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Christian Schröder: Das Weltsozialforum

Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 03.06.2015

Cover Christian Schröder: Das Weltsozialforum ISBN 978-3-8376-2967-5

Christian Schröder: Das Weltsozialforum. Eine Institution der Globalisierungskritik zwischen Organisation und Bewegung. transcript (Bielefeld) 2015. 293 Seiten. ISBN 978-3-8376-2967-5. D: 34,99 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 45,90 sFr.

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Thema

Das Weltsozialforum (WSF), zuerst veranstaltet 2001 in Porto Alegre (Brasilien), wird hier zum Gegenstand einer organisationssoziologischen Studie gemacht. Die Fragestellung ist im Titel angedeutet. Ausgehend von der Beobachtung, dass das WSF bis in die jüngste Zeit im Ein- oder Zweijahresturnus auf verschiedenen Kontinenten veranstaltet werden konnte, ohne dass sich starre Organisationsstrukturen herausgebildet haben, fragt der Vf. nach dem besonderen Charakter dieser Institution der globalisierungskritischen Bewegung.

Entstehungshintergrund

Bei der Studie handelt es sich um eine Dissertation, die an der Universität Hildesheim im Rahmen des Promotionsprogramms „Soziale Dienste im Wandel“ angefertigt wurde.

Aufbau und Inhalt

In der Einleitung geht der Vf. zunächst auf die allgemeinen Merkmale von Protestbewegungen ein, ihre Ziele, Strategien (medienwirksame Inszenierungen, Nutzung sozialer Netzwerke) und ihre hierarchiefreien Strukturen, um dann eine vorläufige Charakterisierung des WSF zu geben als „eine Plattform, auf der emanzipative Alternativen Berücksichtigung finden und entwickelt werden“ (8). Als Raum für den Erfahrungsaustausch und politische Lernprozesse sei sie nur mittelbar als politischer Akteur zu qualifizieren. Sodann wird die Fragestellung der Arbeit verdeutlicht und ein Überblick über ihren Aufbau gegeben.

In Kapitel I „Protestbewegungen im Spiegel der Wissenschaft“ skizziert der Vf. die Entwicklung der Neuen sozialen Bewegungen seit 1968 bis zur globalisierungskritischen Bewegung gegen den Neoliberalismus. Er verdeutlicht dabei übrigens, dass die Kritik sich nicht gegen die Globalisierung an sich richtet, was klarer zum Beispiel in der englischen Bezeichnung Global Justice Movement zum Ausdruck kommt. Um seinen theoretischen Zugang zu kontextualisieren, referiert der Vf. „Paradigmen der Bewegungsforschung“. Nach ihm lassen die Modelle ein Forschungsdesiderat erkennen, weil sie nur lineare oder zyklische Entwicklungen berücksichtigen, nicht aber das am Beispiel WSF beobachtbare Spannungsverhältnis zwischen Bewegung und organisatorischer Erstarrung.

In Kapitel II „Methodologische Überlegungen und Forschungsdesign“ wird der ethnographische Forschungsansatz erläutert, wobei der Vf. zeigt, dass er sich der gegenseitigen Beeinflussung von Forscher und Forschungsfeld bewusst ist. Datenerhebung und -auswertung im Sinne der Grounded Theory und die Phasen des Forschungsprozesses werden für die Leser/innen nachvollziehbar gemacht. Zur Dokumentenanalyse kamen Interviews und die teilnehmende Beobachtung an verschiedenen Orten (Sao Paulo, Tunis).

In Kapitel III wird nach der „Identität des WSF“ gefragt. Um zu sehen, wieweit bei aller Offenheit und Vielfalt gemeinsame Gestaltungselemente und Botschaften zu finden sind, hat der Vf. Websites im World Wide Web analysiert und Suchanfragen in Sozialen Netzwerken nach Sprachen, Zeitpunkten etc. differenziert. Aufschlussreich ist die Anmerkung: „Das WSF als ‚globaler‘ Event muss eng verbunden mit der Entwicklung des Kommunikationsmediums Internet betrachtet werden“ (77, Fußnote). Ergebnis: Es gibt bei aller Pluralität identitätsstiftende Motive. Die „Corporate History“, der zweite Untersuchungsaspekt, liefert ein ähnliches Ergebnis. Es gibt keine einheitliche Narration, bezeichnenderweise auch kein geordnetes Archiv, aber verbindende „Episoden“. Die Offenheit ist auch eine „retrospektive Offenheit“ (133).

In Kapitel IV wird aufgezeigt, dass zumindest „Spuren von ‚Organisation‘“ zu finden sind. Der Vf. unterscheidet beim WSF „feste“ und „flüssige Strukturen“; denn das Büro in Brasilien und die turnusgemäß stattfindenden Treffen des Internationalen Rats gewährleisten die Kontinuität der über zehn Jahre lebendigen Bewegung, die sich mit den internationalen und regionalen Sozialforen den Raum für Kommunikation, Selbstvergewisserung und öffentlichen Protest schafft. Der Vf. beleuchtet die Zusammensetzung des Internationalen Rats, die Modi der Konsensfindung, die Installierung von dauerhaften Arbeitsgruppen, informelle (Macht-)strukturen und Koalitionsbildung. Exemplarisch zeigt der Vf. den Umgang mit Formalia an der spontanen Beschlussfassung darüber, wo das nächste WSF 2013 stattfinden sollte, bei der vorher beschlossene Prozeduren der Entscheidungsfindung mit Verweis auf aktuelle politische Kämpfe bei Seite geschoben wurden. Vorgestellt werden Webportale und Datenbanken zur Selbstzuordnung von Initiativen. Das Fazit des Kapitels ist, das WSF oszilliere „im Spannungsfeld zwischen horizontalem Netzwerk und hierarchischer Organisation“ (205).

Das alternative Selbstverständnis der Aktivist/inn/en im WSF verdeutlicht auch das Kapitel V über das Ressourcenmanagement, speziell den Umgang mit Finanzen, wobei auch Widersprüche angedeutet werden. Die für ein internationales Forum erforderlichen Finanzmittel, 2005 in Porto Alegre immerhin über sechs Millionen Euro (212), werden überwiegend bei Stiftungen und Unternehmen eingeworben. (Erwähnt wird u.a. die Ford Foundation. 219) Für den Umgang mit Finanzen sind dabei nach Einschätzung des Vf. „Intransparenz und diffuse Verantwortlichkeit“ kennzeichnend (213). Das Reden über Finanzfragen werde „als ‚neoliberal talk‘“ diffamiert (246). „Das Ideal des WSF… stößt jedoch insbesondere bei Geldfragen an seine Grenzen“, so sein Fazit (245).

In Kapitel VI erörtert der Vf. abschließend unter organisationssoziologischen Gesichtspunkten das Phänomen WSF, das er mit dem Begriff der „Transpoiesis“ (in Abgrenzung vom systemtheoretischen Konzept der Autopoiesis) zu fassen versucht. Er lässt offen, ob hier „ein neuer Ordnungstyp für Ko-operationen entsteht“ (258).

Diskussion

Wer aus politischem Interesse am Thema nach dem Buch greift, könnte enttäuscht sein. Denn die Herangehensweise der Vf. ist klar vom akademischen Qualifizierungsinteresse bestimmt. Und der organisationssoziologische Beobachterstandpunkt schließt jede politische Engagiertheit aus. Jedoch verschafft die Untersuchung gerade dadurch auch politisch interessierten und aktiven Leserinnen und Lesern aufschlussreiche Einblicke in eine Bewegung, auf die sie möglicherweise einige Hoffnung im Kampf gegen die neoliberale Variante der Globalisierung setzen. Sie könnte auch zur Auseinandersetzung mit eigenen politischen Ansätzen und Weltbildern anregen. Die Fehlinterpretation von linker Globalisierungskritik, für die nach Meinung des Vf. „Geld zur zentralen Kategorie ihrer Kritik am neoliberalen System“ (211) geworden sein soll, sei angemerkt. Aber sie ist nicht bedeutsam für den Anspruch der Studie. Für die Organisationssoziologie dürfte sie einen originellen Beitrag liefern.

Fazit

Ein ordentlich ausgeführtes, methodologisch einwandfreies Meisterstück, das für Soziologen, Politikwissenschaftler, politische Aktivisten (und vielleicht auch für Geheimdienste) von Interesse sein könnte.

Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Es gibt 92 Rezensionen von Georg Auernheimer.

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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 03.06.2015 zu: Christian Schröder: Das Weltsozialforum. Eine Institution der Globalisierungskritik zwischen Organisation und Bewegung. transcript (Bielefeld) 2015. ISBN 978-3-8376-2967-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18815.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.


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