Klaus E. Grossmann, Karin Grossmann (Hrsg.): Bindung und menschliche Entwicklung
Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 05.06.2015

Klaus E. Grossmann, Karin Grossmann (Hrsg.): Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2015. 4. Auflage. 443 Seiten. ISBN 978-3-608-94936-0. D: 48,95 EUR, A: 50,40 EUR, CH: 65,90 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Die vielfältigen Arbeiten von Mary Ainsworth und John Bowlby für die Bindungsforschung sind im Original an vielen Stellen verstreut. Das hängt natürlich mit den publizistischen und wissenschaftlichen Entwicklungen zusammen, die sie im Laufe ihres Lebens machten, aber auch mit den unterschiedlichen Anforderungen: mal waren es Feldforschungen, dann waren es Buchbeträge und natürlich Zeitschriftenaufsätze und schließlich diverse Verträge vor unterschiedlichem (wissenschaftlichem) Publikum, in denen Erkenntnisse und Zusammenhänge dargestellt wurden. Insofern gibt es nicht ein Hauptwerk und spätere Ergänzungen und Erläuterungen. Hinzu kommt, dass auch wenn Mary Ainsworth und John Bowlby viel und eng zusammengearbeitet haben, hat jede(r) eigene Forschungen und Theorien entwickelt. Zugleich sind die psychologischen Arbeiten von Bowlby und Ainsworth verknüpft, so dass hier unterschiedlich akzentuierte aber ähnliche Erkenntnisse und Ergebnisse zusammenlaufen.
Im Zentrum des Buches stehen die (ausgewählten) Originalbeiträge von Mary Ainsworth und John Bowlby, die zum Teil bisher auch nicht auf Deutsch verfügbar waren. Es ist ein Anliegen der Herausgeber, die Texte möglichst dicht am Original zu übersetzen, um nicht zu interpretieren und vor allen Dingen die Zusammenhänge deutlich werden zu lassen.
Herausgeber und Herausgeberin
Klaus E. Grossmann war Professor am Institut für Psychologie der Universität Regensburg, Karin Grossmann war freiberuflich tätig, assoziiert am Institut für Psychologie der Universität Regensburg und Lehrbeauftragte der Universität Salzburg.
Aufbau und Inhalt
Das Buch beginnt mit einem Vorwort, was die Intention des Buches umreißt.
Im Teil 1 gibt es einen Überblick über das Buch und eine Begründung für die Auswahl der Texte. Gleichzeitig wird deutlich, wo sich Lebenswege kreuzten: die von Mary Ainsworth und John Bowlby, aber auch die von Klaus E. Grossmann mit Mary Ainsworth. Der Aufsatz „Bindung“ von John Bowlby von 1987 dient quasi als Einführung zum Thema. In den weiteren Teilen des Buches (insgesamt 6 Teile) werden dann ausgewählte Beiträge entsprechend dem Forschungsstand dargestellt.
Teil 2 ist überschrieben mit „Evolutionsbiologische Orientierung von Bindung“. Dahinter verbirgt sich der (alte) Disput zwischen der Psychoanalyse einer eher skalierbaren, empirischen Psychologie mit verschiedenen Variablen. Wichtig in der Rezeption ist die Unterscheidung zwischen Bindung als hypothetisches Konstrukt und Bindungsverhalten als Klasse von Variablen und bedingt austauschbaren Verhaltensweisen oder Signalen (vgl. S. 33). Die Reduktion auf Skalen verkennt den umfassenden Ansatz und die verschiedensten Bezüge, die für das Verständnis aber grundlegend sind.
Teil 3 widmet sich dem Thema der „sicheren und unsicheren Bindungsmuster“. Hier finden sich vier verschiedene Beiträge von Mary Ainsworth, die sie mit unterschiedlichen Kolleginnen verfasst hat, im Zeitraum von 1964 bis 1971.
Teil 4 hat die „Einflüsse der Mutter auf die Bindungsentwicklung“ zum Inhalt. Was heute weitgehend „Standardwissen“ ist, nämlich die Bedeutung der Interaktion von Säugling und Mutter, wird hier in ihren Grundlegungen dargestellt. In diesem Teil wird noch einmal ein Stück Wissenschaftsgeschichte besonders deutlich: der Paradigmenstreit zwischen neuer evolutionärer und lerntheoretischer Traditionen (vgl. S. 280).
In Teil 5 geht es um die Bindung über den Lebenslauf. Diese Beiträge erweitern die Perspektive über die Säuglingsphase deutlich hinaus und sind zugleich auch ein Teil Resümee über den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess. Es geht um Beiträge, die Mary Ainsworth mit 73 Jahren bzw. mit 78 Jahren verfasst hat und John Bowlby mit 83 Jahren.
Den letzten und 6. Teil bildet ein Anhang, wo es um die Skalen geht:
- Erfassung mütterlichen Verhaltens von Mary Ainsworth (Klaus E. Grossmann)
- Feinfülligkeit versus Unfeinfülligkeit (Mary Ainsworth)
- Zusammenspiel versus Beeinträchtigungen (Mary Ainsworth)
- Annahme versus Zurückweisung des Kindes (Mary Ainsworth)
Diskussion und Fazit
Dieses Buch erschien erstmalig 2003 und liegt nun (2015) in der 4. Auflage vor – ohne Frage ist das an sich ein Beleg für die gute Annahme des Buches. Es ist den Herausgebern zu danken für ihre Mühe bei der Zusammenstellung der Texte, für die zum Teil selbst besorgten Übersetzungen und für die gute Gliederung.
Allen Teilen des Buches stehen Einführungstexte der Herausgeber voran, die auf die damalige und heutige Bedeutung der Arbeiten hinweisen, teilweise deren Entstehung skizzieren und am Ende umfangreich auf weitere Literatur verweisen. Besonders in diesen Einführungstexten wird auch noch einmal deutlich, welchen Respekt und welche Verehrung die Herausgeber den beiden Wissenschaftlern entgegenbringen und wie sich die wissenschaftlichen Lebenswege gekreuzt haben. Es ist aber keine uneingeschränkte Huldigung, sondern eine Anthologie wissenschaftlichen Wirkens, die es in dieser Zusammenstellung von Bowlby und Ainsworth bisher nicht gab.
Zum Verständnis des Buches ist ein gewisses psychologisches Grundverständnis erforderlich. Dank der starken Orientierung an der Sprachlichkeit der Originaltexte sind diese aber gut nachvollziehbar; eine deutsche „Wissenschaftssprache“ wäre fehl am Platz. Für Studierende aller sozialwissenschaftlichen Richtung ist das Buch Pflicht in der Entdeckung der Originalbeiträge über so manche Rezeption und Zusammenfassung hinaus.
Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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