Angela Graf: Die Wissenschaftselite Deutschlands
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 06.05.2015

Angela Graf: Die Wissenschaftselite Deutschlands. Sozialprofil und Werdegänge zwischen 1945 und 2013. Campus Verlag (Frankfurt) 2015. 326 Seiten. ISBN 978-3-593-50297-7. D: 34,90 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,80 sFr.
Thema
Im deutschen Wissenschaftssystem gilt das meritokratische Prinzip: Wissenschaftliche Leistung („wissenschaftliche Exzellent“) wird als einziges legitimes Kriterium für Erfolg anerkannt. Das Matthäus-Prinzip („Wer da hat, dem wird gegeben werden“) wird einhellig abgelehnt. Allerdings stellte schon Max Weber in seinem 1919 gehaltenen Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ fest, dass ein guter Wissenschaftler nicht notwendigerweise auch ein guter Hochschullehrer sein muss. Im Bereich der Hochschul- und Wissenschaftspolitik wurde in den letzten Jahren eine intensive Debatte um die (Aus-)Bildung von Eliten geführt. Dabei wurden Forderungen nach dezidierten Eliteförderungen laut. Ein Beispiel ist die jüngst ausgelaufene Exzellenzinitiative, die auf die Herausbildung von Eliteuniversitäten abzielte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wer sind eigentlich gegenwärtig die besten Wissenschaftler und nach welchen Kriterien werden sie rekrutiert? Welche Personen gehören zur Spitze der Wissenschaft und wer leitet deren Geschicke? In ihrer empirischen Analyse zeichnet die Autorin das Sozialprofil und die Werdegänge der Wissenschaftselite in Deutschland seit 1945 nach.
Autorin
Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der TU Darmstadt.
Entstehungshintergrund
Bei dem Buch handelt es sich um Dissertationsschrift der Autorin an der TU Darmstadt. Sie wurde betreut von Prof. Dr. Michael Hartmann.
Aufbau
Das Buch umfasst die folgenden sieben Kapitel:
- Einleitung
- Wissenschaft und Elite – theoretische Sondierungen
- Forschungsdesign und -methode
- Die soziale Zusammensetzung der Wissenschaftselite
- Bildungsverlauf und Etablierung im Feld
- Karriereweg und Mobilität
- Zusammenfassung, Reflexion und Ausblick
Inhalt
Kapitel 1: In dem derzeitigen Diskurs um wissenschaftliche Eliten geht es offensichtlich weniger um die Frage der Existenz wissenschaftlicher Eliten per se, sondern vielmehr um Auswahl- und Zugangskriterien zur selben. Wenn also Forderungen nach Veränderungen bei der Bildung und damit der Konstitution wissenschaftlicher Eliten laut werden, stellt sich zunächst zwangsläufig die Frage, wie sich diese bislang rekrutierten und zusammensetzten? Wer sind die Akteure, die es bislang an die Spitze der deutschen Wissenschaft, also in die Wissenschaftselite, geschafft haben? Was zeichnet sie aus? Über diese zentralen Fragen schweigen sich die Akteure im aktuellen Diskurs aus. Systematische, wissenschaftlich fundierte Informationen über die Spitze der Wissenschaft liegen bislang kaum vor, was Forderungen nach Veränderungen fragwürdig erscheinen lässt. Dieser Informationslücke soll mit der vorliegenden Untersuchung begegnet werden. Das Ziel ist dabei, anhand empirischer Analysen das Sozialprofil und die Werdegänge der deutschen Wissenschaftselite nachzuzeichnen.
In Kapitel 2 wird zunächst erörtert, was soziologisch unter dem Begriff Elite gefasst wird. Anschließend wird der Blick auf die Wissenschaft als gesellschaftliche Institution gerichtet. Dabei werden anhand Bourdieus Feldkonzept die Funktionsweise und die Struktur des wissenschaftlichen Feldes genauer betrachtet, um zu eruieren, welche Akteure der Wissenschaftselite zugerechnet werden können. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Bedeutung der sozialen Herkunft für wissenschaftliche Karrieren. Insgesamt hat die vorliegenden Studie überwiegend eine deskriptiven und explorativen Charakter. Die Ergebnisse der Studie können aber herangezogen werden, um neue und weiterführende Forschungsfragen und Hypothesen zu formulieren und zu untersuchen.
Das Forschungsdesign und die Forschungsmethodik werden in Kapitel 3 dargestellt. In die Grundgesamtheit wurden alle Wissenschaftler aufgenommen, denen zwischen 1945 und einschließlich Oktober 2013 entweder der Nobelpreis (45) oder der Leibnizpreis (307) verliehen wurde. Des weiteren gehören zur Grundgesamtheit alle Wissenschaftler, die in diesem Zeitraum einer der folgenden zentralen deutschen Wissenschaftsinstitutionen vorstanden: Deutsche Forschungsgemeinschaft (10), Wissenschaftsrat (18), Hochschulrektorenkonferenz (23), Max-Planck-Gesellschaft (8), Fraunhofer-Gesellschaft (10), Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz (5) und Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (2), insgesamt 428. Aufgrund von Doppelbesetzungen reduziert sich die Untersuchungsgruppe schlussendlich auf 407 Fälle. Als Datenbasis für die in der Studie gebildeten Variablen dienten die Lebensläufe: Angaben zur Person (Geschlecht, Geburtsjahr, Geburtsort, Nationalität), Angaben zur sozialen Herkunft (Beruf und akademischer Grad der Eltern), Bildungsverlauf (Art, Zeitraum, Dauer, Ort, Institution), berufliche Stellungen (Art, Zeitraum, Dauer, Ort, Institution). Der so erstellte Datensatz wurde mit Hilfe des Statistikprogramms SPSS analysiert.
In Kapitel 4 wird zunächst die soziale Zusammensetzung der Elitemitglieder insgesamt betrachtet sowie die Veränderung dieser im Zeitverlauf analysiert.
Dann wird in den Kapiteln 5 und 6 den Fragen nach strukturellen Unterschieden in den Werdegängen im Hinblick auf die soziale Herkunft und das Geschlecht sowie zwischen unterschiedlichen Elitepositionen nachgegangen.
In Kapitel 7 fasst die Autorin die Ergebnisse ihrer Studie, etwas polemisch formuliert, folgendermaßen zusammen: Die deutsche Wissenschaftselite ist männlich, stammt aus sozio-ökonomisch privilegierten Elternhäusern mit enger Verbindung zur Wissenschaft und arbeitet in den Naturwissenschaften. Es handelt sich somit bei der deutschen Wissenschaftselite um eine sozial sehr homogene Gruppe. Doch diese Charakterisierung greift zu kurz. Das wissenschaftliche Feld weist weitaus komplexere Strukturen auf. Der Habitus eines Akteurs hat nach Bourdieu eine zentrale Bedeutung für die Chance auf Kapitalakkumulation und damit auf Erfolg im wissenschaftlichen Feld. Daher ist es notwendig, auch die soziale Laufbahn vor Eintritt in das wissenschaftliche Feld zu berücksichtigen. Der Habitus bildet gewissermaßen die Hintergrundfolie für subjektiv wahrgenommene Handlungsoptionen und für Zuschreibungs- und Anerkennungsprozesse. Hervorzuheben ist, dass lediglich 8% der Wissenschaftselite Frauen sind. Lediglich zwei Frauen standen seit 1945 einem wissenschaftspolitischen Spitzengremium vor, an die Spitze einer deutschen Forschungsgesellschaft hat es bislang noch keine Frau geschafft. Unter den Elitemitgliedern überwiegen mit großem Abstand die Naturwissenschaftler (60%). Der überwiegende Anteil der Elite (83%) verbrachte seine gesamte Karriere innerhalb des wissenschaftlichen Feldes. Knapp die Hälfte der Wissenschaftselite verfügt allerdings über keine nennenswerte Auslandserfahrung (mindestens ein Jahr). Im Hinblick auf die soziale Herkunft illustriert die Studie anschaulich die enorme soziale Exklusivität der Wissenschaftselite: Zwei Drittel der Inhaber von wissenschaftlichen Elitepositionen sind in Familien aufgewachsen, die den obersten 3,5 Prozent der Gesellschaft angehörigen. Eine Viertel kommt aus Familien der obersten 0,5 Prozent der Gesellschaft. Ein Blick auf die zeitliche Veränderung der sozialen Zusammensetzung zeigt, dass es für die Geburtskohorten der 1930er- und 1940er-Jahre zu einer deutlichen sozialen Öffnung bei der Rekrutierung der Elitemitglieder kam. Nach dieser allgemeinen sozialen Öffnung der wissenschaftlichen Elitepositionen scheint sich eine zunehmende Polarisierung zwischen Positions- und Prestigeelite abzuzeichnen, weil die soziale Zusammensetzung der Amtsinhaber eine Tendenz zur weiteren Schließung aufweist. Eine aktuelle Studie von Möller (2015) kommt zu einem ähnlichen Resultat im Hinblick auf die soziale Zusammensetzung der Professorenschaft in Nordrhein-Westfalen.
Die in der vorliegenden Studie aufgezeigten herkunftspezifischen Differenzen beim Erwerb von wissenschaftlichen Elitepositionen erhalten vor dem Hintergrund der derzeitigen Veränderungen der Beschäftigungsstrukturen im Wissenschaftsfeld eine neue Brisanz. Seit einigen Jahren zeichnet sich die berufliche Tätigkeit an deutschen Hochschulen durch eine massive Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse aus (Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2013). Der Anteil befristeter Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter stieg von knapp unter 80% in den 1990er-Jahren auf 89% im Jahr 2012 an. Über die Hälfte dieser Stellen weisen eine Laufzeit von unter einem Jahr auf. Im gleichen Zeitraum wuchs der Anteil der Teilzeitstellen von 24% auf 47%. Im internationalen Vergleich verfügt die universitäre Struktur Deutschlands über einen sehr schmalen „Oberbau“ (senior staff), also unbefristete Stellen auf denen eine eigenständige wissenschaftliche Betätigung in institutionell gesichertem Rahmen möglich ist (Kreckel 2011). Somit kann vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen und der empirischen Befunde der vorliegenden Studie angenommen werden, dass Personen ohne ein entsprechend privilegiertes Elternhaus zunehmend größeren Hürden für eine erfolgreiche Karriere im wissenschaftlichen Feld gegenüberstehen.
Diskussion
Im Kontext der Studie stellt sich allerdings auch die Frage, ob exzellente Wissenschaftler zwangsläufig auch exzellente Wissenschaftsmanager sind. Des weiteren wäre es sicherlich interessant, eine ähnliche Studie gesondert für die Wissenschaftselite in der ehemaligen DDR durchzuführen. Dabei könnte auch ermittelt werden, wie vielen Wissenschaftlern aus der ehemaligen DDR es tatsächlich gelungen ist, bis in die Spitze der bundesdeutschen Wissenschaftselite vorzustoßen.
Zielgruppen
Zielgruppen sind Wissenschaftler und Studierende aus den Bereichen Bildungsforschung und Soziale Ungleichheit. Es ist auch sehr zu empfehlen für wissenschaftliche Universitätsmitarbeiter, die eine langfristige universitäre Karriere in Erwägung ziehen, sowie für Akteure in der Bildungspolitik.
Fazit
Über die soziale Herkunft der deutschen Wissenschaftselite gibt es bisher kaum systematische und wissenschaftlich fundierte Informationen. Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit dieser Wissenslücke und gewährt auf Basis einer sorgfältig aufbereiten Empirie neue Erkenntnisse über das Sozialprofil und die Werdegänge der Wissenschaftselite in Deutschlands seit 1945. Die Ergebnisse der Studie erlangen angesichts der Diskussion um die Fortsetzung der Exzellenzinitiative für deutsche Hochschulen eine besondere Brisanz, weil sie das propagierte meritokratische Prinzip stark infrage stellen.
Literatur
- Christina Möller (2015): Herkunft zählt (fast) immer. Soziale Ungleichheiten unter Universitätsprofessorinnen und Universitätsprofessoren
- Andrea Lange-Vester und Christel Teiwes-Kügler (2013): Zwischen W3 und Hartz IV. Arbeitssituation und Perspektiven von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
- Reinhard Kreckel (2011): Universitäre Karrierestruktur als deutscher Sonderweg, in: Andreas Keller et al. (Hg.), Traumjob Wissenschaft? Karrierewege in Hochschule und Forschung, S. 47-60
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
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Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 06.05.2015 zu:
Angela Graf: Die Wissenschaftselite Deutschlands. Sozialprofil und Werdegänge zwischen 1945 und 2013. Campus Verlag
(Frankfurt) 2015.
ISBN 978-3-593-50297-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18806.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.
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