Fritz Bremer, Hartwig Hansen (Hrsg.): Angehörige sind Erfahrene
Rezensiert von Prof. Dr. phil. habil. Johannes Jungbauer, 10.08.2015

Fritz Bremer, Hartwig Hansen (Hrsg.): Angehörige sind Erfahrene. Ein Ermutigungsbuch. Paranus Verlag (Neumünster) 2015. 184 Seiten. ISBN 978-3-940636-32-4. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,50 sFr.
Thema
Im Mittelpunkt des vorliegenden Buchs stehen die Angehörigen psychisch kranker Menschen, die ihrerseits vielfältige Belastungen erleben: Ängste, Sorgen, Hilflosigkeit, Schuldgefühle, Scham, Verzweiflung und (Selbst-)Überforderung. Aus wissenschaftlichen Studien ist bekannt, dass diese Belastungen nicht spurlos an den Angehörigen vorbeigehen – das Risiko für gesundheitliche Beeinträchtigungen ist bei ihnen deutlich erhöht, vor allem für psychische und psychosomatische Beschwerden und Störungen. Umso wichtiger sind Möglichkeiten der Entlastung, der Unterstützung und der Hilfe zur Selbsthilfe. In diesem Sinne ist das vorliegende Buch als „Ermutigungsbuch“ für Angehörige konzipiert: „Was hilft, ist, sich der eigenen, besonderen Erfahrungen bewusst zu werden und den Austausch mit anderen zu suchen. Dann kann es auch gelingen, sich von Schuldgefühlen und von dem Empfinden zu lösen, ständig zum Tragen schwerer Verantwortung verpflichtet zu sein.“ (Umschlagtext).
Herausgeber
Fritz Bremer ist Diplompädagoge und arbeitet seit Mitte der 1970er Jahre in sozialpädagogischen und sozialpsychiatrischen Einrichtungen. Er ist Mitbegründer des Paranus-Verlags und pädagogischer Leiter in der Brücke Neumünster gGmbH.
Hartwig Hansen ist Diplompsychologe und arbeitet als Publizist, Fachlektor, Paar- und Familientherapeut und Supervisor.
Entstehungshintergrund
Die Herausgeber beschäftigen sich bereits seit Jahren mit der Frage, wie die Erfahrungen von Angehörigen psychisch kranker Menschen in angemessener Form dokumentiert und der Öffentlichkeit sowie insbesondere anderen Angehörigen zugänglich gemacht werden können. Der vorliegende Band sollte Raum schaffen für das „Erfahrungswissen“ von Müttern und Vätern sowie Partnerinnen und Partnern von psychisch kranken Menschen. In einem „Schreibaufruf“ luden Herausgeber Angehörige dazu ein, sich als Autorinnen und Autoren an einem Buchprojekt zu beteiligen. Dort hieß es u.a.: „Es geht uns in diesem Buchprojekt nicht um die Beschreibung der Not und des Leidens der psychiatrieerfahrenen Menschen aus Sicht der Angehörigen. Es geht uns um die Angehörigen-Erfahrung selbst“ (S. 11). Die Resonanz auf diesen Schreibaufruf war offenbar sehr groß und vielfältig, doch nicht alle Angehörigen waren offenbar spontan begeistert davon, ihre Erfahrungen niederzuschreiben. Am Ende dieses Prozesses standen 16 Texte, die etwa zur Hälfte unter Pseudonym und zum größten Teil von Müttern verfasst waren (drei Väter und eine Ehepartnerin beteiligten sich ebenfalls an dem Buchprojekt).
Aufbau
Das Buch umfasst 182 Seiten mit den von den Angehörigen verfassten Beiträgen. 15 der 16 Beiträge stammen von Eltern erwachsener Kinder, die von unterschiedlichen psychischen Störungen betroffen sind (Schizophrenien, bipolare Störungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen). Ein Beitrag wurde von der Ehepartnerin eines an einer Depression erkrankten Mannes verfasst. In einem Vorwort von Fritz Bremer wird das Anliegen und die Entstehungsgeschichte des Buchs erläutert; Hartwig Hansen steuert ein zusammenfassendes Nachwort bei („Das Verbindende zum Schluss“).
Ausgewählte Inhalte
Die 16 Kapitel sind sehr persönliche Erfahrungsberichte und umfassen jeweils ca. 10 Seiten. Im Inhaltsverzeichnis sind die einzelnen Buchkapitel mit ihrer Überschrift und den ersten einleitenden Sätzen aufgeführt. Exemplarisch für das Spektrum der Beiträge seien einige davon in dieser Weise wiedergegeben:
Achterbahnfahrt: Kein Ausstieg auf der Strecke (Elisabeth Richter). Es war wohl nach meinem ersten Besuch des Psychoseseminars, als mich eine Frau fragte, wie viele Psychosen mein Sohn schon gehabt habe. Auf meine Antwort „Eine“ guckte sie mich etwas geringschätzig an. Da kannst du gar nicht mitreden, hieß der Blick…
Die Last, die wir tragen (Michaela Reeger). „Heute habe ich sie gesehen, Mum … in der Straßenbahn habe ich sie erkannt. Und sie sind überall, diese Seelenfänger, wir müssen jetzt ganz genau aufpassen!“ Mit diesen Worten meiner 16-jährigen Tochter begann eine für mich und meine Familie leidvolle Entwicklung…
Mein langer Weg der Neuorientierung (Angelika Bardelle). Vor zehn Jahren erkrankte meine Tochter – es war ein schleichender Prozess. Ich erlebte ihre Krankheit traumatisch – als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen würde…
Mitgefühl ist in Ordnung, Mitleid brauche ich nicht (Barbara Mechelke). Inzwischen bin ich Rentnerin. Mein Leben verläuft in ruhigen Bahnen. Das war nicht immer so. Ereignisteiche Jahre liegen hinter mir. Ich habe meinen Weg gefunden, mich kann so schnell nichts mehr erschüttern…
So lange durchhalten, wie es irgendwie geht? (Damir Buljan). Vor die Aufgabe gestellt, unser Leben mit dieser rätselhaften Krankheit „Psychose“ unseres Sohnes angemessen zu beschreiben, stellt sich mir zuerst die Frage: Wie anfangen? …
Von der aufgeregten zur gelassenen Mutter (Janine Berg-Peer). Die Diagnose traf mich wie ein Schock. Durch meinen Kopf wirbelten die schrecklichen Bilder über Schizophrenie, die uns Medien und Literatur anbieten…
Diskussion
Die in dem vorliegenden Buch versammelten Erfahrungsberichte verdeutlichen eindrucksvoll und zum Teil bewegend die großen Belastungen und das Leid der Angehörigen, aber auch ihre Liebe, ihre Kraft, ihre Beharrlichkeit und nicht zuletzt auch ihre Fähigkeit, mit der psychischen Erkrankung ihres erwachsenen Kindes (bzw. ihres Partners) umgehen und leben zu lernen. Deutlich wird auch, dass in vielen Fällen nicht nur die psychische Erkrankung belastend für die Angehörigen ist. Oft genug ist es auch der Umgang mit denen, die eigentlich hilfreich sein sollten: Psychiater, Psychotherapeuten, Pflegepersonal und Sozialarbeiter, die die Hilfebedürftigkeit der Angehörigen nicht sehen oder sich nicht zuständig fühlen, die Angehörigen als lästigen Störfaktor wahrnehmen oder sie sogar beschuldigen. Auf der anderen Seite sind es gerade die „guten“ Psychiater, Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiter, die von vielen Angehörigen und oft mit großer Dankbarkeit als Helfer in der Not erlebt werden.
Das Buch zeigt einerseits das Gemeinsame und Verbindende der Erfahrungen, die Angehörige psychisch kranker Menschen machen. Andererseits sind diese Erfahrungen auch höchst individuell und persönlich, und nicht alle erleben die gleichen Dinge in gleichem Maße als belastend, hilfreich oder richtig. Aus diesem Grund sind auch die Wege, die die Angehörigen für sich gefunden haben, sehr individuell.
Besonders hervorzuheben ist auch die respektvolle und wertschätzende Haltung der Herausgeber, die den „Erfahrungsschatz“ der Angehörigen in einem umfassenden Sinne ernst nehmen. Hierzu gehört auch, dass nichts zensiert oder beschönigt wird – auch Gefühle der Trauer, der Resignation und der Verbitterung haben ihren Platz in den Erfahrungsberichten. Ausführlich wird indes auch darüber berichtet, was in Phasen großer Verunsicherung und Verzweiflung wichtig wurde und geholfen hat. Bemerkenswert ist auch die selbstbewusste Haltung der Angehörigen, die in vielen der Erfahrungsberichte spürbar wird und die von den Herausgebern ausdrücklich begrüßt wird.
Fazit
Dem vorliegenden Buch sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen: Ein „Ermutigungsbuch“ ist das vorliegende Buch in dem Sinne, dass Angehörige psychisch kranker Menschen (insbesondere Eltern) sich in ihrer Not nicht allein fühlen und vielfältige ermutigende Anregungen erhalten, um ihren eigenen Weg zu finden. Darüber hinaus kann das Buch allen empfohlen werden, die beruflich oder mit psychisch kranken Menschen und ihren Angehörigen zu tun haben. Auch für Studierende der Psychologie und der Sozialen Arbeit bietet das Buch reichhaltiges Material, z.B. für Fallbesprechungen und Diskussionen in Lehrveranstaltungen. Nicht zuletzt ist das Buch für Ärzte und Ärztinnen in der psychiatrischen Facharztausbildung eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Perspektive der Angehörigen besser kennenzulernen.
Rezension von
Prof. Dr. phil. habil. Johannes Jungbauer
Diplom-Psychologe; Supervisor (BDP). Professor für Familien- und Entwicklungspsychologie an der Kath. Hochschule NRW in Aachen
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