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Jörg M. Fegert, Mechthild Wolff (Hrsg.): Kompendium "Sexueller Missbrauch in Institutionen"

Rezensiert von Dr. Miriam Damrow, 02.02.2017

Cover Jörg M. Fegert, Mechthild Wolff (Hrsg.): Kompendium "Sexueller Missbrauch in Institutionen" ISBN 978-3-7799-3121-8

Jörg M. Fegert, Mechthild Wolff (Hrsg.): Kompendium "Sexueller Missbrauch in Institutionen". Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2015. 746 Seiten. ISBN 978-3-7799-3121-8. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 64,30 sFr.

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Thema

Der Sammelband, im folgenden Kompendium genannt, vereinigt in verschiedenen Kapiteln einen Überblick über heterogene Diskurse, Perspektiven und Einsichten.

Aufbau

Konzipiert als Kompendium, wird das Werk mit einem Vorwort eröffnet, das Entstehungshintergründe transparent macht. Das Vorwort, verfasst von den Herausgeber*innen, zeigt auf kurz gehaltenen 4 Seiten die thematisch wichtigsten Diskussionsbeiträge auf (S. 5-8).

In der Einleitung, verfasst von beiden Herausgebenden, wird kurz in die Thematik (und begründungszusammenhänge eingeführt (S. 15-34).

Das Buch ist inhaltlich in sieben Teile aufgezweigt.

    1. Missbrauch in Institutionen im fachpolitischen und öffentlichen Diskurs
  1. Ulrike Hoffmann: Sexueller Missbrauch in Institutionen – eine wissenssoziologische Diskursanalyse (S. 37-49).
  2. Miriam Rassenhofer, Nina Spröber, Jörg M. Fegert: Ergebnisse der Anlaufstelle der UBSKM in Begug auf Institutionen (S. 50- 58).
  3. Andreas Zimmer: Die Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexuellen Missbrauchs. Erfahrungen, Daten, Folgerungen (S. 59-70).
  4. Norbert Struck: Zum Verhältnis Runder Tisch Heimerziehung und Runder Tisch sexueller Kindesmissbrauch (S. 71-82).
  5. Manfred Kappeler: Betroffenenorganisationen und BetroffenenvertreterInnen im Spannungsfeld der Aushandlung an den Runden Tischen (S. 83-103).
  6. Holger Wendelin, Katharina Loebroks: Zur Debatte um Entschädigungszahlungen an Opfer (S. 104-121).
  7. Andrea Kliemann: Entwicklungsprozess juristischer Leitlinien am Runden Tisch (S. 122-131).
  8. Matthias Katsch: Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir keiner!? Die Rolle von Betroffenen bei der Aufdeckung sexueller Gewalt (S. 132-139).
  9. Dieter Grah: Engagement von Betroffenen und deren Organisationen (S. 140-147).
  10. Claudia Fischer: Draußen vor der Tür: Medienberichterstattung über sexualisierte Gewalt in Institutionen (s. 148-156).
  11. Christoph Röhl: Das Unfassbare fassbar machen – Ein Spielfilm zum Thema Kindesmissbrauch: geht das überhaupt? (S. 157-164).
  12. 2. Tatorte und Aspekte der Täter-Opfer-Institutionen-Dynamik
  13. Heinz Kindler, Jörg M. Fegert: Missbrauch in Institutionen. Empirische Befunde zur grundlegenden Orientierung (S. 167-185).
  14. Beate Steinbach: Prävention von sexueller Gewalt im Ehrenamtssektor (S. 186-196).
  15. Bettina Janssen: Sexueller Missbrauch – Reaktionen und Maßnahmen der katholischen Kirche (S. 197-207).
  16. Bettina Janssen: Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche – Tatorte und Aspekte der Täter-Opfer-Institutionen – Dynamik (S. 208-223).
  17. Alke Arns, Doris Beneke: Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie – Tatorte und Aspekte der Täter-Opfer-Institutionen-Dynamik – Prävention und Intervention (S. 224-232).
  18. Sabine Andresen: Sexueller Missbrauch in der Odenwaldschule und Folgen für die Reformpädagogik (S. 233-249).
  19. Adrian von Allmen: „Keine sexuellen Übergriffe im Sport“: Das Programm von Swiss Olympic (S. 250-257).
  20. Susanne Backes: Sexueller Missbrauch in Heimen (S. 258-273).
  21. Marc Allroggen, Thea Rauch, Jörg M. Fegert: Sexuelle Gewalt unter gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen (S. 274-281).
  22. 3. Genderperspektiven
  23. Barbara Kavemann: Frauen und Mädchen als Opfer und Täterinnen von sexuellem Missbrauch (S. 285-294).
  24. Peter Mosser: Jungen und Männer als Opfer und/oder Täter sexualisierter Gewalt. Literaturreview (S. 295-310).
  25. 4. rechtliche Rahmenbedingungen
  26. Reinhard Wiesner: Das Bundeskinderschutzgesetz (S. 313-326).
  27. Gudrun Doering-Striening: Notwendige Verbesserungen im Opferentschädigungsgesetz – ein Beispiel des sexuellen Missbrauchs (S. 327-340).
  28. Claudia Burgmüller: Strafrechtliche Aspekte im Fall von sexuellem Missbrauch in Institutionen (S. 341-360).
  29. Rudolf von Bracken: Ein besonderes Gewaltverhältnis: Vormünder und Beistände und ihre Rolle in Fällen sexuellen Missbrauchs in Institutionen – Nebenklagevertretung (S. 361-378).
  30. Friesa Fastie: Qualifizierte Prozessbegleitung von (verletzten) Zeuginnen und Zeugen im Strafverfahren (S. 379-388).
  31. Michael Grabow: Zivilrechtliche Aspekte im Fall von Missbrauch in Institutionen (S. 389-399).
  32. Julia Zinsmeister: Arbeitsrechtliche Instrumente der Prävention und Intervention (S. 400-421).
  33. 5. Intervention und Garantenpflichten
  34. Mechthild Wolff, Jörg M. Fegert, Wolfgang Schröer: Mindeststandards und Leitlinien der AG I des Runden Tisches (S. 425-435).
  35. Dirk Bange: Die Rolle der Aufsichtsbehörden (S. 436-446).
  36. Maria Kurz-Adam: Gestärkte Wahrnehmung: Zur Rolle und Aufgabe der Jugendämter zur Prävention und Intervention bei sexuellem Missbrauch in Institutionen (S. 447-454).
  37. Katharina Maucher: Leitungsverantwortung und Leitungsaufgabe in Institutionen (S. 455-472).
  38. Susanne Heymen: Sexuelle Gewalt in Institutionen. Leitlinienentwicklung (S. 473-485).
  39. Andrea Kliemann, Jörg M. Fegert: Leitlinie der AG II des Runden Tisches zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden (S. 486-500).
  40. Dagmar Freudenberg: Die Rolle der Strafverfolgungsbehörden – Aufgaben und Vorgehen (S. 501-508).
  41. Lutz Goldbeck, Annika Münzer: Trauma-Screening und rasche Vermittlung in Therapie (S. 509-519).
  42. Lutz Goldbeck, Jörg M. Fegert: Therapieangebote für Betroffene (S. 520-530).
  43. Marc Schmid, Jörg M. Fegert: Zur Rekonstruktion des „sicheren Ortes“. Zum traumapädagogischen Umgang mit Grenzverletzungen in (teil-)stationären Settings (S. 531-560).
  44. Katharina Seewald, Astrid Rossegger, Jerome Endrass: Risikoeinschätzung bei Sexualstraftätern im institutionellen Bereich (S. 561-573).
  45. Fritjof von Franqué, Daniel Turner, Peer Briken: Sexueller Kindesmissbrauch in Institutionen und therapeutische Ansätze (S. 574-584).
  46. 6. Präventive Konzepte und Schutzmaßnahmen
  47. Johannes-Wilhelm Rörig: Unterstützung, Bündnisse und Impulse zur Einführung von Schutzkonzepten in Institutionen in den Jahren 2012-2013 (S. 587-601).
  48. Hubert Liebhardt, Jörg M. Fegert: Webbasierte E-Learning-Technologien für Professionelle im Kinderschutz (S. 602-621).
  49. Bernd Eberhardt, Annegret Naasner, Matthias Nitsch: Bundesweite Fortbildungsoffensive von 2010-2014 zur Implementierung präventiver Kinderschutzkonzepte (S. 622-636).
  50. Claudia Obele: Maßnahmen der Prävention und Intervention bei massivem fehlverhalten und sexueller Übergriffe innerhalb einer Einrichtung (S. 637-648).
  51. Hubert Liebhardt: Beschwerde und Beschwerdeverfahren (S. 649-660).
  52. Ulrike Urban-Stahl: Beschwerdeverfahren und Ombudschaft in Einrichtungen der erzieherischen Hilfen (S. 661-672).
  53. Mechthild Wolff: Schutz und Sicherheit als Entwicklungsvoraussetzungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen (S. 673-682).
  54. Paul L. Plener, Jörg M. Fegert, Mechthild Wolff: Konsequenzen für die Ausbildung. Hochschulen als riskante Orte und als Orte der Prävention (S. 683-694).
  55. 7. Internationale Entwicklungen und Trends
  56. Ernst Berger: Gewalt in pädagogischen Institutionen in Österreich (S. 697-706).
  57. Werner Tschan: Übergriffe in Institutionen in der Schweiz (S. 707-719).
  58. P. Hans Zollner S.J., Katharina A. Fuchs: Prävention in der katholischen Kirche: Drei Beispiele aus der Praxis katholischer Institutionen (S. 720-738).

Ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (s. 739-740) und ein Stichwortverzeichnis beschließen das Kompendium.

Wie bei Sammelbänden üblich, wird eine zufällig vorgenommene Auswahl rezensiert (d.h. je ein Beitrag aus einem Teil).

Ausgewählte Inhalte

In der Einleitung wird zum einen ein kurzer historischer Abriss zur Geschichte der Thematisierung sexueller Gewalt an Kindern und ihrer medialen Aufarbeitung geliefert, zum anderen werden durch (auch internationale) Verweise mediale Skandalisierungen gerahmt und Kritik an (unzureichenden) rechtlichen Neuerungen geübt. In einem weiteren Abschnitt wird der Runde Tisch sexueller Kindesmissbrauch eingehender beleuchtet, dessen Institutionalisierung und die Etablierung der einzelnen Arbeitsgruppen vorgestellt. In einem Zwischenresümee wird festgehalten, dass die Einbeziehung sexueller Gewalt in der Familie ein Spezifikum in der deutschen Aufarbeitung darstellt. Offene Fragen fassen die HerausgeberInnen so zusammen: „Alles bleibt offen und den Institutionen überlassen“ (s. 28) und beschließen die Einleitung mit einem kritischen Blick auf die Entwicklung / Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes.

Manfred Kappeler diskutiert in seinem Beitrag „Betroffenenorganisationen und BetroffenenvertreterInnen im Spannungsfeld der Aushandlung an den Runden Tischen“. Er beginnt mit einem analytischen Blick auf die Entwicklung beider Runden Tische, skizziert knapp die Rolle der Medien im Aufdecken von Skandalen. Kappeler verweist zudem auf politische Motivationen / Motive in der Geschichte des Runden Tisches Heimerziehung (und der Verweigerung von Entschädigungszahlungen). Bezogen auf die Möglichkeiten der Einbeziehung von Betroffenen (OpfervertreterInnen) stellt er eine Asymmetrie der Macht (also ein Machtgefälle zuungunsten der von Gewalt Erfassten) fest. In weiteren Abschnitten werden die personelle Zusammensetzung des Runden Tisches Heimerziehung (RTH) dargestellt und kritisch hinterfragt, diskursiv auf Bedeutung von Hintergrundwissen, Kontexten und Lebenswelten für das kommunikative Handeln rekurriert und am Beispiel der Sprache im RTH eine Strategie des Machterhalts für Institutionen (und systematisch zur Abwertung der Betroffenen verwendet) aufgezeigt und unter Verweis auf Schruth als „Bewertungszensur“ klassifiziert. In weiteren Abschnitten werden zudem weitere Strategien systematischer Nichtanerkennung diskutiert, das Auseinanderbrechen der Solidarität (innerhalb der und zwischen diversen Betroffenengruppen), sodass Kappeler im Fazit festhält, dass durch fehlende organisierte und nachhaltige Unterstützung der Betroffenenvertreterinnen das „Scheitern“ immanent war.

Beate Steinbach erläutert Prävention sexueller Gewalt im Ehrenamtssektor. Nach einer kurzen Einführung definiert sie den Ehrenamtssektor und identifiziert Kinder und Jugendliche sowohl als Zielgruppe wie als Akteure im Ehrenamt. Sie skizziert knapp 6 spezifische Strukturmerkmale des Bereiches Ehrenamt, geht zudem auf die Besonderheiten der Jugendverbandsarbeit ein und stellt klar die Risikofaktoren heraus, welche ehrenamtliches Engagement begleiten. Am Beispiel der Jugendverbandsarbeit stellt sie Schutzmaßnahmen für ehrenamtliche Organisationen vor, die sie eher auf der prozessuralen Ebene verortet.

Peter Mosser liefert mit seinem Beitrag „Jungen und Männer als Opfer und/oder Täter sexualisierter Gewalt“ einen Literaturüberblick. Der Artikel beginnt mit einer Erläuterung, warum Jungen im institutionellen Kontext gefährdeter waren (möglicherweise noch sind, obwohl Verweise für gegenwärtige Gefährdungen fehlen), bezieht mehrere Erklärungsansätze ein und verweist zudem auf unterschiedliche Datenerhebungsverfahren. Damit wird auch auf geschlechtsabhängige Wahrnehmungsgewohnheiten rekurriert, die in und auf unterschiedlichen Problemebenen zusammenwirken (können). Nur kurz kritisiert Mosser die inadäquate Versorgungsstruktur für männliche Opfer. Jungen und Männer als Täter werden im nachfolgenden Abschnitt fokussiert: Neben einem kursorischen Überblick zu Tätertypen werden Befunde zitiert, die auf sexuell grenzverletzende männliche Kinder und Jugendliche verweisen: „Offensichtliche bieten Institutionen Gelegenheitsstrukturen, die es Minderjährigen ermöglichen, sexualisierte Gewalt gegen Jüngere oder Gleichaltrige auszuüben … Von autoritären, gewaltaffinen und einem traditionellen Männerbild verhafteten Institutionenmilieus scheinen in dieser Hinsicht gefährdende Einflüsse auszugehen …“ (S. 301). In weiteren Abschnitten wird zum einen der Frage nachgegangen, inwieweit sexuelle Viktimisierung im Kindesalter zu späterer Täterschaft führt (wobei dieser lineare, monokausale Begründungszusammenhang wenig bis keine Evidenz erfährt), zum anderen Geschlechterverhältnisse und Wahrnehmungen von Geschlechterrollen diskutiert.

Michael Grabow fokussiert in seinem Beitrag „Zivilrechtliche Aspekte im Fall von Missbrauch in Institutionen“. Nach einem einführenden Abschnitt zur Abgrenzung einer straf- von einer zivilrechtlichen Betrachtung werden materielle Aspekte in Kinderschutzverfahren dargestellt, die sich vorrangig auf das KiWoMaG beziehen sowie Erläuterungen zur Anwendung des § 1666 BGB geben. Verfahrensrechtliche Grundlagen des Kinderschutzes werden im nächsten Abschnitt erläutert (bspw. § 1666 BGB als auch §§ 24, 49, 155, 157 FamFG). Verfahrensbeistandschaft wird im darauffolgenden Abschnitt als zentrale Rolle charakterisiert.

Susanne Heynen thematisiert in ihrem gleichnamigen Beitrag sexuelle Gewalt in Institutionen und stellt die Leitlinienentwicklung in einem Jugendamt (genauer: in Karlsruhe) vor. Nach 2 einführenden Abschnitten wird die Arbeitsstruktur der Jugendhilfe in Karlsruhe charakterisiert und in einem kurzen Absatz die Historie des Kinderschutzkonzeptes der Stadtverwaltung dargestellt. In einem mehrstufigen Verfahren wird die Verfahrensweise der Stadt Karlsruhe insbesondere bei folgenden Punkten vorgestellt: Personalgewinnung, Kinder- und Jugendrechte, Vorgehen bei Verdacht. Die Umsetzung der Standards zur Prävention und Intervention umfasst insbesondere folgende Perspektiven: Selbstverpflichtung, Nähe und Distanz in der Pädagogik, Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit, unabhängige, fachlich qualifizierte Beratung, Austausch mit den freien Trägern der Jugendhilfe und Ausbildungsträgern, aber auch arbeitsrechtliche und strafrechtliche Konsequenzen. Dieser Prozess, so resümiert Heynen, kann indes nur gelingen, wenn er als fortlaufender Prozess aufgefasst, umgesetzt und implementiert wird.

Mechthild Wolff beginnt ihren Beitrag zu Schutz und Sicherheit als Entwicklungsvoraussetzungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen mit einer Einführung in rechtliche Grundlagen und sozialisatorische Bedingungen. Sie stellt Modernisierungsrisiken des Aufwachsens vor, zu denen sie unter anderem die (zunehmende) Institutionalisierung zählt, aber auch die abnehmende Sozialisationsfunktion der Herkunftsfamilie. Wolff zählt Gewalt und Abschied von Kindheit und Jugend als Moratorien ebenfalls dazu, bevor sie die Notwendigkeit eines entwicklungssensiblen Kinder – und Jugendschutzes entfaltet. Sie beschließt ihren Beitrag mit der Einschätzung von Schutz und Sicherheit als sozialpädagogische Bildungsaufträge.

Ernst Berger beschreibt in seinem Beitrag Gewalt in pädagogischen Institutionen in Österreich. Nach einer Einführung zu Wissen und öffentlicher Kenntnisnahme mit einem kurzen kursorischen Überblick zur Geschichte stehen kritische Betrachtungen zu quantitativen Studien (genauer: zur „… Relation zwischen subjektiver Erinnerung und historischen Tatsachen“). Stärker und intensiver wird die Situation in Wiener Heimen dargestellt, d.h. die Wiener Heimkinderstudie von 2013 in den Ergebnissen genauer beleuchtet. Die Klasnic-Kommission wird ebenfalls kurz vorgestellt, bevor der Abschnitt zur Prävention den Beitrag beschließt.

Diskussion

Kappeler verweist in seinem Beitrag „Betroffenenorganisationen und BetroffenenvertreterInnen im Spannungsfeld der Aushandlung an den Runden Tischen“ zwar auf beide Runde Tische (gemeint sind der Runde Tisch Heimerziehung und der Runde Tisch sexueller Kindesmissbrauch), bezieht sich in seinen Ausführungen unter Rekurs auf die Habermassche Theorie des kommunikativen Handelns vorrangig auf den Runden Tisch Heimerziehung und stellt das „Scheitern“ (bei ihm verstanden als das „nicht-Einbringen-Können und Nicht-Durchsetzen-Können“) der Opfervertretenden in den Mittelpunkt der Ausführungen. Er skizziert sehr knapp die unterschiedlichen (und auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten) Strategien des Machterhalts, wobei holzschnittartig eine Dyade zum Ausdruck kommt (Opfervertreter auf der einen Seite, Institutionenvertreter auf der anderen Seite), die zuungunsten der betroffenen ehemaligen Heimkinder ausgeübt werden. Er skizziert aber auch die „Diadochenkämpfe“ innerhalb des Sektors der Betroffenen. Unklar hingegen bleibt der Verweis auf den Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch, da im Beitrag dieser Runde Tisch eher verdeckt bleibt. Hier hätte ein genauerer Titel wesentlich zum Verständnis beigetragen. Der theoretische Bezugsrahmen ist eher einseitig gewählt und wird nicht (als Auswahl) begründet – und dies, wo sich mehrere (soziologische) Theorien angeboten hätten.

Beate Steinbach geht in ihrem Beitrag „Prävention sexueller Gewalt im Ehrenamtssektor“ sowohl auf spezifische Strukturmerkmale des ehrenamtlichen Arbeitsfeldes ein, wobei sie vorrangig typische Organisationsstrukturen und -merkmale fokussiert, diese aber eher auf der Ebene der Erwachsenen verortet. Kinder als Akteure ehrenamtlicher Arbeit werden zwar erwähnt, finden aber keine Berücksichtigung in den Strukturmerkmalen. Jugendliche (und insbesondere Jugendverbandsarbeit) hingegen werden mit ihren spezifischen Besonderheiten gewürdigt. Die darauffolgenden Ausführungen aber fallen zurück auf die Position der (passiven) schutzbedürftigen Kinder / Jugendliche. Ohne Zweifel obliegt die Verantwortung für den Schutz von Kindern den in diesem Bereich tätigen Erwachsenen, es bleibt aber zweifelhaft, nur den Erwachsenen ein Gefährdungspotential zu unterstellen.

Peter Mosser liefert einen literaturbasierten Überblick zu „Jungen und Männer als Opfer und/oder Täter sexualisierter Gewalt“, geht darin dezidiert auf spezifische Wahrnehmungsfallen ein, die insbesondere wirksam werden vor dem Hintergrund hegemonialer Geschlechterverhältnisse und (möglicherweise entsprechend gefärbten) Wahrnehmungen von Geschlechterrollen. Mosser kritisiert in seinem Beitrag mehrere Ebenen: die unzureichende Forschungs- bzw. Befundlage, die unzureichende Versorgungsstruktur, die unzureichende bzw. fehlende Adressierung (im Sinne von Bezugnahme und Berücksichtigung) geschlechtsspezifischer Schamkonfigurationen, aber auch die unzureichende Schutzstruktur von Institutionen. Ihm ist dieser Kritik voll zuzustimmen, wenngleich einige Ebenen dabei unerwähnt bleiben: zum einen wird die Geschlechtskategorie als strukturale Masterkategorie präsentiert, ohne auf interaktiv wirksame andere Zugehörigkeiten einzugehen (ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, Krankheit, Aussehen, um nur willkürlich einige zu nennen) – insgesamt ist also die Nichtberücksichtigung eines intersektionalen Ansatzes kritisch zu hinterfragen. Zudem wird auf eine einseitig konnotierte nämlich biologisch festgelegte) Zugehörigkeit verwiesen, ohne diesen Verweis explizit kenntlich zu machen. Unter den Opfern wie unter den Tätern können (und werden sich vermutlich) auch Angehörige der LGBTIQQ-Zugehörigkeiten befinden.

Susanne Heynen schildert in ihrem Beitrag die Leitlinienentwicklung zu Prävention und Intervention der Stadt (genauer: der Stadtverwaltung) Karlsruhe. Mehrere Ebene wie Strukturen innerhalb der Stadtverwaltung wurden dabei in Arbeitskreisen zusammengebracht, um Punkte der Personalgewinnung, der Beteiligung wie auch des Vorgehens bei Verdacht genauer zu fassen. Insbesondere positiv hervorzuheben ist die Erkenntnis, Kinderschutz als Prozess aufzufassen, der fortlaufend geschieht (und damit auch zu überwachen ist) und damit dem Bedürfnis nach Abgeschlossenheit (im Sinne des Vorweisens eines fertigen Ergebnisses) diametral widerspricht. Es ist anderen Städten / Stadtverwaltungen zu wünschen, ein ähnliches Modell zu erproben.

Mechthild Wolff beschreibt in ihrem Beitrag sowohl die veränderten und sich verändernden sozialisatorischen Bedingungsfaktoren, denen Kinder und Jugendliche heute ausgesetzt sind, als auch Begründungsvariablen, die entwicklungssensiblen Kinder-und Jugendschutz heute bedingen, hervorrufen und moderieren. Positiv hervorzuheben ist, dass in diesen Begründungszusammenhängen neben Selbstfürsorge, Selbstwirksamkeit etc. auch Faktoren angesprochen werden, die meist viel zu kurz kommen, verschwiegen oder ignoriert werden, so z. B. die (Entwicklung der) sexuellen Identität.

Ernst Berger gibt in seinem Beitrag einen Überblick zur Situation des Einsatzes von Gewalt in päd. Institutionen in Österreich, geht aber vorrangig auf die von ihm mit erstellte Studie zur Situation ehemaliger Heimkinder in Wien ein. Neben kritischen Anmerkungen zu bisherigen Ergebnissen (vor allem in Bezug auf die quantitative Repräsentativität) bleiben doch einige Aspekte unterbeleuchtet: der Abschnitt zur Prävention fällt unverdient kurz aus, Erwähnungen zur Intervention fehlen fast vollständig, Einschätzungen zur aktuellen Situation bzw. aktuelle Bezüge hätten den Beitrag wohlverdient abgerundet.

Fazit

Im Kompendium „Sexueller Missbrauch in Institutionen“ fokussiert ein großer Teil der Beiträge auf der Vergangenheit päd. Institutionen. Dem Werk hätte insgesamt eine kritische Auseinandersetzung zu heutigen Gelingensbedingungen sexueller Gewalt gut getan. Neben der kritischen (und sehr berechtigten) Aufarbeitung des strukturellen Versagens in der Vergangenheit ist auch sexuelle Gewalt in päd. Institutionen der Gegenwart (und möglicherweise insbesondere der Zukunft) bedeutsam – hier hätten z.B. Modellprojekte vorgestellt werden können. Trotz dieser Kritik ist das Buch informativ und wichtig.

Rezension von
Dr. Miriam Damrow
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Es gibt 48 Rezensionen von Miriam Damrow.

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ISSN 2190-9245