María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.04.2015

María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. transcript (Bielefeld) 2015. 2, komplett überarbeitete und erweiterte Auflage. 376 Seiten. ISBN 978-3-8376-1148-9. 24,99 EUR. CH: 31,00 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-8252-5362-2 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Kolonialismus hat nicht auf einer Tabula rasa stattgefunden
Man kann diese Feststellung als Tautologie abtun, wie natürlich alles, was entstanden ist, geschichtliche Hintergründe hat, im Positiven wie im Negativen. Der Mensch ist nun mal ein evolutionäres, vom Bewusstsein seiner Geschichtlichkeit bestimmtes Lebewesen, der als zôon politikon (Aristoteles) ein homo historicus ist, wenn er sich seiner welthaften Existenz habhaft ist (Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012,www.socialnet.de/rezensionen/14323.php). Bei der Frage, warum und wie der Kolonialismus entstanden ist und sich zu einer menschenrechtswidrigen Gewalttat in der Menschheitsgeschichte entwickelt hat, gibt es ganz unterschiedliche Auslegungen und Bewertungen. Wie der Diskurs um die Menschenrechte zeigt, wird längst nicht von allen Menschen und Mächten anerkannt, was in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postuliert wird, dass nämlich „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48; vgl. dazu auch: Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17721.php; sowie: Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich? 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18796.php).
Entstehungshintergrund
Der Begriff „Postkolonialismus“ signalisiert ja verschiedene Annahmen: Da ist zum einen die Interpretation, dass die vergangene, imperiale und koloniale Dominanz von Ländern und Mächten über Individuen und Völker zwar vorbei ist, aber in anderen Formen wieder auflebt; und die andere, dass Machtstrukturen, die den Kolonialismus entstehen ließen, weiterhin bestehen und apodiktisch nach den gleichen Ideologien wie zu Zeiten des Kolonialismus wirken, als sich auch moralisch und human ummanteln. Die Aufforderung zur „Dekolonisation des Denkens“ (Wolfgang Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6390.php) verbindet sich mit der Herausforderung, „Critical Whitness“ zu denken (Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, 550 S., www.unrast-verlag.de/news). Die postkoloniale Kritik äußert sich dabei in zwei wesentlichen Ausprägungen: Die eine in dem Bemühen, die Entstehungsgeschichte(n) der imperialen und kolonialen Eroberungen und Besitznahmen objektiv und möglichst ideologiefrei aufzudecken, die andere mit dem geschärften, kritischen globalisierten Blick auf die kapitalistische Macht und Hegemonie.
Autorenteam
Die Psychologin, Pädagogin und Politikwissenschaftlerin von der Berliner Alice Salomon Hochschule, Maria do Mar Castro Varela, forscht und publiziert zusammen mit der Politikwissenschaftlerin von der Leopold-Franzen-Universität in Innsbruck und Direktorin des „Frankfurt Research Center for Postcolonial Studies“ an der Goethe-Universität in Frankfurt/M.(FRCPS), Nikita Dhawan, u. a. in vielfachen globalen Zusammenhängen. Sie legen in überarbeiteter und ergänzter Form eine Neuauflage des 2005 erschienenen Buches vor (ISBN 978-3899423372). Sie begründen die 2. Auflage vor allem mit dem durchaus optimistischen Eindruck, dass im lokal- und global-wissenschaftlichen wie im gesellschaftlichen Diskurs die Aufmerksamkeit für postkoloniales Denken im letzten Jahrzehnt gewachsen ist, sich gleichzeitig durch neue Diskussions- und Forschungsergebnisse weitere Perspektiven entwickelt haben, und diese in einer wissenschaftlichen Einführung in das Theorie- und Praxisfeld postkolonialen Bewusstseins Eingang finden sollten. Sie wollen mit der Neuauflage aber auch dazu aufrufen, den Tendenzen zu widerstehen, die sich im universitären Bereich auftun, den postkolonialen Diskurs entweder in traditionelle Disziplinen einzugliedern, oder gar, wie sich in Frankfurt zeigt, die Initiativen und Aktivitäten etwa des FRCPS abzuwickeln. Denn die Herausgeberinnen haben die in der 2. Auflage ergänzten und vervollständigten Informationen und Reflexionen zur postkolonialen Theorie vielfach dem lebendigen, internationalen Diskurs zu verdanken, wie er sich seit 2009 beim FRCPS vollzieht: „Es bleibt zu wünschen, dass an den Hochschulen mehr Räume geschaffen werden, die die konstruktive Debatte über kritische Ansätze ermöglichen“.
Aufbau und Inhalt
Das Buch thematisiert in sechs Kapiteln die wichtigsten, aktuellen Theorien und Denkrichtungen, wie sie sich im transdisziplinären Forschungsfeld der postkolonialen Studien entwickelt haben.
Im ersten Kapitel, „Kolonialismus, Antikolonialismus und postkoloniale Studien“, zeigen die Autorinnen auf, wie sich der Begriff „postkolonial“ und die Forschungsaktivitäten seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts von der Blickrichtung auf die Lage der ehemaligen Kolonien hin zu allen kolonialen, imperialen, dominanten und hegemonialen Formen von politischer, wirtschaftlicher und kultureller Abhängigkeit geändert haben. Der Begriff „Postkolonialität“ beinhaltet deshalb „ein Set diskursiver Praktiken…, die Widerstand leisten gegen Kolonialismus, kolonialistische Ideologien und ihre Hinterlassenschaften“. Dabei werden Zusammenhänge relevant, wie sie sich etwa beim Kolonialismus und Imperialismus ergeben, den fortwirkenden, modernen, west- und eurozentrierten Dominanzen, den Fragen zu nationalistischen Entwicklungen, der Bedeutung von religiösen, weltanschaulichen und säkularen Politiken, und nicht zuletzt den Auseinandersetzungen, wie sie sich als Globalisierungskritik äußern und in den Herrschaftsverhältnissen des „globalen Nordens“ gegenüber dem „globalen Süden“ zeigen.
Im zweiten Kapitel wird mit Edward Wadie Saids Werk „Orientalism“ (1978) gewissermaßen das Gründungsdokument der postkolonialen Studien vorgestellt, das aufzeigt, „wie dominante Kulturen andere Kulturen repräsentieren und damit erstere wie letztere konstituieren“, und „wie der orientalische Diskurs instrumentalisiert wurde, um die europäische Kolonialherrschaft auf- und auszubauen“. Dass und wie diese Betrachtung besonders von den herrschenden, politischen Kräften qua Macht- und Deutungsanspruch heftig widersprochen wurde, verdeutlichen die Autorinnen mit zahlreichen Quellenmaterialien aus Saids Werk und seinem politischen Wirken. Die kritische Auseinandersetzung mit seinen Schriften fokussiert in dem Plazet: „Postkoloniale Theorie ist immer zwangsläufig politisch“.
Das dritte Kapitel verweist auf die „marxistisch-feministische Dekonstruktion“, wie sie von der aus Indien stammenden Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak vertreten wird. Sie lehrt am Center for Comparative Literature and Society an der Columbia University, New York, und sie gilt als Mitbegründerin der postkolonialen Theorie. Sie ist überzeugt, dass ein kritischer Zugang zur Geschichts- und Kulturbetrachtung gelernt werden kann und sollte; und sie fordert „eine einschneidende Revision des Kanons und die Weiterentwicklung der Literaturwissenschaften beziehungsweise Geisteswissenschaften zu einer transdisziplinären und -nationalen Kulturwissenschaft, die sich den Konsequenzen des (Neo-)Kolonialismus stellt“. Es sind die „Subalternen, die ihre eigene Unterwerfung als unentrinnbares Schicksal annehmen“, und damit den von den Mächtigen auferlegten und schmackhaft gemachten Begrifflichkeiten und Gegenwarts- und Zukunftsvisionen gewissermaßen auf den Leim gehen, wie etwa die von der „Zivilgesellschaft“, ohne dabei die Machtstrukturen verändern zu wollen; oder die von der „Pädagogik“, ohne die Zugangs- und Verwertungschancen zu prüfen.
Mit dem vierten Kapitel kommt das Denken des ebenfalls aus Indien stammenden, an der Harward University lehrenden Literatur- und Sozialwissenschaftlers Homi K. Bhabha zu Wort: „Mimikry, Hybridität und Dritte Räume“. Für ihn sind die unterschiedlichen, selbst gemachten, auferlegten wie gewordenen Aktivitäts- und Repräsentationsformen von kultureller Differenz die wesentlichen Ursachen von (post-)kolonialen Beziehungen „zwischen den machtvollen Kolonisatoren und den machtlosen Kolonisierten“. Durch Ängstlichkeit, Macht und Stereotypenbildung wird gewissermaßen das Feld für Macht und Machtlosigkeit bereitet; durch „Mimikry“ allerdings könne es gelingen, die scheinbare Übermächtigkeit in Frage zu stellen und die Mauer der Macht zum Einsturz zu bringen: „In seinen Schriften bricht Bhabha im Grunde mit der Vorstellung von Herrschaft und Imperialismus als allumfassend und unbesiegbar, indem er deren Schwachstellen und Anfälligkeiten offen legt“. Mit der Markierung des „dritten Raums“ verweist er darauf, dass Kulturen (und damit auch kulturelle Identitäten) keine natürlichen, auch keine allzeit festgefügten Gegebenheiten sind, sondern sich im kontinuierlichen Wandel und Werden befinden; dieses Bewusstsein aber bietet die Chance, „neue Räume und Zeiten für die politische und kulturelle Praxis der Gegenwart verfügbar zu machen“. Damit nämlich könne es gelingen, eine neue Sichtweise von der „Moderne“ zu erlangen, die offen ist für neue Artikulationen und kulturelle Differenzen. Wie nicht anders zu erwarten, unterliegen Bhabhas Ansichten und Theoriebildungen auch einer heftigen Kritik; jedoch nicht seine Forderung, zwischen Information und Wissen zu unterscheiden und dabei eine ethische Werte-Bildung zugrunde zu legen.
Im fünften Kapitel setzen sich die Autorinnen Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan mit den drei vorgestellten Hauptpositionen einer postkolonialen Theorie auseinander und ordnen sie mit kritischen Nachfragen und von anderen AutorInnen formulierten Einwänden dem Diskurs zu. Dabei artikulieren sich in den Kritiken verschiedene Aspekten, wie etwa wissenschaftstheoretische, methodologische, wert- und situationsorientierte, wie etwa die Nachfrage des slowenischen Philosophen Slavoj?i?ek: „Einen armen Bauern … mit demselben Begriff zu belegen wie den Angehörigen der ‚symbolischen Klasse‘ (Akademiker, Journalist, Künstler, Kunstmanager), der ständig zwischen Kulturhauptstädten hin- und herreist, läuft auf dieselbe Obszönität hinaus wie die Gleichsetzung von Hungersnot und Schlankheitsdiät“ (vgl. in diesem Zusammenhang auch: Slavoj Žižek, Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18832.php). Die mit vielen Belegen und Quellenverweisen geführte Diskussion zur Kritik an der Postkolonialen Theorie dürfte für Studierende besonders interessant sein; werden doch dadurch die engagierten und kontroversen, wissenschaftlichen und theoretischen Auseinandersetzungen deutlich.
Beim sechsten Kapitel – „Postkoloniale Utopien und die Herausforderung der Dekolonisierung“ – betreten die Autorinnen nicht „Utopia“ als die Mooresche Verheißung eines „präkolonialen Paradieses“, sondern sie drücken, mit dem festen und kritischen Blick auf die Wirklichkeiten der Welt „die wichtigste und wohl schwierigste Herausforderung … (aus), eine Allianz zwischen differenten postkolonialen Formationen und Interessen zu erreichen, die nicht auf eine Politik der Assimilierung oder gar Marginalisierung zurückgreift“.
Fazit
Postkoloniale Theorie, das verdeutlichen die in der kritischen Einführung präsentierten und diskutierten Belegstücke und Grundlagenwerke, die für die postkolonialen Studien Anker sind, nicht (nur und zuvorderst) eine kritische Betrachtung des (historischen) Kolonialismus, sondern vor allem eine Auseinandersetzung über die historisch-soziologischen, politischen, ökonomischen, kulturellen, individuellen und gesellschaftlichen Interdependenzen, Verflechtungen, Abhängigkeiten und Machtstrukturen, die durch den Kolonialismus entstanden sind und bis heute wirken. Die Postkoloniale Theorie, als interdisziplinäres Forschungsfeld, greift deshalb auf die Wirklichkeiten zurück, wie sie sich als globale Imponderabilien Hier und Heute darstellen, mit dem Ziel, die Ursachen der Macht- und Ohnmachtverhältnisse, der Gerechtigkeits- und Ungerechtigkeitssituationen, der Gleichheits- und Ungleichheitsprozesse zu analysieren, um sie im Sinne einer „globalen Ethik“ zu verändern.
Die kritische Einführung in die Postkoloniale Theorie sollte Pflichtlektüre für Studierende nicht nur der sozialwissenschaftlichen Fächer sein; sie bietet allen, die mit dem Zustand der Welt nicht zufrieden sind und mit der aktiven Hoffnung leben, dass eine gerechtere, friedlichere, humane (Eine) Welt möglich ist, vielfältige Anregungen zum Selbst- und Mittun an dieser Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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