Slavoj Žižek: Blasphemische Gedanken
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.04.2015

Slavoj Žižek: Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne. Ullstein Verlag (München) 2015. 63 Seiten. ISBN 978-3-550-08116-3. D: 4,99 EUR, A: 5,20 EUR, CH: 6,90 sFr.
„Schneide der Wahrheit“
Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek ist bekannt für seine Streitbarkeit und Kritik an den real existierenden, kapitalistischen und hegemonialen Zuständen in der Welt. Durch zahlreiche Auslandsaufenthalte und Gastprofessuren, u. a. an der Columbia University und in Princeton, hat er eine Aufmerksamkeit als Gesellschaftskritiker und Denker unserer Zeit erhalten. Seine „Streitschrift“, die er als englischsprachigen Titel „Islam and Modernity. Some Blasphemic Reflexions“ vorlegt, wird von Michael Adrian ins Deutsche übersetzt und vom Ullstein-Verlag mit dem Titel „Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne“ als Essay herausgebracht.
Entstehungshintergrund
Žižek nimmt die fundamentalistischen, islamistischen Terroranschläge auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ im Januar 2015 in Paris zum Anlass, „den Akt des Denkens mit der Hitze des Augenblicks in Einklang zu bringen“, und mit kritischem Blick das Attentat und die inszenierten Solidaritäts- und Beileidsbekundungen vor allem der Politiker aus vielen Teilen der Welt zu reflektieren.
Inhalte
Der Autor stößt ganz und gar nicht in das Horn derjenigen, die mit merkwürdigen und unglaubwürdigen Relativierungen die Täter des Terroranschlags zwar nicht in Schutz nehmen, aber immerhin vorgeben, ihre Motive verstehen zu wollen; auch nicht in das der „Aug´ um Auge, Zahn um Zahn-Kämpfer“, die allen Muslimen sogleich den Stempel von Menschenfeinden aufdrücken wollen. Er stellt vielmehr unzweideutig fest: „Natürlich sollten wir die Pariser Morde unmissverständlich als Angriff auf den Kern unserer Freiheiten verurteilen“. Er macht es sich aber eben nicht so leicht, die islamistischen Terroristen zu dämonisieren und damit gewissermaßen zur Tagesordnung überzugehen, sondern er macht sich daran, den dämonischen Mythos der Tat(en) zu entlarven. Dabei stellt er fest, dass der fundamentalistische islamische Terror nicht darin gründet, dass die Terroristen von ihrer eigenen Überlegenheit und Wahrheit überzeugt wären und deshalb so handelten; vielmehr würden sie angetrieben dadurch, dass sie sich selbst für unterlegen halten. Er zieht daraus den Schluss, „dass die Fundamentalisten bereits so sind wie wir“, was bedeutet, dass sie unsere lokal- und global-kapitalistischen und neoliberalen Standards insgeheim bereits verinnerlicht hätten und sich an ihnen mäßen. „Im Universalismus verhalten sich die Individuen zu sich selbst als ‚universell‘; sie haben direkt an der universellen Dimension teil, indem sie ihre eigene partikulare soziale Position übergehen“. Sein Blick in die Geschichte des Islams trifft dabei den Skandal der Erniedrigung der Frau. Mit der Frage „Warum ist dann die Frau im Islam eine so traumatische Präsenz, ein solcher ontologischer Skandal, dass er verschleiert werden muss?“, wagt er sich an eine Interpretation, die den Fundamentalisten ganz und gar nicht gefallen kann: „Was wäre, wenn der wahre Skandal, den dieser Schleier zu verbergen sucht, nicht der von ihm verborgene Körper ist, sondern die Nichtexistenz des Weiblichen?“.
Žižek schreibt nicht in erster Linie, um wohlfeile, im terroristischen Wirrwarr umsetzbare Widerstandsratschläge zu erteilen; vielmehr sind seine Analyse eher Fragen an uns selbst, die westlichen Denker vor allem, die im Spagat zwischen dem liberalen, anthropologischen Denken und Traditionen und dem systemkritischen, linksliberalen Positionen keine adäquate Antwort auf fundamentalistische Machtdemonstrationen haben. Es ist das Versagen des Westens, die grundlegenden Werte – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – zu leben, die die Erfolge des Fundamentalismus hervorrufen. Am Beispiel des IS zeigt er die Diskrepanz zwischen der westlichen Dominanz und der islamistischen Machtdemonstration und Skrupellosigkeit als Provokation auf.
Bezogen auf die Frage, wie eine „globale Ethik“ aussehen könnte, die einerseits liberal-säkulare (westliche) Werte berücksichtigt, gleichzeitig fundamentalistisches Gedankengut in die Schranken verweist, hat der Soziologe und Sozialphilosoph von der Berliner Humboldt-Universität, Hans Joas, die Frage formuliert: „Sind die Menschenrechte westlich?“ (www.socialnet.de/rezensionen/18796.php). Žižeks Suche nach einer Lösung ergibt sich durch Betrachtung der muslimischen, nahöstlichen, männlich dominierten Weltanschauung und der fernöstlichen, weiblichen Subjektivität; vielleicht als Mittelposition, die tragbar für eine globale Übereinstimmung sein könnte?
Fazit
Žižek rührt mit seinem Zwischenruf an Grundfesten von scheinbaren Wahrheiten, die festgemauert einen Dialog zwischen einem toleranten Liberalismus und einem religiösen Fundamentalismus unmöglich machen. Mit seiner Streitschrift bietet er allerdings auch keine Lösungsmöglichkeiten zu diesem Konflikt an. Mit seinen unkonventionellen Fragen und Fingerzeigen aber zeigt er auf, dass nicht der tolerante, aber kraftlose Liberalismus Antworten auf das Dilemma zu geben vermag, sondern die säkulare Linke Chancen für einen globalen Verständigungsprozess anbieten könnte. Unverzichtbar freilich ist, dass die humanen, universellen Werte der Menschheit und Menschlichkeit gewahrt werden!
Dafür gibt es nur den einen Weg der solidarischen, weltanschaulichen Auseinandersetzung „auf Augenhöhe“. Dazu aber ist historisches, kulturelles und ethnisches Wissen über das jeweilige gewachsenen wie konstruierte Gewordensein eines Volkes oder einer Volksgemeinschaft notwendig, und unverzichtbar das Bewusstsein und Einverständnis, was in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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