Elisabeth Wagner: Grenzbewusster Sadomasochismus
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 02.11.2015
Elisabeth Wagner: Grenzbewusster Sadomasochismus. SM-Sexualität zwischen Normbruch und Normbestätigung. transcript (Bielefeld) 2014. 351 Seiten. ISBN 978-3-8376-2870-8. 32,99 EUR.
Thema
Nur sporadisch erscheinen im deutschsprachigen Raum wissenschaftliche Arbeiten zum Themenfeld BDSM (Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism). Zuletzt waren dies „SM-Sexualität: Selbstorganisation einer sexuellen Subkultur“ (Elb 2006) und „Lust-voller Schmerz: Sadomasochistische Perspektiven“ (Hill/Briken/Berner 2008). Weit verbreiteter sind populäre erotische Schriften oder der bei rororo erschienene Ratgeber „Die Wahl der Qual: Handbuch für Sadomasochisten und solche, die es werden wollen“ (Passig/Strübel 2009). (Sexual-)Wissenschaft reagiert bislang mehr auf eine zunehmende gesellschaftliche Thematisierung von BDSM, wie sie sich etwa beim Hype um das Buch und den Film „Fifty Shades of Grey“ regte, anstatt eine adäquate eigenständige Analyse und größere Befragungen anzustellen. Stattdessen wird BDSM sexualwissenschaftlich gern einfach der Aufzählung so genannter „Neosexualitäten“ hinzugefügt. Dass tiefer zu blicken ist, macht Elisabeth Wagner im vorliegenden Band „Grenzbewusster Sadomasochismus: SM-Sexualität zwischen Normbruch und Normbestätigung“ deutlich.
Kern der Arbeit sind 24 Interviews mit praktizierenden BDSMler_innen. Eingebettet sind sie in Ausführungen zum aktuellen gesellschaftlichen Diskurs um BDSM und die historische Einordnung in die sich seit dem 19. Jahrhundert herausbildende Sexualwissenschaft.
Sexualwissenschaft und Gesellschaft und BDSM
In der aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden Fragen des Ein- und Ausschlusses von zuvor als ‚deviant‘ betrachteten Sexualitäten verhandelt. Ein gebräuchlicher Begriff ist ‚Neosexualitäten‘, um den neueren gesellschaftlichen Umgang mit ihnen zu bezeichnen. Der zuvor restriktive gesellschaftliche Umgang in Bezug auf einige Formen der Sexualität werde zunehmend aufgehoben und stattdessen die sexuelle Selbstbestimmung der Menschen anerkannt und die konkrete Ausgestaltung der Handlungen ihrer Interaktions- und Verhandlungsmoral überantwortet. Entsprechend der Analysen Michel Foucaults werden Formen der Disziplinierung damit von repressiven Momenten entlastet und in die Individuen selbst verlagert. (S.21ff)
In Bezug auf BDSM zeigen sich weitreichendere oder zumindest andere Anforderungen, als sie mit der Liberalisierung etwa in Bezug auf Homosexualität verbunden sind. Bei BDSM geht es auch um Fragen von Gewalt – und wann und in welcher Form eine sonst in der Gesellschaft als Gewalt eingeordnete Handlung legitim sein und selbstbestimmt gelebt werden kann. Ähnliches gilt für Subordinanz, gelten doch aktuell gesellschaftlich gemeinhin Autonomie (und Selbstbestimmung) als erstrebenswert. Ausgestaltungen von BDSM-Beziehungen bzw. -Sessions stehen entsprechend unter besonderer gesellschaftlicher Beobachtung und Legitimationsanforderungen. Das ist einmal mehr der Fall, da parallel zu den Liberalisierungen sexualisierter Handlungen in einem parallel verlaufenden Strang Fragen zu sexualisierter Gewalt in größerem Maße gesellschaftlich diskutiert werden.
Wird eine sexuelle Praktik ins Licht gesellschaftlicher Aushandlung gebracht, bedeutet das einerseits eine größere Legitimationspflicht gegenüber der wacheren Gesellschaft, andererseits wird durch den sich herausbildenden und intensiveren gesellschaftlichen Diskurs stärker das sexuelle Tun der konkret handelnden Menschen bestimmt und festgezurrt. (S.332) ‚Sichtbarkeit‘ hat entsprechend Wirkungen in verschiedene Richtungen.
In etwas anderer Intention lässt sich dieses Festzurren geschichtlich und aktuell zeigen – zentral ist hierbei die Sexualwissenschaft. So zeigten frühere Studien aus dem Jahr 1929 und die Alfred Kinseys seit den 1940er Jahren, dass ein größerer Anteil der Bevölkerung (deutlich über 20%) bereits einmal Lust beim Schmerzertragen oder Schmerzzufügen empfunden habe. (S.67) Die nachfolgenden Studien – und auch die aktuellen – zielen hingegen nicht mehr auf das lustvolle Empfinden der Bevölkerung in Bezug auf Schmerz, dominierende, subordinierende, fixierende und kontrollierende Praktiken, vielmehr zielen sie auf eine klar umrissene identitäre Gruppe von Menschen, die sich als BDSM-praktizierend einordnen (vgl. auch S.67f). In dieser Gruppe bestehen abgestimmte Umgangsweisen zu „Freiwilligkeit, Eigenverantwortung und Selbstbezeichnungen“ (S.99), Safe Sane und Consensual ist faktisch eine Selbstverständlichkeit.
Durch die Auslagerung in eine klare Identität und Subgruppe gelingt es dabei das Verhalten der Mehrheit von gewaltvollen, dominierenden, subordinierenden, fixierenden und kontrollierenden Praktiken frei zu machen. Und trotz aller liberalisierender Anerkennung gegenüber den zuvor als deviant betrachteten Handlungen/Gruppen wird die (vermeintliche) ‚Andersartigkeit‘ und ‚Abweichung‘ dieser Handlungen/Gruppen durch die Abspaltung von der Mehrheit bestätigt. Liberalisierung bei klarer identitärer Kategorisierung von Gruppen ist damit ein sehr zwiespältiger Prozess, der einerseits die Norm (der Mehrheit) bestätigt, andererseits die ‚devianten Menschen‘ klar zusammenfasst und in einer politisch später nicht so liberalen Situation leicht angreifbar macht. (vgl. S.332)
Die Interviews
Der theoretische Rahmen bindet die Interviews zusammen, die den Hauptteil des Buches ausmachen – und jeweils nach inhaltlichen Gesichtspunkten gebündelt vorgestellt werden. Dabei geht es um die in der Szene ausgehandelten Selbstverständnisse (S.99-128), um die Bedeutung verschiedener Normen für die verschiedenen befragten Personen (S.129-189) sowie um auftretende Normenkonflikte (S.191-225) und die Strategien punktuelle Normüberschreitungen zu legitimieren (S.227-316).
Die Autorin arbeitet in dem gründlichen und gut strukturierten Durchgang durch die Interviews etwa die Strategien heraus, die Befragte genutzt haben, wenn auf ihrer Erwerbsarbeit ihre BDSM-Aktivitäten bekannt und problematisiert wurden. Sie zeigt auch, wie etwa von einigen der Protagonist_innen ihre sexuellen BDSM-Erfahrungen als produktiv für das Führen von Untergebenen in ihrer Erwerbsarbeit aufgezeigt werden. Ebenso wendet sich Wagner Fragen der Stabilisierung der jeweiligen Geschlechtsidentität vor dem Hintergrund von ausgelebten BDSM-Praktiken zu, die nicht den gesellschaftlichen Anforderungen an die jeweilige Geschlechterrolle (weiblich, männlich) entsprechen.
Am Ende des Bandes steht eine abschließende Bewertung, in der Anschlussfragen eröffnet werden, wie die zur Bestätigung der Abweichung durch klares Identifizieren von Verhaltensweisen und das Auslagern auf Subgruppen (vgl. oben).
Fazit
Wagner eröffnet einen fundierten Blick auf aktuelle Debatten um BDSM. Die Theorie ist fundiert ausgearbeitet und führt auf die Interviews hin. Gerade mit Blick auf die widersprüchliche Wirkung von Liberalisierung und Identitätsbildung liefert Wagner einige bedenkenswerte Anregungen. Es ist zu hoffen, dass Wagners Studie der Auftakt zu weiteren Arbeiten ist – einerseits mit Blick auf ‚die Szene‘, andererseits mit Fokus auf Schmerz und Lust in der gesamten Bevölkerung. Zugleich wären Forschungen wünschenswert, die sexuelle Fantasien und Praktiken intersektional einordnen und ihre Inhalte und historischen Entstehungskontexte entsprechend durchleuchten.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 02.11.2015 zu:
Elisabeth Wagner: Grenzbewusster Sadomasochismus. SM-Sexualität zwischen Normbruch und Normbestätigung. transcript
(Bielefeld) 2014.
ISBN 978-3-8376-2870-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18785.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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