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Heike Kahlert, Christine Weinbach (Hrsg.): Zeitgenössische Gesellschafts­theorien und Genderforschung

Rezensiert von Prof. Dr. Christiane Burbach, 11.01.2016

Cover Heike Kahlert, Christine Weinbach (Hrsg.): Zeitgenössische Gesellschafts­theorien und Genderforschung ISBN 978-3-531-19936-8

Heike Kahlert, Christine Weinbach (Hrsg.): Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Einladung zum Dialog. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2014. 2. Auflage. 210 Seiten. ISBN 978-3-531-19936-8. D: 29,99 EUR, A: 30,83 EUR, CH: 37,50 sFr.

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Entstehungshintergrund und Thema

Nachdem bereits 2012 in der ersten Auflage der Diskurs zwischen Genderforschung und aktueller Gesellschaftstheorie von elf Theoretiker*innen ausgelotet wurde, erscheint jetzt 2015 die zweite und aktualisierte Auflage.

Die beiden Herausgeberinnen und ihre Arbeitsgruppe, die diesen Band publizierten, verfolgen das Interesse einer GeschlechterGesellschaftsTheorie (7). Leitend für ihre Untersuchungen waren für sie eine Reihe von Gesichtspunkten, zu denen u.a. der Macht- und Herrschaftsbegriff der jeweiligen Theorie, Formen der Ungleichheit, Konstrukte von Geschlechterverhältnissen und der Genderbegriff selbst gehören.

Aufbau

Die skizzierten Positionen werden unter drei Schwerpunkten dargestellt:

  1. Rekonstruktionen,
  2. Integrationen und
  3. Revisionen.

Zu 1. Rekonstruktionen

Die erste Rekonstruktion(von Ulle Jäger, Tomke König und Andrea Maihofer) gilt Pierre Bourdieu´s Werk von 2005: Die männliche Herrschaft. Geschlechterverhältnisse stellen einen zentralen Baustein der Gesellschaftstheorie dar, indem für Bourdieu feststeht, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung auf dem Konstrukt androzentrischer, patriarchal-hegemonialer Macht beruht. Einige dieser Konstruktionsmechanismen werden nachgezeichnet (16-28); jedoch bleiben auch Fragen offen, wie z.B. die, wie menschliche Gesellschaft ohne Geschlechterordnung gedacht werden kann (30), wie die Symbolordnung bei Individuen realisiert (30) und habitualisiert wird (31). Als nicht zutreffend erweist sich Bourdieu´s Vorstellung von der Permanenz des gesellschaftlichen Wandels im Hinblick auf die Geschlechterordnung. Die genauere Analyse zentraler gesellschaftlicher Bereiche zeigt eine Gleichzeitigkeit von Wandel und Persistenz (32).

Nina Degele zeichnet einige Facetten der Restrukturierung des Kapitalismus der sozialen Systeme im Zeichen des Informationalismus als neuer Form sozialtechnischer Ordnung, wie Manuel Castells sie beschrieben hat, nach. Der Kristallisationspunkt kapitalistischer Produktivität verlagert sich im Zeitalter des Informationalismus weg von Besitz und Herkunft auf informationelle, netzwerkorientierte Selbstprogrammierbarkeit. Diese ist nach Castells Einschätzung hochkompatibel mit Kompetenzen von Frauen. Der Rückgang patriarchaler Familienstrukturen in großen Teilen der Weltbevölkerung sowie die Hoffnung auf das Befreiungspotenzial der Frauenbewegungen weisen in die Richtung des Zusammenbruchs des patriarchalen Kapitalismus. (51) Vor dem Zusammenbruch jedoch der Familie scheint Castells Angst zu haben. Hier sieht die Autorin mit Bedauern eine „halbierte Heteronomiekritik“ (51ff), die sie durch andere Theoretiker wie z.B. Humberto Maturana und Gerda Verden-Zöller komplettieren möchte. Leider sind diese jedoch keine Gesellschaftstheoretiker.

Der Theorie der raum-zeitlichen Strukturierung dualer Strukturen bei Anthony Giddens und ihres Ertrages für das Genderthema ist die dritte Rekonstruktion gewidmet. Besonders im Zeitalter des gesellschaftlichen „unbegrenzten Raumes“ (72) mit den Möglichkeiten nahezu unbegrenzter globaler Kommunikationsmöglichkeiten schwindet der Einfluss der Tradition im Hinblick auf die bürgerliche Kleinfamilie, die Sexualität, die Geschlechtsidentität und das Geschlechterverhältnis. Heike Kahlert verweist darauf, dass Giddens bereits 1996 feststellte, dass auf diese Enttraditionalisierung, die z.B. mit der Destabilisierung der männlichen Macht (74) einhergeht, mit Diskurs, Trennung von einander, aber auch mit Zwang und Fundamentalismus reagiert wird. Giddens selbst sieht der Egalisierung des Geschlechterverhältnisses im Zeichen partnerschaftlichen Dialoges entgegen, geprägt von Gerechtigkeit und Flexibilität, jenseits von Heteronormativität. (75) Sein Ansatz von Stabilität und Wandel in Korrelation zu einer geschlechtskategorial informierten Gesellschaftstheorie sollte nach Kahlert im Hinblick auf die Analyse von klassenbezogener Ungleichheit (77) und Institutionenanalyse (78) weitergeführt werden.

Zu 2. Integrationen

Annette Treibel erinnert an Norbert Elias´ prozess- und figurationstheoretische Analysen der westlichen Gesellschaft. In dieses Konstrukt lässt sich die Genderfrage gut einzeichnen. Festzustellen ist ein Machtzuwachs auf der Seite der Frauen gegenüber vorangegangenen Generationen (88f). Zwar muss man feststellen, dass es auf Seiten der Männer auch Bremsmanöver im Veränderungsprozess gibt. Gerade aber graduelle Veränderungen und Pendelausschläge zwischen Egalisierung und Verhinderung sind für die Figurationssoziologie interessant. (97) In der Wahrnehmung gradueller Verschiebungen in der Balance der Macht zwischen den Geschlechtern liegt die Leistung der Figurationssoziologie. Starke Asymmetrien sind hingegen schwerlich konzeptualisierbar. (99) Eine GenderGesellschaftsTheorie in figurationssoziologischer Perspektive, speziell von Männern verfasst, erscheint Treibel als besonders interessant. Die Rezensentin hält sie für eher unwahrscheinlich.

Im Horizont des Foucaultschen Denksystems sucht Gabriele Michalitsch Dimensionen und Ebenen einer GenderGesellschaftsTheorie zu skizzieren. Entscheidend ist dabei das Foucaultsche Verständnis von Macht, Wahrheit, Regierung, Gouvernementalität und Herrschaft; diese sucht die Autorin in Richtung von Geschlechtermacht (112), „Geschlechterregierung“ (116), „Geschlechtergouvernementalität“ (119) und Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse zu erweitern und als Interpretamente zur Rekonstruktion der Geschlechter-Historie zu dechiffrieren. Interessant ist im Anschluss daran die Frage, ob im Zuge kritischer Analyse der Geschlechterverhältnisse die in abendländischer Tradition eingeschriebene Geschlechtermacht überwunden werden kann. (124)

Die Soziologie der Kosmopolitisierung im Gefolge von Ulrich Beck bietet in ihren Analysen der Relativierung der Normalitäten (132), der „Pluralisierung der Modernen“ (133), der „Vielheit ohne Einheit“ und besonders der Bedeutung der „Andersheit der Anderen“ (135) in der „modernisierten Moderne“ (131) die gesellschaftstheoretischen Gelenkstellen, um das Genderthema in die Gesellschaftstheorie zu integrieren, wie Angelika Poferl herausarbeitet. Von entscheidender Bedeutung für eine solche geschlechtersensible, kosmologische (147) Soziologie ist die Substitution der „Hermeneutik des Fremden“ durch eine „Hermeneutik der Gleichheit und der Differenz“, die Reifikation (144), Essenzialismus und Antiessenzialismus der Geschlechterverhältnisse gleichermaßen vermeidet (145). Kategoriale und methodische Experimentierfreude werden gefordert, wie auch die Berücksichtigung changierender Abhängigkeiten statt der Festschreibung von Einseitigkeit. (147f)

Hier stellt sich der Rezensentin die Frage, ob all diese Perspektiven mit ihren theoretischen und methodischen Implikationen nicht die Vorstellungskraft der Wissenschaftler, die eine solche Soziologie entwerfen sollen oder wollen, in zu hohem Maße strapazieren und evtl. die Darstellbarkeit verunmöglichen. Zumindest muss die Frage reflektiert werden, welche der als gesellschaftlich relevant erkannten Beobachtungen angesichts von so viel Multiperspektivität und Komplexität noch tendenziell generalisierbar sind. Interessant jedoch wäre der Versuch einer solchen Darstellung über der Reflexion auf der Metaebene hinaus.

Im Zuge der Kapitalismusanalyse und-kritik Luc Boltanskis und Ève Chiapellos sucht Günter Burkart nach Anhaltspunkten innerhalb dieses Ansatzes, die die Genderperspektive zu integrieren in der Lage sind, obwohl das französische Theoretikerpaar selbst sich kaum mit Fragen der Geschlechterverhältnisse beschäftigt. Vor allem findet Burkart dies im Rechtfertigungssystem des Kapitalismus sowie seiner Angewiesenheit auf Attraktivität und Akzeptanz in der Betrachtung der Betroffenen. (155f) Der Kapitalismus wird die feministische Kritik z.B. im Hinblick auf das Thema Arbeit adaptieren müssen. Hier sind einerseits Tendenzen erkennbar, die hegemoniale Männlichkeit überwinden und Frauen im Vorteil sehen im Kontext der eher projektbasierten Polis. (165) Allerdings zeigen sich auch neue Orientierungen an einer „transnational business masculinity“, die sich noch stärker von der Familie löst. (166) Die Flexibilisierung, die weite Bereiche des Arbeitslebens erfasst hat, bringt zwar eine neue Elite hervor, zu der erstmalig auch Frauen gehören. (172) Auf der anderen Seite schafft diese Tendenz bei den niedrigeren Bildungsschichten Prekarisierung. Burkart hält es für wahrscheinlich, dass der Diskurs über Geschlechtergerechtigkeit einen Platz im neuen Geist des Kapitalismus einnehmen wird. Dass Geschlecht eine zentrale Kategorie einer kapitalistischen Gesellschaftstheorie wird, ist mehr als unwahrscheinlich, weil dies nicht dem Mainstream kapitalistischer Interessen entspricht.

Zu 3. Revisionen

Gudrun-Axeli Knapp klopft die ältere Kritische Theorie besonders Theodor W. Adornos auf geschlechtersensible Reflexionspotenziale ab, die weitergeführt werden können. Zunächst jedoch ist anzumerken, dass Adorno selbst die Formulierung einer Theorie der Gesamtgesellschaft skeptisch gesehen hat. (194) Als problematisch wurden immer wieder u.a. die Äußerungen Horkheimers und auch Adornos betrachtet, die Weiblichkeit und Mütterlichkeit nahezu gleichsetzten, in der Erwerbstätigkeit der Frauen die Aushöhlung der Substanz der Familie begründet sehen (189) und Emanzipation der Frauen ohne Gesamtemanzipation kritisch betrachten. Dennoch findet Knapp gerade bei den Protagonisten der Kritischen Theorie die Erkenntnis, dass in der privaten Reproduktion der Ort gesellschaftlicher Grundkonflikte betrachtet werden kann. Genau dies wird in vielen anderen Gesellschaftstheorien ausgeblendet, bleibt unbeachtet und führt zu unreflektierten Zwängen. (193) Dem gegenüber erscheint die Re-Inspektion der europäischen Moderne als wichtige kritische Aufgabe. (194) Insbesondere lohnt es sich, gegenüber allen quantitativen Verschiebungen in den Geschlechterverhältnissen im Dienste größerer Partizipation die Hoffnung auf ein ganz anderes Konzept von Gesellschaft und Gender (189) immer wieder in Erinnerung zu rufen.

Einer weiteren Revision bedarf nach Christine Weinbachs Verständnis die gesellschaftliche Einordnung der Kategorie Gender im Horizont der Systemtheorie. Diese sieht die Autorin im Anschluss an Niklas Luhmann und besonders auch Michael Bommes im Gegensatz zu G.-A. Knapp, die sie auf der Makroebene verortet, auf der Mesoebene angesiedelt. Hatte der Kapitalismus der Industrialisierung im 19. Jahrhundert das (exklusiv bipolar-heterosexuell gedachte) Geschlechterverhältnis qua Ehe und Familie mit dem patriarchalen Familienoberhaupt (203f) asymmetrisch gestaltet, so ordnet der postmoderne Wohlfahrts- und Sozialstaat die Individuen temporär und funktional unterschiedlichen Rollenverpflichtungen zu. (214) Diese implizieren eine geldabhängige und nur temporäre gesellschaftliche Inklusion für alle Geschlechter. Die Folgen für die Ausgestaltung der Familienarbeit und die geschlechtliche Identität der Individuen betrachtet die Autorin als „dramatisch“ (216).

Diskussion und Fazit

Die Zusammenschau der unterschiedlichen Konstruktionsansätze im Hinblick auf die Genderdebatte lässt erkennen, dass Konzentration auf die in unterschiedlichen Graden wahrgenommene Pluralisierung und Differenzierung der Geschlechter und ihre gesellschaftliche Partizipation die Bedeutung des Themas der Familienarbeit unterschätzt und an den Rand der Wahrnehmung gedrängt hat. Hier liegen dann wohl doch noch Aufgaben, die dringend in Angriff genommen werden müssen, wenn das Thema Gesellschaftstheorie nicht obsolet werden soll. Dies ist ein interessantes Nebenprodukt dieser Mosaik-Sammlung.

In jedem Fall jedoch möchte die Rezensentin die Autorinnen und den Autor dieses Bandes ermutigen, Gesellschaftstheorien zu entwerfen, die die Genderperspektive integrieren. Das scheint der nächste wichtige Schritt zu sein.

Das Buch ist wichtig für alle, die Gesellschaftswissenschaften, Politik oder Genderstudies studieren. Es setzt erhebliches soziologisches Wissen voraus, um den einzelnen Ausführungen folgen zu können.

Rezension von
Prof. Dr. Christiane Burbach
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Es gibt 8 Rezensionen von Christiane Burbach.

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ISSN 2190-9245