung über Begrifflichkeiten.

So macht Maisha Eggers im Gespräch mit Savaş Taş deutlich, dass Begriffsbestimmung wichtig ist, etwa wenn es darum geht, gemeinsame Kämpfe zu fechten. Gleichzeitig zeigten Begriffe auch stets Unschärfen und neue Ausschlüsse. Wichtiger als Begriffe sei, etwa mit Blick auf die Schule, auf „die Geteiltheit der Erfahrung von rassistischer Normalität hinzuweisen. Es gilt hier, Jugendlichen of Color klarzumachen, dass sie nicht allein sind, wenn sie rassistische Erzählkonstruktionen und diskriminierende Begriffe vorfinden, in der Schullektüre, im Schulalltag. Ihnen klarzumachen, dass ihre Verletzung und Verletzbarkeit geteilt wird von anderen rassistisch markierten Jugendlichen. [Es geht auch] darum, mit der gleichen Gruppe im Sinne einer ‚Sexualpädagogik der Vielfalt‘ über eigene Handlungsentwürfe und Handlungsbarrieren nachzudenken […].“ (S. 13) Neben der handlungsorientierten Sicht auf Konzepte zu Rassismus leistet Eggers einen knappen und lesenswerten Überblick über Schwarze Geschichte.

Antimuslimischem Rassismus wendet sich Imam Attia zu, interviewt von Zülfukar Çetin. Attia arbeitet handlungsorientiert heraus, warum sich aktuell der Begriff des antimuslimischen Rassismus analytisch durchgesetzt hat. Anders als etwa bei einer Bezeichnung als Antiislamismus, liege der Fokus mit dem nun verwendeten Begriff auf den konkreten Erfahrungswelten von Menschen. Gleichzeitig wird der Konstruktionscharakter des Rassismus thematisierbar – Menschen werden von der Dominanzkultur als muslimisch zugeschrieben, markiert.

In allen Beiträgen wird deutlich, wie vielfältig die Lebenserfahrungen von rassismuserfahrenen Menschen sind. Plastisch fokussiert dies Isidora Randjelović, ebenfalls im Gespräch mit Çetin, das wie folgt betitelt ist: „Das Homogene sind die Leute, die über Rrom_nja reden“. Sie geht im Gespräch von begrifflichen Schwierigkeiten aus, die etwa mit der Bezeichnung Antiziganismus verbunden sind. Die diskriminierende Bezeichnung wird damit wiederholt. Besser geeignet seien die Begriffe Antiromanismus und Gadje-Rassismus. Damit wird thematisiert: „Rassismus gegen Rrom_nja und anders selbstidentifizierte Romani-Kollektive ist das Werk der Gadje, also Nichtroma […]“. (S. 33) Die von Elsa Fernandez stammende Begrifflichkeit Gadje-Rassismus sei aus mehreren Gründen zu begrüßen: „erstens in der Benennung der Rassist_innen; zweitens gefällt mir die Personifizierung des Ismus; drittens greift sie selbstbewusst eine Romani-Begrifflichkeit auf, nämlich ‚Gadje‘ und viertens ist der Begriff hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit fast genauso umfassend wie ‚Antiziganismus‘.“ (Ebd.) Begriffsdebatte ist für Randjelović einerseits wichtig. Es gehe darum, „mit Definitionen und Worten als Analyse- und strategisches Material umzugehen. Wir brauchen die Analyse, um nachzuvollziehen, was uns geschieht, auch um uns gut wehren zu können […].“ (S. 34) Aber die begriffliche Frage werde erst dann interessant, „wenn sie mit einem klaren, inhaltlichen Gewinn für die Menschen verbunden ist, die von der Gewalt betroffen sind.“ (S. 35) Im weiteren Verlauf des Buches spricht auch Elsa Fernandez, und beide Beiträge ergänzen sich hervorragend in der Beschreibung des Antiromanismus / Gadje-Rassismus, auch mit Blick auf geschichtliche Eckpunkte und insbesondere mit Fokus auf seine aktuelle Ausformung und Massivität in Europa.

Die Dominanzkultur greift weiter an

Bei Rassismus handelt es sich um ein institutionalisiertes System – und nicht ‚einfach‘ um die Böswilligkeit von Menschen. Aus den vorgenannten Beiträgen wird das deutlich – etwa die durch Gadje begangenen Verfolgungen gegen Rrom_nja, Sinti_zza, Calé und Manouches. Bis in die 1960er Jahre wurden Nazi-Verbrechen gegen sie selbst vom Bundesgerichtshof als legitim dargestellt, aktuell findet die Verfolgung in den europäischen Staaten ebenfalls institutionell statt. Auch Ayşe Güleç arbeitet die Verantwortung der Behörden und der gesamten Gesellschaft für die rassistischen Morde des NSU heraus. Dass Ismail Yozgat, der Vater von Halit, vor einer Rede von institutionellen Vertretern gar aufgefordert wird, seine Forderung nach der Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße nicht vorzutragen, ist ein Skandal.

Einige der Beiträge wenden sich in der Analyse einerseits dem institutionellen Charakter von Rassismus zu, andererseits weiteren Skandalen. Beidem zuzurechnen ist der aus rechtsextremen Kreisen und mittlerweile auch rechtskonservativ Verbreitung findende Terminus ‚Deutschenfeidlichkeit‘. Yasemin Shooman, die zuletzt das ebenfalls sehr empfehlenswerte Buch „‚… weil ihre Kultur so ist‘: Narrative des antimuslimischen Rassismus“ (Transcript Verlag 2014) vorgelegt hat, wendet sich den rechtsextremen und rechtskonservativen Strömungen zu und analysiert den Begriff ‚Deutschenfeindlichkeit‘ und das dahinter stehende Konzept scharf.

María do Mar Castro Varela betrachtet hingegen aktuelle gängige Ausschlüsse, die mit dem Begriff Willkommenskultur verbunden sind: „Bereits mit Beginn der Einwanderung in die Bundesrepublik, wie auch in die DDR, wurde offiziell behauptet, diese sei willkommen. Der Begriff der ‚Gastarbeiter_innen‘ deutet direkt darauf hin. Jedoch wissen wir, dass die ‚Gastarbeiter_innen‘ zwar als Arbeitskräfte willkommen waren, aber eben nicht als Bürger_innen. […] Heute sprechen die Verwaltungen – und leider auch die Sozialwissenschaften und Mitarbeiter_innen der Sozialen Dienste – über ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘, die es zu integrieren gelte. ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ müssen nun beweisen, dass sie die Werte und Normen Deutschlands – was immer das sein mag – angenommen haben. Gleichzeitig interessieren sich Politik und Wirtschaft vor allem für die Anwerbung hochqualifizierter Migrant_innen. In den Medien heißen diese übrigens auch die ‚neuen Gastarbeiter_innen‘. Diese sollen willkommen geheißen werden.“ (S. 88)

Auch – rassistischen – Leerstellen widmet sich Nivedita Prasad. Ist beim Band auffallend, dass die allermeisten Gespräche und Beiträge mit bzw. von Frauen of Color sind und die Gespräche / Beiträge fast durchweg queere und feministische Punkte in Debatte und Streiten um Rassismus einbinden, so fokussiert Prasad direkt auf die weiße Frauenbewegung, die sie im Gespräch facettenreich unter die Lupe nimmt. Sie schreibt: „Weißer Feminismus ist in der BRD oft hegemonial; wenn in der BRD Feministinnen sichtbar werden, dann sind es entweder weiße Frauen oder aber Migrantinnen, die hegemonial-feministische Diskurse unterstützen. […] Weißer Feminismus in der BRD zeichnet sich für mich historisch dadurch aus, dass er zum Beispiel die Täterschaft und/oder Mittäter_innenschaft von Frauen im deutschen Kolonialismus und/oder dem Holocaust leugnet oder zumindest nicht aktiv thematisiert. In aktuellen Diskursen zeichnet er sich für mich dadurch aus, dass er ganze Communities – insbesondere Communities, die als muslimisch konstruiert werden – als besonders frauenfeindlich, gewalttätig et cetera darstellt. Dies wiederum nehmen Konservative – die sich sonst nicht für die Rechte von Frauen interessieren – zum Anlass, um zum Beispiel Gesetze zu verabschieden, die Migrant_innen-Communities treffen. Das heißt, hegemoniale Feministinnen sorgen dafür, dass Konservative eine vermeintlich feministische Legitimation für ihr Handeln finden.“ (S. 108)

Abschluss und Fazit

Einen auch nur einigermaßen umfassenden Einblick in den vorliegenden Band zu geben ist auf Grund der durchweg qualitativ hochwertigen und gelungenen Beiträge schwierig. „Gespräche über Rassismus: Perspektiven & Widerstände“ leisten eine aktuell notwendige Positionsbestimmung für Kämpfe gegen den in Europa und gerade auch in Deutschland erstarkenden Rassismus. Wichtig sind hierfür die vorgestellten analysierenden Gespräche und Beiträge, die jeweils Verbindungen zu konkretem Handeln spannen. Die auf Empowerment zielenden Gespräche mit Mutlu Ergün-Hamaz („Empowerment bedeutet: Lebensmöglichkeit entdecken und verwirklichen – für alle“) und Women in Exile – Refugee Women („Der Kampf muss weitergehen – wir werden nicht aufgeben“) vertiefen diese Handlungsperspektive. Dass von den Gesprächen mit Noa Ha, Koray Yılmaz-Günay, Vassilis S. Tsianos, Anna Esther-Younes, Marianna Salzmann und Deniz Utlu sowie von dem Beitrag von Halil Can in der knappen Besprechung noch keine Rede war, deutet an, dass die „Gespräche über Rassismus: Perspektiven & Widerstände“ in großem Maß ertragreich sind. Die Lektüre ist uneingeschränkt zu empfehlen.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 61 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 17.04.2015 zu: Zülfukar Çetin, Savaş Taş (Hrsg.): Gespräche über Rassismus – Perspektiven und Widerstände. Verlag Yılmaz-Günay (Berlin) 2015. ISBN 978-3-9817227-1-0. Bestellmöglichkeit: http://verlag.Yılmaz-Günay.de. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18782.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.


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