Bella Liebermann: Das Trauma der Holocaust-Überlebenden
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.05.2015
Bella Liebermann: Das Trauma der Holocaust-Überlebenden. Ihre Anamnese am Beispiel des narrativen Interviews.
Paulo Freire Verlag
(Oldenburg) 2014.
2., neubearb. Auflage.
106 Seiten.
ISBN 978-3-86585-328-8.
D: 23,90 EUR,
A: 24,60 EUR,
CH: 34,50 sFr.
Reihe: Edition Neuer Diskurs, Bd. 28.
Das Leben als „unvollendete Vergangenheit“
Bevor es darum geht, sich der Studienarbeit von Bella Liebermann zu widmen, muss auf eine Kontroverse verwiesen werden, die sich im socialnet Rezensionsdienst nach der Erstveröffentlichung 2011 ergeben hat. Da äußert sich am 22. 6. 2012 der Rechtswissenschaftler von der Universität Magdeburg, Prof. Dr. Dr. Jochen Fuchs in einer Besprechung darüber, ob denn die Arbeit überhaupt als wissenschaftlich angesehen werden könne. Eine zweite Rezension wird am 24. 09. 2012 von Sozialwissenschaftlerin von der Fachhochschule Erfurt / Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, Studiengang Soziale Arbeit, Prof. Dr. Susanne Zeller geliefert, die zwar vorsichtig zweifelnd anbringt, „ob die Durchführung und Auswertung der narrativen Interviews wirklich den strengen Regeln einer empirischen Sozialforschung Rechnung (trägt)“, aber auf eine Blickrichtung verweist, die in der historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung bisher eher wenig thematisiert wurde; nämlich um eine notwendige Erinnerungskultur über das Leben und die Schicksale von ehemaligen sowjetischen Bürgern, die bei uns als „russische Juden“ benannt und abgestempelt werden.
Der Paulo Freire Verlag in Oldenburg legt, ob aufgrund der Kritik an der Erstveröffentlichung kann nur vermutet werden, die zweite, neu bearbeitete Auflage der Studienarbeit von Bella Liebermann, Das Trauma der Holocaust-Überlebenden. Ihre Anamnese am Beispiel des narrativen Interviews (2011), vor. Soweit erkennbar, hat die Autorin darin allerdings lediglich einige Verschreiber und missverständliche Ausführungen korrigiert, jedoch nicht die grundsätzliche Berichterstattung und Ergebnisse über ihre Arbeit verändert.
Entstehungshintergrund und Autorin
Wenn „Biografie als vermittelnde Kategorie“ (Winfried Marotzki) zu verstehen ist, gar als verschüttete, tabuisierte, geleugnete, vergessene…, kann ein vertrauensvolles Gespräch die gemeinsame Suche nach der Vergangenheit in der Gegenwart und Wirklichkeit möglich machen (siehe dazu auch: Thorsten Fuchs, Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, Bielefeld 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11821.php). Mit dem narrativen Interview als qualitative, empirische Forschungsmethode bietet sich die Ermittlung von Informationen, Meinungen, Auffassungen und Einschätzungen von Interviewpartnern an; nicht in erster Linie, um objektive Daten über Persönliches zu erhalten, sondern durch das Schildern der eigenen Geschichte gewissermaßen die „eigene Geschichte“ lebendig werden zu lassen. Dadurch vermischen sich Objektives und Subjektives zu einer Erzählung, die es wiederum dem Interviewer ermöglicht, Wirklichkeit zu konstituieren. Die Analyse und Interpretation der Interview-Aussagen ist es, immer verbunden mit dem Hier und Jetzt der Interviewten, die eine Erzählung zu einem objektiven Akt mit wissenschaftlichem Anspruch macht.
Anlässlich der festlichen Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin, Anfang September 2001, schrieb Michael Naumann in der Wochenzeitung DIE ZEIT den Satz: „Wir werden unserer Geschichte nicht entkommen“, denn das Erinnern an den Holocaust weise einen Weg in unsere Gegenwart und Zukunft. Und der in der einzigartigen israelisch-arabischen (palästinensischen), in der Nähe von Haifa gelegenen Begegnungsstätte Givat Haviva mitarbeitende Pädagoge Shaul Knaz, stellt in seinem Gedicht „Wer ist schuld…“ (1994) fest: „Ich bin nicht daran schuld, / Dass es hier keinen Frieden gibt. / Das ist ihre Schuld. / Sie sind die Schuldigen und ich habe keinen Frieden. / Es ist nicht meine Schuld, / Dass auch sie keinen Frieden haben. / Weder sie noch ich haben Frieden. / Sie und ich sind schuldig… / Weil wir uns bewusst sind, / Dass nur wer schuldig ist, / Nur wer sich ein wenig schuldig fühlt, … / Frieden macht. / Ich habe keinen Frieden… / Weil ich nie schuld war, / Dass ich keinen Frieden habe“ ( Ingeborg Pauluhn, Zur Geschichte der Juden auf Norderney. Von der Akzeptanz zur Desintegration. Mit zahlreichen Bildern, Dokumenten und historischen Materialien, Igel Verlag, Oldenburg 2003, in: www.socialnet.de/rezensionen/2002.php).
Damit ist der Bogen gespannt zu dem, was der jüdisch-französische Philosoph Emmanuel Lévinas (+ 1995) „La vie et la trace“ nannte. Dem Leben und der Geschichte auf der Spur bleiben, als Aufgabe für Menschlichkeit. Diesen Spagat gilt es zu leisten, als vergangenheitsbewusste, gegenwartsbezogene und zukunftsorientierte Auseinandersetzung. Wie wir wurden, was wir sind – das ist eine Aufgabe für allgemeinbildende Aufklärung.
Die aus dem Länderdreieck Russland, Weißrussland und Ukraine stammende, heute in Köln lebende Musikerin und Schriftstellerin Bella Liebermann, hat an der Fachhochschule Erfurt Sozialpädagogik/Sozialarbeit studiert. Im Rahmen eines Forschungsprojektes hat sie beim Verein „Der halbe Stern e.V.“ ein Praktikum absolviert und dabei auch die Geschwister, Frau A. und Herrn B., als Überlebende des Holocaust kennen gelernt. Sie hat die beiden interviewt und darüber auch einen Dokumentarfilm erstellt. Daraus ist das Büchlein entstanden.
Aufbau und Inhalt
Der wissenschaftliche Anspruch der Arbeit wird mit folgenden Fragestellungen begründet:
- Was ist das Trauma aus wissenschaftlicher Sicht?
- Was sind die typischen Merkmale für traumatische Erscheinungen?
- Wie entwickelt sich das Verständnis und die Behandlung der Traumata im Zusammenhang mit der Problematik der Holocaust-Überlebenden?
- Was versteht man unter der zweiten und dritten Generation und wie äußert sich das Trauma über verschiedene Generationen hinweg?
- Welche Problematik existiert bei den Überlebenden und ihren Kindern aus der ehemaligen Sowjetunion?
- Was versteht man unter dem narrativen Interview?
- In welchem Zusammenhang steht das narrative Interview mit der „Oral History“?
- Wie kann man durch die Fallbeschreibung und die Durchführung eines narrativen Interviews mit dem Geschwisterpaar B. und A. traumatische Erscheinungen erkennen?
- Wie kann man diese Erscheinungen interpretieren und auf welchen Ebenen?
Es ist klar, dass diese formulierten Ansprüche nicht in einem Text mit 109 Seiten ausführlich und umfassend dargestellt werden können; schon gar nicht die Thematik „Trauma“ (vgl. dazu auch: Katrin Boege / Rolf Manz, Hg., Traumatische Ereignisse in einer globalisierten Welt. Interkulturelle Bewältigungsstrategien, psychologische Erstbetreuung und Therapie, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/6270.php, sowie: Michael White, Landkarten der narrativen Therapie, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9746.php) und „Holocaust“ (Wolfgang Benz / Barbara Distel, Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 3: Sachsenhausen / Buchenwald, München 2006; Jürgen Matthäus / Klaus-Michael Mallmann, Hrsg., Deutsche, Juden, Völkermord. Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2006; Alexander von der Borch Nitzling, (Un)heimliche Heimat. Deutsche Juden nach 1945 zwischen Abkehr und Rückkehr; Paulo Freire Verlag, Oldenburg 2007; sowie: Andrea Treuenfeld, Zurück in das Land, das uns töten wollte. Jüdische Remigrantinnen erzählen ihr Leben, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/17994.php).
Die Autorin gliedert die Arbeit nach der Einleitung, der Darstellung der wissenschaftlichen Fragestellung und der für die Analyse angewandten Methoden, sowie der Zusammenfassung in mehrere Teile. Die Frage „Was ist ein Trauma?“ wird anhand der Literatur und der verschiedenen Konzepte skizziert. Die Bedeutung von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Holocaust-Überlebenden wird diskutiert. „Oral History“ und (Nach-) Erzählungen von Erlebtem und Erinnertem werden thematisiert. Die Portraits und kurz gefassten Lebensgeschichten des Geschwisterpaares A. und B. vermitteln einen Eindruck. Die Ergebnisse der Interviews mit den beiden Interviewpartnern, die sich zur jüdischen Weltanschauung und -identität bekennen und bis heute sich aktiv am jüdischen Gemeindeleben in Köln beteiligen, werden auf verschiedenen Ebenen analysiert: der psychologischen, sprachlichen, psychosozialen.
Fazit
Für den niederländischen Psychiater Jan Bastiaans stellt sich die Existenz der Holocaust-Überlebenden, für die Opfer also, als „eine unvollendete Vergangenheit“ dar (J. Bastiaans, Vom Menschen im KZ und vom KZ im Menschen, in: Rosenthal, G., Erlebte und erzählte Geschichte, 1993). Die Traumata der Überlebenden (und deren Überlebenden) können also (auch) durch deren Erzählungen und Erinnerungen habhaft und bearbeitbar gemacht werden. Die Analyse eines narrativen Interview-Projektes, wie dies Bella Liebermann in ihrem Büchlein „Das Trauma der Holocaust-Überlebenden“ darstellt, bedarf, soll der Leser davon profitieren, nicht nur der interpretatorischen Schilderung und der Anamnese von theoretischen Konzepten, sondern auch den Aufweis von Beispielen aus den Erzählungen der Befragten. Beispiele dafür würden ohne Zweifel die nachvollziehenden Analysen der Arbeit erleichtern. Der Versuch, exemplarisch der „Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen Erlebtem und Erzähltem (in der) Lebensgeschichte von Holocaust-Überlebenden“ nachzugehen und das narrative Interview als ein Mittel dafür aufzuweisen, ist es wert, in den notwendigen Diskurs um humanes Erinnern einzubringen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 05.05.2015 zu:
Bella Liebermann: Das Trauma der Holocaust-Überlebenden. Ihre Anamnese am Beispiel des narrativen Interviews. Paulo Freire Verlag
(Oldenburg) 2014. 2., neubearb. Auflage.
ISBN 978-3-86585-328-8.
Reihe: Edition Neuer Diskurs, Bd. 28.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18813.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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