Marc Wittmann: Wenn die Zeit stehen bleibt
Rezensiert von Prof. Dr. René Gründer, 10.07.2015

Marc Wittmann: Wenn die Zeit stehen bleibt. Kleine Psychologie der Grenzerfahrungen. Verlag C.H. Beck (München) 2015. 172 Seiten. ISBN 978-3-406-67455-6. D: 12,95 EUR, A: 13,40 EUR, CH: 20,50 sFr.
Thema: Selbsterfahrung und Zeitlichkeit in den Neurowissenschaften
Im Zentrum dieser Einführung in den aktuellen Erkenntnisstand der Neuropsychologie zur Konstitution von Selbstbewusstsein, Biografie und Personalität steht die Frage nach dem Verhältnis der vorgenannten Konzepte zur Zeitlichkeit von Subjekterfahrung bzw. deren neuronaler Korrelate. Im Kern werden damit zugleich zentrale anthropologische und philosophische Fragen nach dem Wesen des Menschen verhandelt.
Autor
Dr. Marc Wittmann ist Psychologe und Humanbiologe und arbeitet am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg i. Breisgau.
Aufbau
Der mit 173 Seiten recht handliche Text gliedert sich in drei Kapitel, in denen die Phänomene des Zeitbewusstseins, des Augenblicks und des Verlustes von Zeit und ich aus neuropsychologischer Perspektive diskutiert werden. Gerahmt wird die Darstellung durch einen Prolog („Ein Ich erwacht“) und den Epilog zum „wissenschaftlichen Erwachen“, der als Ausblick auf weiterführende Forschungsarbeit fungiert.
Inhalt
Wittmann führt in sein Thema über die Darstellung einer vielen Menschen vertrauten, und gleichwohl beunruhigenden Erfahrung ein: Dem kurzzeitigen Orientierungsverlust über die eigene Person, der bisweilen kurz nach dem Erwachen aus dem Nachtschlaf im Kontext von Reisen oder Umzügen aufzutreten pflegt. Im Abgleich eigener Erfahrungen mit literarischen Darstellungen ähnlicher kurzzeitiger Persönlichkeitsverluste (Proust) entwickelt der Autor das Selbstkonzept als Ergebnis einer Selbstbeobachtung, deren Beobachtungsposition ihrerseits wiederum nicht beobachtet werden kann.
Bereits zum Beginn des ersten Kapitels führt Wittmann in seinen zentralen Forschungsbereich ein: Die subjektive Zeiterfahrung in Abhängigkeit von bestimmten neurologisch dokumentierten Hirnzuständen. Dabei kommen die titelgebenden „Grenzerfahrungen“ von Traum, Drogenrausch, Nahtodeserfahrung, Meditation und ‚Flow-Erlebnisse‘ ins Spiel: In allen diesen Fällen weicht die subjektive Zeitempfindung zum Teil signifikant von der objektiv messbaren ‚Realzeit‘ ab. Die subjektive Zeitempfindung wird dabei u.a. als abhängig vom ‚Arbeitsaufkommen‘ des Gehirns verstanden: Ereignisarme Situationen führen zu einer Ausdehnung der Zeitwahrnehmung, ereignis- und damit informationsreiche Settings beschleunigen die Zeiterfahrung. Im Nahtodes- oder Meditationskontext kann es hingegen zur subjektiven Entschleunigung bis hin zum Stillstand jeder Zeiterfahrung kommen. Weiterhin existieren empirische Belege für subjektives Erleben ohne nachweisbare Hirnaktivität im Kontext so genannter Nahtod-Erfahrungen (S.46), bei denen unklar ist, zu welchem (objektiven) Zeitpunkt sie eigentlich generiert wurden.
Ein weiteres Phänomen subjektiver Zeitlosigkeit thematisiert der Autor im Kapitel zum ‚Augenblick‘. In Anknüpfung an die Philosophien Ludwig Wittgensteins und Karl Jaspers´ wird hier die Frage nach den Möglichkeiten einer Aufhebung von Zeiterfahrung in der Ich-Auflösung meditativer Zustände gestellt. Dazu werden zunächst Forschungsarbeiten vorgestellt, in denen es um die Bestimmung subjektiver Augenblickserfahrungen – gewissermaßen um eine ‚Psychometrie subjektiver Gegenwart‘- in unterschiedlichen Subjektkonstellationen geht. Die Dauer dieses „erlebten Moments“ (S.58 f.) wird dabei mit ca. drei Sekunden bestimmt, die wiederum auch als anthropologische Konstante für ‚Augenblickshandlungen‘ wie etwa Begrüßungsrituale erkannt wird. Befunde zur Veränderung der Augenblickserfahrung durch Achtsamkeitsmeditation zeigen, dass hierdurch eine deutliche Verlängerung der Gegenwartserfahrung stattfinden kann: Fokussierung auf den Augenblick führt zu subjektiver Zeitdehnung (S.67). Schließlich ist es ebenso möglich – etwa durch langjährige Meditationspraxis oder psychoaktive Substanzen wie LSD – die Augenblickserfahrung bis hin zum mystischen Erleben von Zeitlosigkeit auszudehnen in einer (akategorialen) Erfahrung reiner Präsenz. Durch solche – in Erfahrungsberichten dokumentierten – Ereignisse wird zugleich das klassische Konzept eines ‚Ich -Zentrums‘ nachhaltig in Frage gestellt: „Die Hirnforschung zeigt, dass es neben einer sequentiellen Verarbeitung von Körper- und Umweltreizen viele parallele Verarbeitungsstränge gibt, ohne dass irgendwo ein lokalisierbares Integrationszentrum auftaucht. Vielmehr werden die parallelen, räumlich verteilten neuronalen Verarbeitungsmodule zu einem Ganzen zusammengebunden, in dem sie als ‚gleichzeitig‘ ablaufend kodiert werden. Diese Jetzt-Bindung der Prozesse könnte der Mechanismus sein, der die bewusste Erfahrung eines Selbst im gegenwärtigen Moment gewährleistet. Wir haben demnach eine Vorstellung von einem Ich, ein Selbstmodell des Ich.“ (S.78). Studien zur Wirkung psychoaktiver Substanzen wie LSD und die mit deren Konsum verbunden mystischen „Selbstauflösungserfahrungen“ (S.118) werden als mentale Repräsentationen einer Einschränkung dieser Koordinationsleistungen von Umweltreizen im Sinne des ‚Ich-Effektes‘ interpretiert.
Im Epilog weist Wittmann darauf hin, dass die Forschung zu den neuronalen Grundlagen von Ich-Bewusstsein und Zeiterfahrung am Gegenstandsbereich psychischer Grenzsituationen (Rausch, Meditation usw.) erste seit kurzem in den ‚Mainstream‘ gesellschaftlich (und somit wissenschaftlich) akzeptabler Forschungsfelder aufgenommen wurde. Der sich hierin ausdrückende Paradigmenmandel hin zur Erkundung der neuropsychologischen Zusammenhänge von Zeiterleben und Ich-Bewusstseinserfahrung dürfte auf längere Sicht zu einer nachhaltig veränderten Selbstdeutung des Menschen beitragen.
Diskussion
Besonders interessant zur weiteren Diskussion erscheinen mir drei Aspekte des im Buch Dargestellten:
- Die (mögliche) kulturelle bzw. ethische Relevanz eines ‚Ich-Verlustes‘ für das Selbstbildes des Menschen: Wie verändert sich etwa unser Personen-Konzept, wenn das ‚Ich‘ als essentielles Erlebenszentrum (mit Biografie und individuellen Perspektiven) neurophysiologisch weiter marginalisiert wird?
- Die Frage nach dem Subjekt von (a-kategorialen) Ganzheitlichkeitserfahrungen: Wer oder was erlebt hier eigentlich, wenn ein ‚ich‘ im Prozess der ‚Selbstauflösung‘ doch nicht mehr vorhanden sei?
- Die (Un-)Möglichkeiten subjektiven Erlebens bei fehlender neuronaler Aktivität: Anders als für die Selbstauflösungserfahrungen unter psychoaktiven Stoffen oder Mediation Hierfür fehlen hierfür (nicht nur aus Forschungsethischen Gründen) empirische Designs, die in der Lage wären, Zeitpunkt und ‚Ort‘ dieser Grenzerfahrungen hinreichend zu objektivieren.
Es dürfte in jedem Falle deutlich geworden sein, dass durch naturwissenschaftliche Methoden der Neuroforschung die ‚große‘ Frage nach der Transzendenzmöglichkeit menschlichen Seins keineswegs eliminiert wurde oder in ihrem Gegenstand obsolet geworden ist, sie ist vielmehr neu bzw. anders als bislang zu stellen.
Fazit
Marc Wittmann hat mit seinem gut lesbaren Buch „Wenn die Zeit stehen bleibt“ eine unterhaltsame Einführung zu Fragenstellungen und aktuellen Befunden der neuropsychologischen Erkundung von Zeit- und Selbsterfahrung von Menschen vorgelegt. Deutlich wird darin, dass bislang in der Forschung randständige Felder, wie etwa Nahtodeserfahrungen, Meditationserlebnisse und mystische Entgrenzungserlebnisse unter Rauschmitteleinfluss bedeutsame Erkenntnisse für die Selbstdeutung des Menschen im ‚Neuro-Zeitalter‘ liefern können.
Rezension von
Prof. Dr. René Gründer
Duale Hochschule Baden-Württemberg Heidenheim, Fachbereich Sozialwesen. Homepage: https://www.heidenheim.dhbw.de/dhbw-heidenheim/ansprechpersonen/prof-dr-rene-gruender
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