Marion Aicher-Jakob: Das Verhältnis von Kindergarten und Schule [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Anja Seifert, 20.07.2015
Marion Aicher-Jakob: Das Verhältnis von Kindergarten und Schule - ein chronischer Disput. Eine empirisch fundierte Studie zur Implementierung des Orientierungsplans in baden-württembergischen Kindertageseinrichtungen bei Jugendlichen. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2015. 303 Seiten. ISBN 978-3-7815-2029-5. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR, CH: 42,90 sFr.
Thema
Der Titel „Das Verhältnis von Kindergarten und Schule – ein chronischer Disput. Eine empirisch fundierte Studie zur Implementierung des Orientierungsplans in baden-württembergischen Kindertageseinrichtungen“ verweist mit der gewählten Formulierung des „chronischen Disputes“ bereits semantisch darauf, dass das Verhältnis zwischen Kindergarten und Grundschule von Anfang an von Kontroversen und Debatten geprägt war/ist und sich – wie eine chronische Krankheit – nach längeren Ruhephasen in spezifischen historischen Kontexten wieder neu konstituiert. In der historischen Rekonstruktion des Verhältnisses wird deutlich, dass sich dabei zentrale Diskurse wiederholen, beispielsweise die nach den spezifischen Zuständigkeitsbereichen von Kindergarten und Grundschule und die Forderung nach einem verpflichtenden Kindergartenbesuch als Vorstufe des Pflichtschulwesens, die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts aufgestellt wurde mit der Gründung der modernen Grundschule bzw. der Reichsschulkonferenz von 1920. Weitere „Weichenstellung(en) für das Verhältnis von Kindergarten und Schule“ (S. 10) fanden um 1970 im Zuge der Bildungsexpansion sowie Ende des 20. Jahrhunderts/Anfang des 21. Jahrhunderts statt, die zu erneuten „Verdichtungszonen“ des Disputes führten.
Im Zuge dieser dritten Reformphase wurden In den letzten Jahren in allen Bundesländern Bildungspläne für den frühkindlichen Bereich eingeführt, die der Orientierung der Pädagogen/innen beider Institutionen im Hinblick auf eine herzustellende Anschlussfähigkeit der Lern- und Bildungsprozesse der Kinder im Übergang dienen sollen.
Exemplarisch wird in der „empirisch fundierten Studie zur Implementierung des Orientierungsplans in baden-württembergischen Kindertageseinrichtungen“ dargestellt, welche Wirkungen Bildungspläne in ihrer Funktion als Steuerungsinstrumente in der Praxis haben können. Bezugnehmend auf den Ansatz der Schulkultur, wie ihn Werner Helsper vertritt, zeigt die Autorin an ausgewählten Beispielen auf, wie sich durch und in der Rezeption des baden-württembergischen Orientierungsplans unterschiedliche Kindergartenkulturen aufzeigen lassen.
Autorin
Dr. Marion Aicher-Jakob ist ausgebildete Lehrerin und Diplom-Pädagogin. Sie arbeitet derzeit als Akademische Rätin in der Abteilung Pädagogik und Didaktik des Elementar- und Primarbereichs an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und ist dort ebenfalls als stellvertretende Leiterin im Schulpraxisamt tätig.
Entstehungshintergrund
Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um eine qualitative Studie, die im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung zur Implementierung des Orientierungsplans in Baden-Württemberg entstanden ist und als Dissertation angenommen wurde.
Aufbau
Die Studie besteht aus einem theoretischen und einem empirischen Teil, der Analyse und Darstellung unterschiedlicher Rezeptionspraktiken und Rezeptionstypen. Die Autorin bezieht sich in ihrer eigenen qualitativ-angelegten Forschungsarbeit zudem auf die im Projekt Wibeor (Wissenschaftliche Begleitung Orientierungsplan) erhobenen quantitativen Daten als Bezugsreferenz und Verortung der eigenen Erhebung.
Inhalt
Das Verhältnis der beiden zentralen pädagogischen Institutionen der frühen und mittleren Kindheit, Kindergarten und Grundschule, lässt sich seit der Weimarer Republik als ein ambivalentes charakterisieren. Mit der Reichsschulkonferenz und dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz 1920 wird die moderne Grundschule begründet, in der alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft vier Jahre gemeinsam beschult werden sollen. Es handelte sich damals um einen Kompromiss, den sog. Weimarer Kompromiss, da progressive Vertreter bereits eine längere gemeinsame Schulzeit (als nur eine vierjährige) forderten. Ebenfalls wurde schon damals gefordert, den Kindergarten als Pflichtkindergarten einzuführen (vgl. S. 25ff.).
Relevante Aspekte, die bereits in dieser ersten Reformwelle zum Übergang vom Elementar- zum Primarbereich Anfang des 20. Jahrhunderts thematisiert werden, tauchen in der Bildungsreform Ende der 1960er erneut auf. Der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Bildungserfolg und damit einhergehende Forderungen einer kompensatorischen Erziehung bestimmten die bildungspolitische Argumentation, im Zuge derer auch die Bedeutung der Elementarerziehung erneut thematisiert wurde. In der Folge wurden curriculare Ansätze als Reformstrategie initiiert wie der funktionstheoretische Ansatz, der wissenschaftstheoretische Ansatz sowie der situationsorientierte Ansatz und die frühe institutionelle Förderung der Kinder wurde als relevant erachtet, allerdings ohne den Kindergarten in das formale Bildungswesen einzugliedern (vgl. Kapitel 3).
Ende des 20. Jahrhunderts beginnt die dritte Verdichtungszone des Verhältnisses zwischen Kindergarten und Grundschule, deutlich sichtbar in den Bestrebungen, den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule neu zu gestalten, eine Anschlussfähigkeit herzustellen und den Kindergarten als Bildungsort aufzuwerten. In allen Bundesländern wurden mit Beginn des 21. Jahrhunderts Bildungspläne für den Elementarbereich eingeführt, was ein Novum darstellte. Baden-Württemberg folgte als eines der letzten Bundesländer dieser Entwicklung. „Während die Implementierung der Bildungspläne in Schulen 2004 keine wissenschaftliche Begleitung vorsah, wurde im Elementarbereich von Anfang an eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation zur Implementierung des Orientierungsplan von den Pädagogischen Hochschulen Ludwigsburg und Freiburg unter der Gesamtleitung von Prof. Dr. Edeltraud Röbe durchgeführt.“ (S.115)
Ausgewählt wurden unter den 30 Piloteinrichtungen drei Einrichtungen, die exemplarisch als Fälle für drei unterschiedliche Rezeptionstypen stehen können:
- Typ A bezeichnet den reformresistenten Kindergarten, der sich durch Ratlosigkeit und fehlende Transformationsprozesse auszeichnet.
- Typ B steht für die Rezeption des Orientierungsplans mit dem Fokus der „Schuldienlichkeit“ der Kindergartenbildung steht. Hier erfolgt laut Aicher-Jakob die Rezeption primär „unter dem Filter der Schulvorbereitung. Die Einrichtung blickt so gesehen nicht nur einseitig auf Bildung, sie blickt auch einseitig auf Bildung“ (S.220), die sich an einem vermeintlichen Idealbild der schulischen Bildung orientiert und dem Kindergarten eine „Zubringerfunktion“ für die Schule zuschreibt.
- Typ C steht für den „selbstbewussten Kindergarten“, der den Orientierungsplan „als Katalysator für einrichtungsrelevante Entwicklungen bewertet, in ihm wird die Chance gesehen, die Einrichtung im Reformprozess voranzubringen.“ (S.223) Typ C intendiert ein ausgeglichenes Verhältnis von Freispiel und didaktischen Angeboten und bezieht sich auf ein spezifisch stufendidaktisches Selbstverständnis. Zu den elementardidaktischen Grundformen gehören hierbei zentral das Spiel als Bildungsmedium sowie Kreisgespräche und gezielte didaktische Angebote. Die reflexiven Fragen des Bildungsplans, die einzelnen Bildungs- und Entwicklungsfeldern (Denken, Sinn/Werte/Religion, Körper, Sinne, Sprache, Gefühl und Mitgefühl) zugeordnet sind, werden hierbei als Bereicherung für den Prozess der konzeptionellen Weiterentwicklung der eigenen Einrichtung bzw. der eigenen pädagogischen Handlungspraxis erachtet.
Diskussion
Die historische Linie zeigt, dass es im 20. Jahrhundert immer wieder Phasen der Annäherung und des Versuchs einer Neustrukturierung der Institutionen Kindergarten und Schule gab. „Gängige Erklärungsansätze, die den Kindergarten lediglich in seiner Entwicklung von der Betreuungsanstalt zur Bildungsinstitution fokussieren, werden der historischen Dynamik nicht gerecht. Die Beziehung von Kindergarten und Schule beschreibt eben kein statisches Verhältnis.“ (S. 264) Vielmehr ergibt sich aus jeder Verdichtungszone (1920, 1970 und Ende 1990er) eine modifizierte Konstitution des Verhältnisses von Kindergarten und Schule, geprägt und sichtbar durch die jeweiligen bildungspolitischen und pädagogischen Diskurse. In der letzten, der aktuellen Phase der Verdichtung wird die Forderung einer Anschlussfähigkeit der Institution durch Curricula zentral in den Mittelpunkt gerückt. „Das Bemühen der Institutionen um Anschlussfähigkeit erinnert hierbei an den pädagogischen Disput über Schulreife und Schulfähigkeit, der letztendlich einen Paradigmenwechsel nach sich zog, bei welchem die Institution Schule nicht länger von der „Schulfähigkeit der Kinder“ ausging, sondern die eigene „Kindfähigkeit“ in Frage stellte.“ (S.267)
Die Autorin zeigt durch Rekonstruktionen auf, dass es unterschiedliche Rezeptionstypen gibt bzw. der Orientierungsplan zu unterschiedlichen Interpretationen und Handlungspraktiken führt und damit der Ansatz einer Steuerung über Curricula kritisch hinterfragt werden muss. Marion Aicher-Jakob spricht hier vom „Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben!“ (S. 282), da diejenigen Einrichtungen, die sich auch bereits zuvor intensiv mit konzeptioneller Arbeit beschäftigt hatten und über gute Kommunikationsstrukturen verfügten, die Anregungen des Orientierungsplans konstruktiv in ihre Arbeit integrierten. Die Studie bezieht sich auf den theoretischen Rahmen der Systemtheorie, mithilfe derer es deutlich wird, dass die Idee der Steuerung sozialer Systeme wie hier der pädagogischer Einrichtungen über Steuerungsinstrumente wie Bildungspläne, systemimmanente Probleme mit sich bringt, da es sich um unterschiedliche Systeme, Akteure und Eigenlogiken bzw. Dynamiken handelt. „Das System erarbeitet sich sein Verstehen in systemeigener Logik. Die Selektion von Informationen und die Selektionen im Verstehensprozess begünstigen die Bildung unterschiedlicher Rezeptionstypen in der Aufnahme des Orientierungsplans.“ (S.269)
Fazit
Der Ertrag der vorliegenden Studie liegt darin, dass es der Autorin gelingt, sich aus einer historisch-systematischen Perspektive der aktuellen Thematik der Reform des Übergangs vom Elementar- zum Primarbereich kritisch anzunähern, bei der anschlussfähige Lern- und Bildungsprozesse der Kinder auf der Grundlage anschlussfähiger Bildungspläne der beteiligten Institutionen Kindergarten und Grundschule eine zentrale Diskurslinie darstellen. In der Analyse bzw. Rekonstruktion unterschiedlicher Rezeptionstypen des Orientierungsplans in Baden-Württemberg anhand ausgewählter Beispiele wird deutlich, dass sich Steuerungsinstrumente wie Bildungspläne nur sehr bedingt dazu eignen, das pädagogische Handeln der Akteure und Akteurinnen in pädagogischen Institutionen direkt zu beeinflussen bzw. zu verändern. Vielmehr stellen Bildungspläne für den Elementarbereich wie der Orientierungsplan in Baden-Württemberg (lediglich) eine Bezugsfolie dar, die durch die jeweilige Übersetzung, den jeweiligen Transfer zu unterschiedlichen Ausgestaltungen in der Handlungspraxis und zu unterschiedlichen pädagogischen Praktiken führen. Bildungspläne können damit nicht mehr als ein Verständigungsinstrument sein, um sich in reflexiver Weise mit dem eigenen Handeln und Handlungsfeld zu beschäftigen, als Steuerungsinstrument zur Qualitätsentwicklung/verbesserung zeigen sie jedoch eine „diffuse Wirkung“.
Das vorliegende Buch ist empfehlenswert für Bildungspolitiker/innen sowie Lehrende und Studierende an Fachschulen, Pädagogischen Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten, die sich mit dem Thema des Übergangs bzw. der Übergangsgestaltung vom Elementar- zum Primarbereich beschäftigen. Anlage und Gestaltung des Buches eignen sich zudem in besonderer Weise für den Fortbildungsbereich von Erzieher/innen und Grundschullehrer/innen, da das Buch, neben theoretischen und historischen Bezügen im ersten Teil, im zweiten Teil Beispiele aufbereitet, die insbesondere für Praktiker/innen interessant sein könnten.
Rezension von
Prof. Dr. Anja Seifert
Professorin für Grundschulpädagogik an der JLU Gießen
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Zitiervorschlag
Anja Seifert. Rezension vom 20.07.2015 zu:
Marion Aicher-Jakob: Das Verhältnis von Kindergarten und Schule - ein chronischer Disput. Eine empirisch fundierte Studie zur Implementierung des Orientierungsplans in baden-württembergischen Kindertageseinrichtungen bei Jugendlichen. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2015.
ISBN 978-3-7815-2029-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18857.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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